Rache für Wunden der Schlange
Re: Rache für Wunden der Schlange
„Zwischen Zweifel und Berufung“ – Die Unterredung
Nighean saß in der Dämmerung ihrer Schreibstube, das Licht der Kerzen flackerte und warf tanzende Schatten auf die vergilbten Pergamente vor ihr. Staub lag schwer in der Luft, als ihre behandschuhten Finger vorsichtig die brüchigen Ränder einer alten Schriftrolle glätteten. Die Rollen waren die Überreste von Surom, einst die Stadt Asmodans, doch die Schlangendiener hatten nichts davon übriggelassen. Diese Schriftrollen waren von gläubigen Pilgerreisenden gesammelt worden, die die verstreuten Relikte Suroms suchten und sie vor dem endgültigen Vergessen bewahren wollten. Ihr Herz schlug schneller, denn sie wusste, dass dies ein Moment von großer Bedeutung war.
Nighean war keine geweihte Priesterin, noch eine geweihte Wächterin. Sie war eine Dienerin, eine Dienerin des Wissens, des Glaubens, und IHM, dem Namenlosen. Trotz ihrer niedrigen Stellung wurde ihr oft die Rolle einer Lehrmeisterin zuteil. Schon viele Aspiranten hatten unter ihrer Führung ihren Yolufo, ihren inneren Ruf, erkannt. Doch dieses Mal war es anders.
Cataleya war ihr anvertraut worden. Eine aufstrebende Wächterin, eine künftige Templerin. Nighean hatte nie zuvor eine Templerin unterwiesen, doch in Cataleya sah sie mehr als eine gewöhnliche Schülerin. Wie bei allen ihren Schülern bemühte sie sich, den Yolufo, die innere Bestimmung, zu ergründen und die Flamme des Glaubens in ihnen zu entfachen. In Cataleya fand sie eine Entschlossenheit, eine Klarheit, die sie tief bewegte. Sie sah in ihr die künftige Hohe Templerin, jene, die das Reich und den Glauben einen könnte.
Und so kam es. Nach ihrer erfolgreichen Prüfung avancierte Cataleya rasch zur Templerin und wurde schon bald zur Kriegssäule berufen. So viel Verantwortung auf so junge Schultern. Nighean hatte sich währenddessen immer weiter zurückgezogen, war über lange Zeit abwesend gewesen, um sich den alten Schriften zu widmen, sie zu archivieren, zu restaurieren, zu übersetzen.
Währenddessen hatte Cataleya immer mehr Verantwortung übernommen. Sie war jung, ungestüm, nur vor IHM kannte sie Demut. Die Reihen der Priester waren ausgedünnt, und jene, die verblieben, waren damit beschäftigt, den Glauben im Reich Neu-Suroms aufrechtzuerhalten. Sie konnten Cataleya keine Stütze sein.
So geschah es, dass Cataleya zu einer Predigt im Tempel aufrief. Ein untypischer Akt für eine Wächterin, zumal Predigten traditionell den Priestern vorbehalten waren. Doch niemand widersprach. Als Nighean von diesem Ereignis erfuhr, legte sie ihre Arbeit nieder und begab sich zum Tempel, entschlossen, der Predigt beizuwohnen.
Die Predigt war verklungen. Noch hallten die Worte Cataleyas in den Mauern des Tempels nach, wie Echos einer Wahrheit, die nicht nur gehört, sondern gespürt worden war. Nighean stand schweigend in einer der hinteren Bänke, in sich versunken, während die wenigen Anwesenden langsam den Raum verließen. Sie war gekommen, um zu hören, zu fühlen. Und um zu sehen, ob ihre Schülerin bereit war.
Cataleya, in ihrer schwarzen Templerrüstung, stand nun allein vor dem Altar, den Blick gesenkt, als sei sie selbst überrascht von dem, was durch ihre Stimme gesprochen hatte.
Nighean trat zu ihr, ein kleines, sorgsam gerolltes Pergament in der Hand.
„Das war wirklich gut“, begann sie schlicht, aber mit Wärme in der Stimme.
Cataleya sah sie an, erschöpft, doch mit funkelnden Augen. „Ich hätte sterben können vor Nervosität“, murmelte sie. Dann senkte sie die Stimme. „Ich habe es einfach getan. Ohne Rücksprache mit den Priestern. Ich saß an meinem Tisch und... es musste einfach heraus.“ Nighean nickte nur. „Dann wurdest du berührt. Dafür braucht es keine Worte.“
Schweigend reichte sie Cataleya das Pergament. „Eine Arbeit, die ich abgeschlossen habe. Für dich.“
Cataleya nahm es mit vorsichtiger Ehrfurcht entgegen. Als sie es öffnete, erkannte sie den Titel
- Das Erste Buch des Namenlosen.
„Sein Name... ich sollte ihn nicht lesen... ich bin keine Stimme“, flüsterte sie. Nighean versicherte ihr ruhig. „Keine Sorge. Auch die Fürstin hat eine Abschrift erhalten. Und ich habe SEINEN Namen schon von den Stimmen gehört.“ Cataleya senkte erneut den Blick. „Dann will ich meine Psalme überarbeiten und wachsam sein, IHN nie beim Namen zu nennen.“
„Nur die Stimmen dürfen es“, bestätigte Nighean. Sie zeigte mit einem Finger auf die Narben in ihrem Gesicht. „Ich weiß, was es bedeutet, wenn man sich dem Urteil entzieht. Die Fürstin glaubte, ich hätte IHN genannt... Seither trage ich diese Zeichen.“
Cataleya schluckte. Erinnerungen fluteten ihr Herz. „Was die Diener der Schlange dem Märtyrer angetan haben... es war wahr. Auch ich habe es erlebt. Vier Tage in Solgards Fängen. Sie wollten mich an einem Ank in der Wüste fesseln.“ Nigheans Blick verfinsterte sich. „Sie wollen es nicht verstehen. Sie halten sich selbst für das Licht.“
Cataleya fuhr fort, die Worte kamen nun hastig, bruchstückhaft. „Sie heilten meine Lippen, nur um mich schön aussehen zu lassen... für das Opfer. Kein Wasser, kein Brot. Eisen in meinen Gelenken. Schmerzen, damit ich ihren Glauben annehme.“ „Und sie werfen uns vor, wir seien die Bösen“, entgegnete Nighean bitter.
Ein junger Mann, Dracon, unterbrach die beiden, doch Nighean ließ ihn gewähren. Er brachte frohe Kunde. Sein Bürgerbrief war bewilligt. Cataleya hieß ihn willkommen in Neu-Surom, und die Unterredung nahm eine lehrreiche Wendung. Es wurde deutlich, dass Cataleya längst mehr war als nur eine Säule. Sie begann zu lehren, nicht in Floskeln, sondern in Messen. Mit Worten, die Herzen berührten.
Später überreichte sie Nighean ein Buch, gebunden in Dämonenleder, die Schrift aus Vulkanasche und Dämonenblut gezogen. Es war ihre eigene Handschrift. Eine Hommage an SEIN Wort.
„Es ist gut geschrieben“, sagte Nighean schließlich. „Es wird SEINEN Worten gerecht.“ Doch Cataleya war unruhig. Sie sprach von der Last, die sie trug. Von der Einsamkeit. Vom Zweifel, ob sie all dem gewachsen sei.
„Und doch fühlt es sich an, als müsse ich mich stets beweisen“, sagte sie leise. „Ich führe, ich lehre, ich kämpfe... und ein Schatten wie ein Gott wacht über mir.“
Nighean legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. „Wer sonst als du? Ich sehe niemanden, der es besser vermöchte.“
Als eine Wächterin hinzukam, Rhonya Rotfuchs, und ihre Predigt spöttisch kommentierte, verteidigte sich Cataleya mit Entschlossenheit. Es war ein Moment der Wandlung. Aus der Schülerin sprach nun die Säule.
„Du wirst sie alle einmal führen“, erwiderte Nighean. „Darum musst du sie kennen.“
Als der Abend sich dem Ende neigte, trat Fürstin Marleen hinzu. Cataleya bat um ein Gespräch unter vier Augen.
Nighean zog sich zurück, suchte die Stille des Tempels. Noch einmal blickte sie zurück auf Cataleya, ihre Schülerin, ihre Hoffnung.
Und in diesem Moment wusste sie. Der Glaube an den Namenlosen war in ihr nicht nur lebendig, er war bereit, durch sie neu zu erwachen.
In der Stille.
Später, als der Tempel leer war und die letzten Schatten sich an den Säulen festklammerten, saß Nighean allein in der hintersten Bank. Die Hände ruhend auf ihrem Schoß, den Blick auf das flackernde Licht des Altars gerichtet, ließ sie ihre Gedanken kreisen. Der Steinboden unter ihren Füßen war kalt, das Gebälk über ihr von Jahrhunderten gezeichnet. Doch Nighean spürte nur den leisen Druck ihres Herzens. Die Last eines Glaubens, der mehr verlangte als bloßes Wissen.
Sie hatte Cataleya gesehen. Hatte ihr Straucheln gespürt, ihren Trotz, ihre Sehnsucht. So viel Kraft in einem jungen Leben. So viel Feuer, das gleichzeitig trug und verzehrte.
Sie faltete langsam die Hände zum Gebet. Doch ihre Lippen blieben stumm.
"Warum sie?", fragte sie in Gedanken. Nicht zweifelnd. Prüfend.
Cataleya war mehr als eine Templerin, das wusste sie längst. Aber ob sie bereit war, all das zu tragen, was vor ihr lag? Das lag nicht mehr in Nigheans Hand. Sie konnte nur vorbereiten, leiten, beobachten. Doch den Schritt ins Dunkel musste Cataleya allein tun.
Ein schwaches Windspiel schlug an und Nighean hob den Kopf.
"Erkenne dich selbst, und du wirst IHN erkennen", dachte sie. Ein Satz aus einer alten Schriftrolle. Ein Echo aus einer Zeit, als Surom noch stand.
Nighean atmete tief ein. SIE würde wieder wachen. Wieder warten. Wieder beten. Denn das war IHRE Aufgabe.
Und sie selbst? Sie würde morgen wieder lehren...