Natürlich rüttelte der Bote die ganze Familie Vildaban wach. Das Läuten der Türglocke ließ gerade bei Mirja auch stets immer eine Alarmglocke im Inneren schrillen. Ein Überbleibsel aus der Zeit als Soldatin und Führungsperson. Auch Pan wurde wach, vermutlich aus ähnlichen Gründen. Und tja... die Kinder wurden wach... weil Kinder nunmal immer dann wach wurden, wenn man es gerade so gar nicht brauchte. Zum Beispiel, wenn die Mutter kurz davor war dem unglückseligen Boten mit bloßer Hand den Kopf abzureissen.
Gemäß Protokoll...
Diesem Chronisten würde Mirja auch noch den Hals umdrehen, wenn sie ihn in die Finger bekam!
Mirja überließ Pan, dem armen Tropf, die Kinder wieder zurück ins Bett zu verfrachten. Sicher, war der Veteran genauso um das Schicksal seiner Schwiegermutter besorgt und würde mit Mirja an deren Seite eilen, aber falls er Protest anmeldete, so war Mirja im Augenblick dafür nicht empfänglich. Lediglich einen Mantel und ihren Waffengurt schnappte die Rothaarige sich und stapfte - ansonsten nur im langen Nachthemd bekleidet - zur Tür hinaus und ließ sogar den armen Boten einfach stehen, indem sie eine ihrer Reiserunen aus dem Köcher fischte und zu Boden warf.
Kurz darauf stand sie in der Burg. Natürlich ließen die Wachen sie nicht durch. Seit wann hörten sie auf einen verdammten Chronisten?
Sie riss sich zusammen. So schwer es ihr fiel, denn die Wölfin in ihr würde die beiden altgedienten Wachen gerade am liebsten... Schon gut, ganz ruhig. Sie taten nur ihren Dienst und so aschfahl wie die Gesichter der beiden waren, waren sie ebenfalls krank vor Sorge um die Truchsess, harrten jedoch dennoch tapfer und stoisch aus. So wie sie es durch jahrelangen Drill ebenjener alten Vettel gelernt hatten. Und es würde Fenria gewiss nicht helfen, wenn Mirja hier nun einen Aufstand probte. Und das letzte was sie nun brauchte, war eine tollwütige Wölfin in der Burg...
Man würde also vermutlich die Rothaarige bebend vor Zorn und Sorge einen Stockwerk tiefer in der Übungshalle finden. Inzwischen hatte sie sich eine Rekrutenuniform aus der Waffenkammer geborgt und versuchte ihre Unruhe an den Übungsgeräten und bei Laufeinheiten abzuarbeiten. Es dauerte eine Weile, doch dann würde sie sich Pergament und Federkiel besorgen und einen Brief an diesen unsäglichen Chronisten aufsetzen. Inzwischen hatte sie zumindest herausgefunden, dass es wohl bei einer Schlacht um oder bei Ansilon passierte. Diese verdammte Stadt...
Gemäß Protokoll... sie würde Noa sein Protokoll noch in den Rachen stopfen.
Chronist Feldspan,
mögen Euch die Engel Euer Protokoll um die Ohren schlagen!
Was glaubt Ihr, wer Ihr seid, dass Ihr die Heilerstube verschließt? Ein derartiges Protokoll gibt es nicht. Die Heilerstube ist für alle Soldaten des Ordens da! Was, wenn nun andere Soldaten im Kampf verletzt wurden? Wollt ihr ihnen auch die Behandlung verweigern? Das würde die Truchsess niemals tolerieren! Sie ist eine Soldatin, wie alle anderen im Orden auch!
Was gibt Euch außerdem das Recht, sie von ihrer Familie abzuschneiden? Nicht nur von den Mitgliedern der Vildaban-Familie, sondern von allen Mitgliedern des Ordens?
Leutersberg ist erfahren genug um mögliche Besucher abzuwehren, wenn es ihrer Gesundheit entgegen steht.
Die Entscheidung der Truchsess keinerlei Medikamente zu erhalten mag töricht sein, jedoch müssen wir sie akzeptieren. Sollte sie jedoch sterben, ohne dass ihre Familie bei ihr sein konnte, werde ich Euch persönlich dafür zur Verantwortung ziehen.
Ich erwarte, dass die Wachen bis zum Mittagsläuten den Befehl erhalten, Besucher, die nicht zur Familie Vildaban gehören oder der Großmeister oder einer der Junker selbst sind, einzeln einzulassen. Maximal eine Stunde mit jeweils einen Stundenlauf Pause dazwischen. Außerdem erwarte ich, wenn ihr schon soviel auf Eure verdammten Engel haltet, dass Ihr eine Messe im Burghof organisiert, die Türen zur Heilerstube vorher öffnet, damit die Truchsess sie hören kann. Dann betet gefälligst um den Beistand Eurer Engel und lasst die Truchsess daran teilhaben, statt sie wegzusperren.
Ihr habt keine Ahnung, was diese Frau bewegt. Sie zog schon immer die Kraft aus ihrem Glauben, aber auch schon immer aus der Familie, die stets und immer bei ihr war.
Und denkt nicht einmal daran mir Widerworte zu geben. Weder Sloan, noch Telas noch Dirion könnten Euch schützen, wenn Ihr mich von meiner Mutter fernhaltet. Die Wachen stehen noch rein aus Respekt vor ihrem Dienst an ihrem Platz. Nicht aufgrund Eures Befehls.
gez. Mirja Vildaban
Großmeisterin und Unteroffizierin des Ordens der Ritterschaft a.D.
Ja, Mirja war ein bisschen Stolz auf sich, dass keine Träne auf das Pergament fiel und verräterische Flecken hinterließ, ihre Schrift jedoch drückte eindeutig ihren Zorn auf den Chronisten aus. Und der arme Bote - es war bedauerlicherweise derselbe Tropf, der Mirja schon aufgesucht hatte und inzwischen ebenfalls zur Burg zurück gekehrt war - würde Noa aufsuchen.
Mirjas Zorn schwelte weiter, während sie auf Reaktion wartete. Derweil tigerte sie wieder abwechselnd im Burghof und in der Übungshalle umher. An Schlaf war nicht zu denken. Sie groß war die Angst, dass Leutersberg das Schlimmste verkünden würde. Mirja respektierte Fenrias Entscheidung keine Medikamente - was einer Ablehnung einer Behandlung generell gleichkam - zu erhalten, auch wenn es ihr schwer fiel. Aber sie wusste, dass es genau das war, was Fenria wollte: Wenn sie sterben würde, dann nicht alt, siechend und gebrechlich auf dem Bett einer Tattergreisin. Fenria würde in der Schlacht vergehen. Genau wie ihre Ziehtochter.
Aber Ohne Abschied? Nein... Mirja wusste selbst, wie tief es in der Seele schmerzte, wenn der Tod anklopfte und die Familie weit fort war.
Engels- und Herrngerede hin oder her. Fenria würde dort nicht allein in dieser Stube dahinsiechen. Sollte die Truchsess sterben, dann im Kreis ihrer Liebsten. Und wenn sie überleben wollte, dann - so war Mirja überzeugt - nur weil sie ihre Liebsten bei sich wusste.