Tochter

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Nighean
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Re: Tochter

Beitrag von Nighean »

Kapitel 7.2 – Abo – Vater
 
Als hätte man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen, steht sie da.
 
„Was soll das heißen, du bist mein Vater?“
 
Die dunkle Gestalt kommt auf sie zu. Als würde sie ihre Arme ausbreiten, baut sich diese Gestalt vor Nighean auf.
 
„Du entstammst einer langen Ahnenreihe von Magiern, Adriana. Sie reicht zurück bis ins alte Surom. Die Familie K'Rakuhl, deren Blut in dir fließt, war einst Teil eines Magier-Zirkel. SEINEN Magier. Sie waren für das Wissen des gesamten Reiches Surom verantwortlich. Es heißt, dass Astarot persönlich über die Bibliothek von Surom wachte. Keine Bibliothek war größer, keine beherbergte mehr Wissen. Nachdem die Schlangendiener sie zerstört und das Wissen zu Staub zermahlen hatten, gab es keine vergleichbare Bibliothek“.
 
Fast ungläubig starrt Nighean die Gestalt an.
 
„Du nennst mich Adriana. Ist das mein Name?“
 
Ein Raunen entfährt der Gestalt.
 
„Eh mim shabro. Du bist mein Kind und ich habe dir einst den Namen deiner Mutter gegeben, um sie zu ehren. Es war das Mindeste, was ich in Anbetracht ihrer Leistung tun konnte. Adriana, ich habe dich aus einem bestimmten Grund gerufen. Der Namenlose ist frei und das neue Surom ist nahe. Wir brauchen eine neue Bibliothek. Einen Ort, an dem das Wissen des ganzen Reiches gesammelt und bewahrt wird. Das Wissen der alten Bibliothek ist nicht ganz zu Staub zerfallen. Vielen von uns ist die Flucht gelungen, und über die Generationen hinweg ist das Wissen bewahrt oder in Sicherheit gebracht worden. Du musst den alten Zirkel der Magier, SEINER Magier und das Wissen wieder zum Leben erwecken“.
 
Nighean schließt die Augen und senkt den Kopf zu Boden. Als läge eine ungeheure Last auf ihren kleinen Schultern, spricht sie zu ihrem Vater.
 
„Ich habe es verloren Abo. Es ist nicht mehr in mir. Der Zorn, die Wut. Es ist mit SEINER Befreiung von mir gegangen. Was für ein Diener soll ich sein, wie soll ich diese Aufgabe erfüllen, wenn das wichtigste Wesen eines wahren Dieners in mir verloren gegangen ist?“
 
Fast fürsorglich streckt ihr Vater den Arm nach Nighean aus und berührt sie fast.
 
„Das Wissen zu bewahren, erfordert einen klaren Geist. Zorn und Wut haben schon den einen oder anderen großen Wächter hervorgebracht. A´groniam de Surom, Qadmoyo, der Erste. Er ist das dunkle Beispiel für jeden Wächter, zu welch mannigfaltigen Taten Zorn und Wut verhelfen können. Das soll dem mächtigen Ostwind, Leviathan zur Ehre gereichen. Du aber bist kein Wächter und entstammst dem Geschlecht der Magier. Dein Geist muss über diese Begierden erhaben sein, um das Wissen zu schützen und zu bewahren. Beim Nordwind, dein Geist muss klar sein, um das Labyrinth des Westwinds, Belial zu bestehen. Nur so erreichst du das Ziel, die Erkenntnis. Jeder, der einst den Pakt mit dem Nordwind schloss und sein wertvollstes Gut gegen das unheilvolle Wissen Astarot eintauschte, musste die gewonnene Erkenntnis in der Bibliothek niederschreiben. Was für Schätze diese Bibliothek einst beherbergte! Du wirst diese Aufgabe nicht allein bewältigen. Es gibt noch unzählige Kinder Suroms da draußen, die sich ihrer Abstammung nicht bewusst sind. Ihre Vorfahren sind dem Gift und dem Bann des Vergessens der Schlange zum Opfer gefallen. Doch der Bann des Vergessens ist gebrochen, SEINE Ketten sind gesprengt. Sie werden kommen. Geh zu der Mutter, die dem Qadmoyo neues Leben schenkte. Sie wird wissen, was zu tun ist.“
 
Mit verquollenen Augen schaut sie ihren Vater an. Mit fast gebrochener Stimme redet sie weiter zu ihm.
 
„Was ist passiert, wo ist es hin? Es fehlt in mir. Es ist, als wäre ein Teil von mir gegangen.“
 
Fast wütend antwortet ihr Vater.

„Shabro, diese Frage kann ich dir nicht beantworten. Es war Teil des Paktes, den ich mit dem Nordwind geschlossen habe. Vielleicht wirst du es selbst herausfinden, oder Astarot wird dir diese Frage beantworten. Er allein kann über diese Antwort verfügen, es hängt von ihm und seiner Weisheit ab, ob er dir eine Antwort auf diese Frage gibt. Es ist Zeit für dich zu gehen, Adriana. Beim Südwind, bei Lilith, du kannst nicht ewig hier bleiben, noch nicht.“
 
Sichtlich erschrocken macht Nighean einen Schritt zurück und gerät auf dem glatten Marmorboden außer Kontrolle. Mit den Armen strauchelnd fällt sie nach hinten. Innerlich zuckt sie zusammen, um für einen unkontrollierten Aufprall gewappnet zu sein. Doch der bleibt aus. Sie fällt und fällt. Verwirrt löst sie sich aus der inneren Starre, reißt die Augen auf. Draußen vor dem Fenster ist ein klarer blauer Himmel zu sehen. Einzelne Tropfen fallen vom oberen Fensterrand. Blinzelnd erhebt sie sich von ihrem Nachtlager. Leicht zur Seite geneigt und mit geschlossenen Augen badet sie ihr Gesicht in den frischen Strahlen der Morgensonne.

"Wo soll ich nur anfangen?"
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Nighean
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Re: Tochter

Beitrag von Nighean »

Kapitel 8 – Eine Nachricht
 
Nighean saß wieder an ihrem Schreibtisch, wie schon so viele Nächte zuvor. Sie hielt eine Seite Papier in den Händen. Zögernd las sie die persönliche Anrede in diesem Brief. Sie hatte dieses Blatt, diesen Brief, im Tagebuch des Anastasius K'Rakuhl gefunden. Als sie zusammen mit Sorsha, Baithan, Scarlet und Isabella die ersten Seiten des Tagebuchs aus dem Alt-Suromischen übersetzt hatten. Sie waren auf eine Geschichte gestoßen, die von den letzten Tagen Suroms berichtete und Hinweise auf die frühere Existenz eines Magierzirkels inmitten Suroms gab. Die anderen arbeiteten konzentriert. Es war nur dieser erste Satz, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Der Adressat dieses Briefes. Nach dem Zustand des Papiers zu urteilen, gab es daran keinen Zweifel. Dieser Brief war mindestens so alt wie das Tagebuch selbst. Niemand hatte ihr Entsetzen bemerkt. Nighean hatte nach dem ersten Schreck beschlossen, diesen Brief an sich zu nehmen. Niemand sonst hatte das Recht dazu. Niemand außer ihr hatte das Recht, die Zeilen dieses Briefes zu lesen.

Nighean hatte es noch nicht gewagt. Es war ihr unangenehm, den ganzen Brief zu lesen. Zu groß war die Angst vor dieser Nachricht. Sie blendete alles aus dem Brief aus, konzentrierte sich nur auf die einleitende Grußformel und den Namen, an den sie gerichtet war.

„Bei Astaroth, wie kann das sein?“

Ein leichter Windhauch erfasste sie mitten im Raum. Türen und Fenster waren geschlossen.
 
„Was geht hier vor? Wie kann das sein? Woher kommt dieser Wind?“
 
Der Wind strich durch ihr Haar, über ihre Wangen und hinunter zu ihren Schultern. Dieser Wind schien nur sie zu berühren. Sie betrachtete die drei Kerzen auf dem Tisch vor ihr. Keine der Kerzenflammen zuckte auch nur ein einziges Mal. Mit einer gehörigen Portion Skepsis wanderte ihr Blick durch den Raum. Immer wieder flogen ihre eigenen Haare in ihr Blickfeld.

„Astaroth!“

Rief Nighean in den Raum hinein. Keine Antwort. Ihr Blick wanderte zur Decke, zu den dunklen Ecken des Zimmers. Dort, wo das Licht der Kerzenflammen nicht hinreichte. Aus diesen Ecken schien sich die Dunkelheit auszubreiten. Langsam kroch sie an den Wänden auf sie zu. Diese Dunkelheit nahm Besitz von allem, was sich in diesem Raum befand. Nur über eines hatte diese Finsternis keine Macht, das Licht, das sich aus den Flammen der Kerzen ausbreitete. Es gab keinen Bereich mehr, in dem Licht und Dunkelheit ineinander übergingen. Eine wabernde Blase aus Licht bildete sich um die Flammen. Außerhalb dieser Blase herrschte absolute Finsternis. Es schien, als ob Licht und Finsternis gegeneinander kämpften. Beide versuchten, ihre Existenz zu sichern. Wie zwei verschiedene Lebewesen, die den gleichen Raum, den gleichen Platz einnehmen wollten. An manchen Stellen schien sich das Licht in einem kleinen Bogen auszubreiten, um dann wieder von der Dunkelheit zurückgedrängt zu werden. An anderen Stellen wiederum drückte die Dunkelheit eine Delle in diese Blase, bis sie wieder an ihren ursprünglichen Platz zurückgedrängt wurde. Keine der beiden Mächte konnte einen wirklichen Vorteil erringen, noch die Oberhand gewinnen. Es kam Nighean wie ein endloser Kampf vor. Die Zeit um sie herum zog sich in die Länge. Es war, als würde sich ihr die Unendlichkeit offenbaren. Alles, Anfang und Ende. Darüber hinaus. Andere Welten, andere Sphären. Es lag so klar vor ihr. So einfach. Sie wollte gerade danach greifen, als sie eine vertraute Frauenstimme hörte. Sie konnte sie keiner bestimmten Person zuordnen. Sie wollte ihr nicht in den Sinn kommen. Nighean verstand auch nicht, was sie sagte. Es war wie ein Flüstern. Ein weit entferntes Rauschen wie Blätter im Wind. Ein Kichern folgte und wie eine unsichtbare Hand zog etwas von hinten an ihrem Haar. Weg von diesem Ort. Die Unendlichkeit verschwand. Das Licht breitete sich wieder aus und die Dunkelheit wich. Wieder bildete sich ein grauer Gürtel, ein Schatten, in dem das Licht in die Finsternis überging. Die Dunkelheit hatte sich in die Ecken des Zimmers zurückgezogen. Wie ein Raubtier saß sie da oben. Lauerte auf eine Gelegenheit, nach vorn zu stürzen und wieder alles in Besitz zu nehmen. Vor Nighean die Flammen der Kerzen, die stolz ihre heißen Köpfe nach oben reckten. Als würden sie die Dunkelheit in den Ecken des Raumes genau beobachten. Der Wind ließ nach und hinterließ ein Chaos aus wilden Haarsträhnen in ihrem Gesicht. Durch diesen Haarschleier hindurch richtete Nighean ihren Blick auf den Brief in ihren Händen.  Sie las den ersten Satz wie schon hunderte Male zuvor. Doch diesmal wollte sie es nicht dabei belassen.
 
„Unterwerfung und Treue Nighean,

 
gepriesen sei die Weisheit des Nordwinds.“…       
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