
Die 1. Lüge: Leon
Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch die Fensterscheiben des Miethauses am Hafen von Ansilon, eine angenehme Stille füllte die Räumlichkeiten aus. Im Badezimmer, gelegen im ersten Stock des Gebäudes, stand eine schlanke Gestalt vor dem Spiegel, ein Badetuch locker um die Hüften geknotet. Während er sich eine kaltnasse, kupferrote Haarsträhne aus dem Gesicht strich starrte Leonhard in das Antlitz seines Ebenbildes, welches, ebenso emotionslos, seinen Blick erwiderte. Einige Momente vergingen in denen der junge Mann fast bewegungslos verharrte, bevor, als würde man einen Hebel umlegen, ein Grinsen auf seinem Gesicht erblühte. Die Lippen sanft nach oben gekrümmt, auf der linken Seite einen Spalt geöffnet, eine charmante Asymmetrie. Jugendlich, unbekümmert, perfekt Einstudiert.
"Zu perfekt. Das würde nicht funktionieren."
Der Gesichtsausdruck floss von seinen Zügen wie schmutziges Wasser in einen Abguss, zurück blieben passive, abweisende Augen in sanftem Grün. Er schüttelte sacht den Kopf, versucht seine Gedanken zu ordnen. Die Person Leon mochte Naivität und Fröhlichkeit ausstrahlen, doch er brauchte auch einen Hauch von Ungestüm und Fahrigkeit um das Bild abzurunden. Wie hatte Shira’niryn es gestern noch ausgedrückt? Der Leon den sie kannte, war ein Optimist. Ein gut gelaunter Freigeist.
Ihre Worte überraschten ihn ein wenig, denn der junge Mann hatte fast erwartet bereits bei der ersten Begegnung zwischen ihm und den Bewahrern enttarnt worden zu sein. Damals als Livius und die Drachenmagierin ihn eingeladen hatten, als der schroffe frühere Krieger ihm erklärte, dass sie wohl etwas in ihm sahen. Doch die Fassade Leon hatte gehalten. Niemand vermutete ihn darunter, den Dieb, den Einzelgänger. Den, der sich am wohlsten fühlte wenn er Alleine war. Der, der unterschätzt werden wollte...denn wer unterschätzt wurde, den belastete man nicht mit Verpflichtungen oder Erwartungen.
Warum dachten sie wohl, dass er Druide werden wollte? Aus Mitgefühl? Weil er ihnen erzählt hatte, dass er Menschen helfen wolle? Leon war ein sanfter Gutmensch, schreckhaft, zu Hause in der letzten Reihe.
Tatsächlich wollte er einfach seine Ruhe haben, seine eigenen Entscheidungen treffen, ohne sich dafür vor Anderen verantworten zu müssen. Der Pfad dem er folgte sollte sein Eigener sein und in der Einsamkeit eines dunklen Waldes, im leisen Flüstern des Herbstwindes, in der Kälte des ersten Schnees hatte er, sogar zu seiner eigenen Überraschung, etwas wie einen Moment der inneren Zugehörigkeit gefunden.
Mit einem fast mechanisch anmutenden, erzwungenen Blinzeln wischte er all diese verworrenen Gedanken zur Seite. Sie gehörten ihm, doch nun galt es Leon, den Jüngling, auf den Plan zu rufen. Wieder zeigte sich das wärmende Lächeln auf seinem Gesicht. Die groben, einstudierten Punkte blieben ident wie zuvor, doch ein Hauch von zaghafter Unsicherheit flackerte in den Augen.
"Perfekt imperfekt."
Für einige Momente hielt das Spiegelbild Leon den Ausdruck, bevor der Rotschopf seiner Reflexion die verbissen geballte Faust ins Gesicht rammte.
Glas splitterte, ein Netz aus feinen Linien überzog den Spiegel während seine blutigen Fingerknöchel ein metaphorisches Blumenmeer in Rot über den Fließenboden zogen. Distanziert betrachtete der Mann die Wunde an seiner rechten Hand, bevor er das Tuch von seinem Unterkörper löste und um seine Hand wickelte. Das Badezimmer würde er aufräumen müssen bevor sein Bruder oder die gemeinsame Mitbewohnerin Luna etwas bemerkten, doch für den Moment sollte er sich zumindest eine Hose und festes Schuhwerk besorgen.
Das Zimmer in dem er Übernachtete war nur zwei Schritte entfernt, seine Kleidung unordentlich auf dem Boden verteilt, ein in abgegriffenes Leder gebundenes Buch inmitten…
Er stutzte, den Blick auf den unbekannten Folianten gerichtet, der da Mitten im Raum auf den Holzdielen thronte. Wie war der Gegenstand dort hingekommen? Als er die Stube verlassen hatte um ein Bad zu nehmen, wäre das klobige Schriftstück unübersehbar gewesen. Da lag es nun, in all seiner Pracht, der Titel in altmodischen Buchstaben eingebrannt.
"Der Kirchengrimm."
Eine Erinnerung an sein Heimatdorf Graupel, den Ort vor dem sie geflüchtet waren. Hatte Tyvurn das Buch in einer Bibliothek entdeckt und mit ihm teilen wollen? Das ergab jedoch wenig Sinn, die Platzierung, die immer noch ungebrochene Stille des Hauses...nein, dies war nicht das Werk seines Bruders. Irgendetwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu, die Implikationen ließen eine unangenehme Gänsehaut seine nackten Arme hinaufklettern.
"Wer war in seinem Zimmer gewesen?"
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