Liebesbriefe

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Marleen Lamont
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Liebesbriefe

Beitrag von Marleen Lamont »

Das saß sie nun. Der Nagel ihres deformierten Zeigefingers kratzte über die feinen Linien des Schriftbildes. Das Pergament hielt sie bedächtig in der linken Hand. Sicher hatte sie es schon ein Dutzend mal gelesen. Sie selbst rührte sich kaum, doch die Kerzenflamme neben ihr brachte ihr linkes Auge zum Leuchten und ließ Schatten über ihre rechte Gesichtshälfte tanzen.

Die Lobeshymne begann schon mit den ersten Worten. Wie im Affekt hatte sie darauf beim ersten Lesen mit Ablehnung reagiert – wusste sie doch, aus wessen Feder der Brief stammte. Doch die Worte verrieten viel über den Schreiber. Er wusste, wie man mit Menschen kommunizierte und worauf jene ansprachen. Die Worte waren fehlerlos auf dem Pergament gelandet, ganz so, als hätte ein Gelehrter sie niedergeschrieben. Überhaupt war der Ausdruck, waren die Worte behutsam gewählt wie achtsame, strategische Züge in einem sorgsam gewobenen Ränkespiel. Ohja, sie hatten ihren Gegenüber exakt so eingeschätzt. Und deshalb hatte sie diese Person auch ausgewählt, selbst wenn andere Akteure an jenem Abend das Wort häufiger und lauter erhoben hatten.

Interessant war die Detailgetreue, mit der der Glaube der Wächter beschrieben wurde. Da schien sich jemand doch ein wenig mit seiner Zielperson befasst zu haben… Und gewiss war auch dies nur Lobhudelei. Der Verfasser des Briefes wurde ihr sympathischer. Sie selbst würde auch solche schmeichelnden Worte finden, wenn sie bei dem Adressaten etwas erreichen – gar erweichen – wollte. 
Und mit einem scheinbaren Anliegen wurde im weiteren Schriftverlauf auch herausgerückt. Interesse an ihrer Person… ein vorgeschobener Grund, eine weitere Schmeichelei. Vielleicht auch ein Körnchen Wahrheit – schließlich könnte dabei vielleicht ein Vorteil für den Verfasser entstehen, eh?

Die rote Priesterin war zufrieden. Genau das hatte sie sich gewünscht.

Sie legte das Pergament zur Seite und strich es auf der Tischplatte glatt. Ein Lächeln umspielte die schmalen Lippen. Es war an ihr, den nächsten Zug zu machen. Sie griff sich ein feines Briefpapier und setzte sich daran, ein Antwortschreiben zu verfassen.
 
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