Die Äste um sie bogen sich, die Blätter spielten eine leise raschelnde Melodie. Der Blick war verworren, in die Ferne gerichtet. Der Leib rührte sich keinen Deut. Sie war daran zu regenerieren. Jeder Phase ihres Körpers arbeitete. Ihr zerschlagenes Gesicht gab eine Facette an farbigen Möglichkeiten preis: Blau, Violette, Grün, Gelb, Rot. Das Blut rann ihre Schläfe hinab. Am Gitter stand hämisch grinsend eine schlanke Gestalt. Der Geruch widerte sie an. Wo sie früher in Rage geriet, ihren Wolf nicht kontrollieren konnte, ist es nun ein Schauer des Ekels, der sie überkam: Tod. Die spitzen Zähne blitzten, gaben ein Gegenspiel zu dem Grün, das Leben, des Waldes um sie. „Und, bereust du es schon?“ Eine Speerspitze wurde hineingeführt und gegen ihre Seite getrieben. Sie jaulte auf als die Spitze sich in ihren Leib schob. Langsam, quälend langsam. „Na komm… regeneriere.“ Der Speer zuckte zurück. Ein abfälliges Spucken auf die Gefangene, dann drehte sich die Gestalt ab: „Sie will nicht, ich glaube du hast sie kaputt gemacht.“ Klangen die Worte, als die Gestalt die Haustür öffnete. Es war ein Jägerhäuschen, eigentlich machte es ein gemütliches Bild. Nur war der Jäger schon längst tot.

Die Nacht war an ihrem Höhepunkt. Ihre Augen sahen zum Mond hinauf, er wurde stärker. Ihre Peiniger wussten bestimmt um die Wandlung zu Vollmond. Sie würden sie vermutlich zuvor töten. Minerva spürte und hörte, wie ein Knochen wieder zurücksprang. Der Armbruch war am Heilen. Die rechte Hand griff empor und sie zog sich an den Gitterstäben hoch. Sie hatten sie natürlich nicht gefüttert, hielten sie bewusst schwach. Ihre Hand umgriff den Stab und befühlte das Schloss. Es war mit einem Schlüssel versehen, kein Riegel. Und der Schlüssel hing natürlich um dem Hals von diesem Toten. So ging es also zu Ende? Hier war ihr Weg vorbei? Er begann damals, als sie von einem Wilden attackiert wurde, blutjung war sie – dumm genug um damals dort im Wald zu sein. Auch er ließ sie damals zurück, dachte sie stirbt an den Wunden. Doch das tat sie nicht. Irrte durch den Wald. Bis sie einen Wolf traf, der ihr erklärte, was sie habe, was sie ist. Sion führte sie in seine Höhle, zeigte ihr wie sie sich zu verhalten habe. Lehrte sie nach dem alten Kodex. Dort kamen sie sich auch näher, sie fühlte sich wohl in seiner Nähe, behütet. Er war ihre Familie. Als er ging, zerbrach für sie eine Welt.
Ließ sie zurück, als wäre es nichts. Auch sie verschwand damals, wollte nicht mehr in dieser Höhle sein – ohne ihn.
Als sie nach Jahren wieder zurückfand, hing der Geruch von ihm im Wald, doch er war abweisender geworden, als hätte es die ferne Zeit nie gegeben. Sie musste sich eingestehen, dass diese unbekümmerte Zeit vorüber war. Somit ließ sie ihn in Ruhe, er hatte ein anderes Rudel. Sie gehörte nicht mehr dazu. Und eben in jener Zeit, begegnete ihr dieser junge Wolf. Überheblich. Stolz. Doch auch selbstsicher. In Tyladriel fand sie ihr neues zu Hause. Eine neue Zuflucht. Gemeinsam wollten sie ein eigenes Rudel gründen. Zusammen schienen sie fast unerreichbar zu sein. Und er war es, der sie wieder wegführte. Als sein Geruch nicht mehr in der Höhle war, zog sie los. Davon getrieben diesen Geruch wieder zu finden. Die Jahre zogen ins Land, während ihrer Wanderschaft vergaß sie fast, weshalb sie losgezogen war. So viele Jahre die sie nun fort war, wahrscheinlich war er eh schon tot.
Irgendwo, so wie sie bald, aufgeschlitzt und enthauptet.
Sie sank in sich zusammen. Wahrscheinlich waren sie eh alle fort. Was jagte sie hier eigentlich noch? Was suchte sie? Weshalb trieb es sie von Wäldchen zu Wäldchen. Warum suchten ihre Pfoten die Nähe zur Erde? Irgendeine Sehnsucht, ein Drang war es, den sie nicht in Worte fassen konnte. Ihre Hand befühlte das Schloss. Aber sie war noch nicht am Ende. Nein, sie musste etwas finden. Auch wenn sie nicht wusste was es war, sie musste weitersuchen. Weiterleben. Ein Wind zog auf und ließ die Blätter in den Laubbäumen um sie rascheln. Ich will leben, kam der klare Wunsch vor ihrem geistigen Auge. Ihre Hand umgriff das schwere Metall des Schlosses, als könne ihre Hand allein es zerstören: Ich will hier raus. Fasste sie den Gedanken klar. Die Hand krampfte sich fester zusammen: Ich will hier raus! Der Wind ebbte ab unter einem erneuten, nun erfüllenden und klaren Gedanken: Ich will hier raus… - zog der Wind wieder auf. Doch nichts geschah, sie hatte das Gefühl etwas fehlte. Wie waren die Worte, die sie von den Magiern immer hörte? Zu verlieren hatte sie eh nichts. Sie schloss wieder die Augen und versuchte ruhiger zu atmen. „Nex Por.“, nichts geschah. Vielleicht war es falsch. Wieder ein durchatmen. Wie hieß es noch gleich? Häufig hörte sie die Wörter der Magie, irgendwo in ihrem Kopf mussten sie doch schwirren: „Ex Por.“, sprach sie dann ruhig. Doch wieder geschah nichts. Nochmals zog der Wind auf, es war ihre letzte Möglichkeit. An fehlenden Reagenzien konnte es nicht liegen, ihr mitgeworfener Beutel beinhaltete viele Kräuter. Sie überließen ihn diesen, da nichts scharfes oder anderes darin war. Vielleicht lag ihr Misslingen auch einfach darin, dass sie keine Magierin war. Die Not ließ irrwitziges hoffen. Die Blätter raschelten laut und wieder konzentrierte sie sich: „Ex Por.“, erklang es erneut ruhig und dann klackte es verräterisch. War das nun wirklich geschehen?
Der kurze Moment der Verblüffung wurde beiseite gekehrt. Sie musste sich später mit dem Wie beschäftigen. Ihr Körper war schwach, sie war noch mitten in der Regeneration. Leise schob sie die Tür auf und drängte sich hinaus. Still. Langsam. Ein Schritt wurde vor den anderen gesetzt. Sie wusste um das gute Gehör von Vampiren. Doch auch, dass ihr wegtreibenden Geruch von Blut sie rausziehen wird, wenn sie weit genug fort war. Leise schritt sie bis zur Waldgrenze und als sie diesen Vorsprung hatte, hechtete sie voraus: Sehnen schnalzten, Knochen brachen, das Haar stülpte sich wie ein Fell um ihren Körper, Gesichtszüge jauchzten und auf vier Pfoten kam sie auf. Sie hörte die Tür aufschlagen als sie schon im Sprint war. „Jarik sie flieht!“, keifte die hohe Stimme. Dann wurde ihr schon nachgesetzt. Sie rannte und rannte. Über Steine und Äste hinweg, unter Bäumen und Büschen hindurch. Nah auf den Versen waren sie ihr. Als sie am Horizont Lichter wahrnahm, kämpfte sie mit sich: Sie durfte es nicht… aber sie hatte keine andere Wahl. „Wage es nicht!“, hörte sie nun ihn fauchen als er ihren Weg bemerkte. Doch sie wagte es: Sie preschte aus dem Wald heraus, über die Lichtung geradewegs auf die menschliche Siedlung zu. Als sie im Schein von Licht ankam, hörte sie die Verfolger im Gras stoppen.
Langsam drehte sie sich im Lichtkegel einer einzelnen Fackel herum und sah zu ihnen hinüber. Sie irrte… wie angestachelt auf und ab, als müsse sie einen Weg hineinfinden. Er blieb ruhig stehen und sah ihr grinsend entgegen. Sie waren auffälliger als sie. Sie war ein großer Wolf. Gut, ein sehr großer Wolf. Aber wenn sie hier reinkämen… würden sie auffallen. Gerade, wenn sein junges Ding, sich nicht im Griff haben konnte. Er wandelte sich, wurde zu einer menschlichen Gestalt, während seine Gattin noch immer auf und ab ging. Langsam drehte sich Minerva um, in einem Holzschuppen fand sie Unterschlupf. Sie musste noch diese Nacht abwarten, dann war sie wieder kräftig genug, um es mit ihnen aufnehmen zu können. Am nächsten Morgen linste sie zur Tür heraus, barfüßig huschte sie hinter ein Haus und zog ein Bettlaken vom nächsten Fenster. Sie hatte kein Unbehagen mehr. Waren sie fort? Hatten sie das Interesse an ihr verloren? Es blieb keine Zeit das heraus zu finden, schnell wollte sie möglichst viel Raum zwischen sich und den zweien bringen.
Auf dem Weg über Felder und Wiesen, hatte sie Zeit nachzudenken. Sie zog die frische Luft ein und betrachtete die Wolken. Was da passierte war ihr schnell klar geworden. Ab und an erzählte ihr bekannte Magier von ihrer Gabe. Und mit einem weiteren tiefen Atemzug der frischen Luft und dem Gefühl der Erde unter ihren Füßen war sie sich nun sicher: Das war es, was sie wegzog. Es war in ihr, wollte hinaus und sie empfang es als den Drang etwas zu finden. Nun hatte sie nicht mehr diesen Drang: Es war Zeit zurück zu kehren. Zurück in ihre Heimat.