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an Marleen Lamont

Verfasst: 04 Aug 2023, 22:24
von Nýssa
Nordhain. Im Turmzimmer der alten Bergfestung sitzt sie, umringt von Kerzen, flackernd vom hereinziehenden Nachtwind. Nur schwach dringen die Geräusche der Wesen der Nacht aus dem nahegelegenen Wald an ihr Ohr.

Sie hat sich nichteinmal die "Mühe" gemacht, den Kamin zu entzünden. Noch achtet sie, entgegen jeglicher Gepflogenheiten, auf besonderen Sitzkomfort. 
So sitzt sie dort, über den Schreibtisch gebeugt. Kaum mehr als eine dunkle Silhouette, dem das Raum erhellende Flackerlicht zum Totz.
Wild tanzen die Schatten über die Wände des Raums, als sie die Schreibfeder in raschen Handbewegungen knarzend und kratzend in das Pergament gräbt, um fein geschnörkelte Linien aus Tinte zurückzulassen.

 
Komra Marleen,

jedes Licht wirft einen Schatten. So hält Lamont es seit Jahrzehnten.


Aber bin ich der vom Licht geworfene Schatten? Ist mein Tun das Licht, welches den Schatten wirft? Was ist mein Platz, in dieser Geschichte? Kannst Du es mir sagen?
Eine Frage, auf die es, wie ich glaube, keine definitive Antwort gibt. Vielmehr ist ein solches Urteil stets das Resultat des subjektiven Blicks des oder der Einzelnen, gefärbt durch den Standpunkt, die Überzeugungen, und Erfahrung.
Ich will mir kein Urteil anmaßen. Solches überlassen wir nunmehr besser den Chronisten oder dem Fluss der Zeit selbst. Zu verwoben ist unser Schicksal unter dem gemeinsamen Banner, wenngleich mein - unser - Tun vielmehr ein Echo aus glorreicheren Tagen sein mag.
Dereinst betrachteten wir den Wahlspruch der Gemeinschaft als Zier, begriffen uns als den Schatten, die logische Folgerung aus dem selbstherrlichen Tun Anderer. Eine Gemeinschaft, die wir höher hielten als etwaige andere Verpflichtungen gegenüber sonstiger Herren.
Dieser Weg zweigte sich bereits vor langer Zeit, und doch gaben wir uns stets der Illusion hin, er führe am Ende doch wieder auf eine gemeinsame Gerade.

Für eine Umkehr ist es lange schon zu spät. Für Jede und Jeden von uns. Denkst Du nicht auch?

Jedes Licht wirft einen Schatten sagen wir. Auf jede Entscheidung folgt eine Konsequenz. Jede Aktion erzeugt Reaktion. Ob nun vorausgesehen, oder nicht.
Unsere Macht über das eigene Tun gibt uns jedoch die Sicherheit, unsere Geschicke zu lenken, nichtwahr?

Es ist paradox. Zu Zeiten, in welchen mir selbst nur allzu deutlich vor Augen geführt wird, dass die selbst geschaffenen Grundpfeiler, "wie die Dinge sind", oder "sein sollten", lediglich imaginäre Luftschlösser, Phantastereien und Hirngespinste darstellen, beginne ich, Wesentliches doch klarer zu sehen.

Es gibt keine Sicherheit, keine Absolution, keine Garantien und ganz sicher auch keinen "glücklichen" Ausgang jedweder Geschichten.
Stets vermochte ich es, diese Erkenntnis beiseite zu wischen, nur um mich weiter munter Luftschlössern und eingebildeten Idealen hinzugeben.
Ein Fehler?
Ein Fehler, den ich nicht zu wiederholen gedenke, ungeachtet der damit verbundenen Konsequenzen.

In Anbetracht der Ereignisse, die die Welt, wie ihr sie kennt, heimsuchen, scheint die Entscheidung, die ich nun treffe, vielleicht nichtig und unbedeutend, und ist sie doch wenigstens für meine Person von Tragweite.

Erneut gabelt sich der vor uns liegende Weg, ob nun durch unser Zutun oder nicht. Und ich stelle fest, dass dieser uns nur weiter voneinander entfernt. Ich werde Euch, Lamont, nicht folgen -können-. Noch stellt dies mein Bestreben dar.
Ich werde den Namen der Gemeinschaft nicht länger tragen. Ich werde nicht länger unter dem Namen unserer Gemeinschaft bekannt sein, handeln oder in irgendeiner Beziehung zu ihr stehen.
Ich erwarte, dass die Gemeinschaft meine Entscheidung akzeptiert, und die Negierung meines Schwurs hiermit anerkennt. Sollten meiner Person bisher Autoritäten irgendeiner Art in Bezug auf die Gemeinschaft zugesprochen worden sein, so sind diese nun folglich Dir anzurechnen.
Ob Du die Linie erneuerst, oder sie enden lässt - ich überlasse es Dir, zu entscheiden, was mit diesem Erbe geschehen mag.
Ich will, im Gegenzug zu Eurer Übereinstimmung mit meinem Vorhaben, kein Wort über den Ritus und die Gemeinschaft verlieren, noch werde ich das Augenmerk Anderer auf diese Verbindung lenken oder Anspruch in jedweder Form erheben.

Wie eingangs beschrieben, liegt die Bewertung der Dinge beim Einzelnen selbst, ist nicht ultimativ, nicht allgemeingültig - und damit nicht von Relevanz.
Ob nun Schatten oder Licht, die Zeit selbst wird zeigen, wohin uns die eingeschlagenen Wege führen. 
Zurück jedenfalls, leiten Sie uns nicht.

Savora.

Nýssa



Als sie in ihrem Tun endet und sich zurücklehnt, vermag es der Lichtschein schlussendlich, ihr unverhülltes Gesicht einzufangen. Wenngleich das Paar Augen leicht glänzend, umspielt die vernarbten Lippen doch ein schmales Lächeln, als sie sich schlussendlich erhebt und der Tür zuwendet.

Beim Hinaustreten schlägt ihr der eisige Nachtwind entgegen. Stumm verharrt sie einige Augenblicke auf der Schwelle und atmet tief ein, ehe sich die Silhouette im Dunkel des nächtlichen Waldes verliert.