Geschichten der Ewigkeit

Rollenspielforum für Geschichten.
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Mirja Vildaban | Vyktorya Alvlem
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Die Lebenden Bomben

Beitrag von Mirja Vildaban | Vyktorya Alvlem »


~Am Abend, einige Tage zuvor~


Höchstzufrieden, aber ungewöhnlich erschöpft hatte Vyktorya sich an ihren neuen Rückzugsort zurück gezogen. Tief im Dschungel, fernab jeglicher Zivilisation harrte sie in den Nächten aus. Trotz der dampfigen Luft schaffte sie es sogar hier einige Stunden zu Ruhen. Und diese würden heute bitter nötig sein.

Langsam strich sie sich massierend über die Schläfen hinauf zu ihrem Haaransatz, dort wo die massiven Hörner hervorsprossen. Ihr Schädel dröhnte und summte. War es wirklich so lange her, dass sie so lange soviel Macht kanalisiert hatte? Wohl kaum… Wie häufig hatte sie damals mit ihren Schülern – deutlich mehr als zwei und von verschiedenen Machtstufen geprägt – und Rorek als Erzmagier Rituale abgehalten, Magie kanalisiert, weitergeleitet und Zauber gewoben die weit aus komplexer waren, als das, was sie heute tat. Immerhin könnte das auch ein geübter Magier ohne jeglichen Titel schaffen.

Nun gut, sie hatte selbstverständlich gleich jeweils zehn Artefakte auf einmal verzaubert, während ein einfacher Magus höchstens wohl immer eines, mit sehr viel Übung vielleicht sogar zwei zugleich verzaubern könnte. Aber auch das war nichts, was sie mit ihrer Macht nicht tun könnte. Zumal es einfache Holzrunen waren, die sie in Fallenträger verwandelte, um dann bestimmte Zauber hinein fließen zu lassen. Eine kleine, hübsche Überraschung für den Feind, wenn er auf die Armee der Legion traf.

Oder war es das Weben der Energie des Mutterkristalls? Gepaart mit der Macht Zirons, die der Erzliche ihr zufließen ließ? Schwer zu sagen… jedenfalls fühlte sie sich so matt und träge, wie damals nach dem Kampf direkt in der Totenebene, als sie den Kometengolem erschlugen. Nun saß sie also hier auf diesem Steg und begutachte die kleinen Runenfallen. Wunderbar. Es war einfach ein perfektes Werk. Und dieser neue Elfenmagier und diese kleine Dämonenhure hatten sich sogar als recht nützlich erwiesen. Das war… überraschend. Wenn gleich sie diese gewiss nicht benötigt hätte… aber rückblickend… nun vielleicht war es ganz gut, dass sie ihre Macht geteilt hatten. Sonst wäre sie vermutlich noch erschöpfter und hätte es nicht geschafft, das Werk zu vollenden. So schaffte sie es ihre Erschöpfung lange genug zu verbergen, bis sie sich zurückziehen konnte. Zumindest hoffte sie das…

Dennoch… seltsam war es schon.

Wie auch immer. Der Erzliche schien höchst zufrieden zu sein, immerhin hatte er ihr erlaubt, den Kristall zu nutzen – wobei diese Erlaubnis schon vom Lord persönlich erteilt worden war. Aber Ziron hätte auch anders entscheiden können. Er scheint wohl, laut Naeldir, nicht so gebunden zu sein, wie die Legion. Nun… das Werk war jedenfalls vollbracht und morgen würde sie ihr Werk Jerka überreichen. Die Legionsführerin wusste am Besten, wo und wie sie diese Bomben nun einsetzen würde. Dem Lich hatte sie eine Anleitung überreicht. So konnte er die Bomben also nachbauen oder nachbauen lassen. Sie hatte ihre eigene Abschrift und konnte die Herstellung also jederzeit übernehmen – oder eben Lehren. Denn eigentlich hatte sie keine Lust zu einer Massenwaffenherstellung abgestellt zu werden. Dafür gabs doch diese ach so eingebildeten Magier in Darios Silberburg-Truppe. Sollten die das doch dann übernehmen, so waren sie beschäftigt und gingen Dario nicht all zu sehr auf den Nerv.

Jetzt ein wenig ruhen… Langsam ließ sie sich auf den Rücken sinken und schloss die Augen.

Für das Treffen mit Jerka musste sie wieder all ihre Sinne beisammen haben…
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Mirja Vildaban | Vyktorya Alvlem
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Das Erwachen?

Beitrag von Mirja Vildaban | Vyktorya Alvlem »

Nachdem sie ihre jüngste Aufgabe für Jerka erfüllt hatte – gezielte Vorbereitungen für den nächsten Schlag gegen die Feinde – landete sie Wutentbrannt einige Tage später erneut auf dem staubigen Boden des Drachenfriedhofs. Der Regen von vor einigen Tagen hatte die letzten Spuren des Rituals fortgeschwemmt und allmählich hatten sich die Energien im arkanen Gefüge wieder normalisiert. Noch während sie voranschritt und sie die Urgestalt aufgab, schrie sie zornig die magischen Formeln in die kalte Nachtluft:

„Epesu Emuqa Enir Mursu!“

Sie hatte heute keine Geduld den Äther um Einlass zu bitten. Sie sammelte all ihre verbliebene Macht, griff nach ihrer Verbindung als Seelenhüterin gen Äther und zerriss den Schleier um geistig hindurch zu treten.

„JENAYA!“


Wütend grollte ihre Stimme über die karge Ebene. Die letzten Tage waren für sie zermürbend gewesen. Immer und immer wieder hatte sie sich den Kopf darüber zerbrochen, welche Pläne Rorek verfolgte und immer und immer wieder war sie zu jenem einen Schluss gekommen: Er wollte sie retten.
Der Gefühlssturm, der innere Kampf, der diese Erkenntnis auslöste, war unerträglich. Die dämonische Essenz in ihr schrie sie an, dies unbedingt zu verhindern, ihn zu töten und den gesamten Konvent gleich mit. Der Gedanke löste regelrecht Angst und Panik in ihrem korrumpierten Wesen aus. Aber dieses eine vermaledeite winzige Fünkchen ihrer selbst hatte aus dieser Erkenntnis so viel Hoffnung und Macht geschöpft, dass es wild gegen diese Gedanken anschrie. Hoffnung… Hoffnung all dem zu entkommen… Hoffnung, die ihr permanente Schmerzen bereitete, denn ein Entrinnen gab es nicht aus der Legion.

Zu alldem Übel hatte Vyktorya immer mehr festgestellt, dass irgendwas ihre Kräfte blockierte. Die Herstellung der magischen Waffen vor zwei Tagen ging ihr nicht einmal im Ansatz so leicht von der Hand, wie es das hätte tun sollen. Natürlich hatte sie sich vor den anderen Soldaten und vor allem vor der Legionsführerin nichts anmerken lassen, doch das Maß an Konzentration, das sie für eine Verzauberung benötigte, die auch ein geübter Magier… oder Meistermagus erledigen konnte, erschreckte sie doch. Außerdem hatte sie festgestellt, dass ihre Diener ihr längst nicht mehr so gut gehorchten wie einst, wenn sie sich überhaupt bequemten ihrem Ruf zu folgen. Auch Zauber der Höheren Zirkel fielen ihr zunehmend schwer, wenn sie diese überhaupt wirken konnte und die Seelenelementare verweigerten ihr komplett den Dienst. Gerade heute war es wieder deutlich geworden. Ein paar blöde Muränen, Seeschlangenähnliche Wesen, hatten ihr echte Mühe bereitet, weil sie keinen Zugriff auf die höheren Zirkel bekam. Dafür gab es nur eine Erklärung: der Äther hatte sie von ihrer Macht ausgesperrt.

Es hatte sie einiges an Mühe gekostet ihrer Maske gegenüber Jerka und der Legion aufrecht zu halten. Als Jerka gegangen war, hatte Vyktorya ebenfalls den Rückzug angetreten und vorgegeben, dass sie Informationen von den Feinden sammeln und nach dem Kristall auf der Greifeninsel sehen wollte. Nun… an sich nicht gelogen, denn jetzt war der Äther ihr größter Feind… und den Kristall, um den kümmerte sie sich eben danach.

„JENAYA!“, brüllte sie abermals.

„Hast du es dir anders überlegt?“

Wieder löste die Eisesstimme einen schmerzhaften Schauder in ihrem Geist aus.

„Gib mir meine Kräfte zurück!“


Diesmal ließ sich der Äther nicht dazu herab eine Gestalt anzunehmen. Die körperlose Stimme hallte flüsternd über die Ebene, ohne dass Vyktorya irgendein Lebewesen oder gar eine Seele erkennen konnte. Sie war hier… völlig allein.

Allein…

Sie spürte, wie ihr physischer Körper zitterte und die Verbindung drohte zu reißen.

„Du bist verseucht… korrumpiert… von einer fremden Macht gesteuert. Deine Seele gehört kaum noch dir, wie kann ich dir also dir also eine Macht anvertrauen, mit der du meinen Kindern schadest? Du kennst die Optionen…“

Und damit warf der Äther sie abermals vor die Tür, wie eine räudige, unerwünschte Straßenkatze. Diesmal war es nicht die geballte Wucht des Rauswurfs, der sie zu Boden sinken ließ. Ihre Knie gaben schlicht nach unter dem Ansturm der Gewissheit: Sie hatte wirklich keine andere Wahl mehr. Folgte sie der Legion, würde sie ihre Macht verlieren. Die Macht, die sie überhaupt für die Legion nützlich machte. Ohne Macht wäre sie unnütz und würde bald mit ihrer eigenen erschaffenen magischen Waffe ausgestattet als Opferlamm an die Front geschickt werden.

Wollte sie ihre Macht behalten dann…

Allein der Gedanke ließ sie vor Schmerz aufschreien. Gequält kratzte sie mit den Klauen an den massiven Hörnern auf ihrem Kopf, als könnte sie so den Schmerz lindern, der durch ihren Körper und ihren Geist schoss. Sie versuchte sich zu beruhigen, die Gedanken in andere Bahnen zu lenken…

Sie würde sterben… so oder so… egal was sie tat… wofür würde sie sich also letztendlich entscheiden?
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Mirja Vildaban | Vyktorya Alvlem
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Re: Geschichten der Ewigkeit

Beitrag von Mirja Vildaban | Vyktorya Alvlem »

Auszüge aus einem Forschungstagebuch:

Versuch 1:
Versuchsobjekt: Kanalratte
Ursprungsort: Käfig 1 im Ritualraum, Westwand
Zielort: Innerhalb des Ritualkreises
Blutmenge: zwei Fingerhut voll


Der Käfig steht ungefähr drei Schritt vom Wirkenden entfernt, so ist sowohl Ursprung als auch Ziel für den Ritualisten wie auch für das Versuchsobjekt sichtbar.
Die Blutmenge ist hier bewusst zunächst deutlich höher gewählt, als jene die vom späteren Zielobjekt vorhanden ist.
Der Zauber wird von einer Erzmagierin angewandt. Die Menge der aufgewandten Konzentration ist moderat, nicht deutlich höher als bei der Beschwörung eines Reittieres.
Das Versuchsobjekt zeigte deutliche Spuren von Angst, als die Wirkung des Zaubers einsetzte. Es ist faszinierend zu sehen, wie sich das Tier scheinbar auflöst, um kurz darauf zu Füßen des Ritualisten aufzutauchen. Es ist sichtlich verstört und das Fell ist zerzaust, aber das Versuchsobjekt ist augenscheinlich unverletzt. Auch eine nähere Untersuchung ergab, dass es zwar eine stark erhöhte Herzfrequenz hat, aber sonst keine organischen Schäden aufweist. Die Herzfrequenz senkte sich nach einer angemessenen Zeit, sobald Stress und Angst nachließen.

[…]

Versuch 5:
Versuchsobjekt: Kanalratte
Ursprungsort: Wohnräume im Obergeschoss
Zielort: Innerhalb des Ritualkreises
Blutmenge: Ein Tropfen


Nachdem in den vorherigen Tests die Blutmenge verringert wurde, konnte festgestellt werden, dass es scheinbar nicht zwangsläufig auf die Menge des Blutes ankommt. Ob dies jedoch auch noch gilt, wenn nun die Reichweite erhöht wird, wird sich in den folgenden Tests zeigen. Es wird nun bewusst zunächst mit deutlich weniger Blut gearbeitet, als vom späteren Zielobjekt vorhanden.

Nun wird das Versuchsobjekt mit seinem Käfig im Wohnraum im Obergeschoss – also drei Stockwerke über dem Ritualraum – abgestellt. Der Standort ist also weiterhin bekannt, die Entfernung zum Ritualort jedoch größer.

Auch hier wird die Beschwörung durch die Erzmagierin ausgeführt. Erneut wird eine moderate Kraftanstrengung registriert.

Wie in den vorherigen Tests kommt das Tier zunächst lebend an. Es zeigt jedoch eine Panikreaktion und flüchtet unter ein Regal. Von dort kann es nur tot geborgen werden. Eine Untersuchung ergibt jedoch, dass die Todesursache eher Angst und ein zu hoher Stresspegel war.

[…]

Versuch 15:
Versuchsobjekt: Hausschwein
Ursprungsort: Angebunden an einen Pflock in einer südlichen Ecke des Heredium
Zielort: Ritualraum
Blutmenge: Ein Tropfen


Nachdem auch größere Tiere wie Kaninchen zwar verängstigt aber ansonsten unversehrt mit moderater Kraftanstrengung beschworen werden konnten, wird heute ein größeres Tier im Versuch genutzt.

Das Hausschwein wiegt gute 30 Waagsteine. Aus Hygiene- und Platzgründen wurde es nun im Süden des Herediums angepflockt. Der Standort ist damit bekannt, aber deutlich weiter entfernt als bisher – befindet es sich also auch nicht mehr im selben Gebäude.

Bei der Durchführung wird deutlich, dass ein etwas größerer Kraftverbrauch entsteht. Immer noch recht moderat und für die Erzmagierin gut zu bewerkstelligen, aber mit der Größe des Tieres, scheint sich auch die notwendige Macht zu erhöhen.

Dies wird weiter beobachtet.

Auch dieses Tier kommt unversehrt, wenn auch mit Panik an. Auffällig ist, dass es jedoch ohne den Strick, mit dem es angebunden war, ankommt. Dieser wird mitsamt Pflock am Ursprungsort vorgefunden.

[…]
Versuch 23:
Versuchsobjekt: Hausschwein
Ursprungsort: Unbekannt
Zielort: Ritualraum
Blutmenge: Ein Tropfen


Die Reichweite wurde in den letzten Tests vergrößert. Bislang war es unerheblich, wo sich das Versuchsobjekt befand. Jetzt jedoch ist der Ursprungsort dem Ritualisten nicht bekannt.

Bei der Durchführung des Zaubers ist jetzt auffällig, dass der Zauber durch zweimaliges Sprechen aufrecht gehalten werden muss, ehe die Wirkung des Zaubers eintritt und das Versuchsobjekt am Ort eintrifft.

Die Panikreaktion des Versuchsobjektes ist nun deutlich höher. Zu vermuten ist, dass die Auswirkung des Zaubers für das Versuchsobjekt am Ursprungsort deutlich früher zu spüren war, ehe es wirklich seinen Ort wechselte. Die Angstreaktion dauerte deutlich länger an. Ansonsten war das Versuchsobjekt wieder ohne Schaden.

[…]

Versuch 36:
Versuchsobjekt: Humanoide (Räuber)
Ursprungsort: Unbekannt
Zielort: Ritualraum
Blutmenge: ein Tropfen

Da die Zeit allmählich knapp wird, mussten die Versuchsobjekt größer werden. Die letzten beiden Versuche mit Räubern von einem Bekannten Ursprungsort ergaben einen deutlich höheren Kraftverbrauch, der an das Beschwören eines Elementars aus dem achten Zirkel heranreicht.
Auch fiel auf, dass der Zauber trotz Wissen über den Ursprungsort aufrecht gehalten werden muss, bis die Beschwörung abgeschlossen ist.

Nun wird das Humanoide Versuchsobjekt an einen unbekannten Ort gebracht. Wie zuvor wird die Beschwörung von einer Erzmagierin vorgenommen.

Auch diesmal ist es notwendig, den Zauber aufrecht zu halten, bis die Beschwörung abgeschlossen ist. Dies dauert auch augenfällig merklich länger, als bei den vorherigen Versuchen. Ebenso ist der Kraftverbrauch noch einmal deutlich erhöht.

Das Versuchsobjekt ist zunächst verwirrt, verängstigt, wird jedoch sofort aggressiv, sobald es offensichtlich verstanden hat, was geschehen ist. Dies ist eine Reaktion, die ähnlich wie bei den vorherigen humanoiden Versuchsobjekten ausfiel. Die Veränderung zu den Reaktionen im Vergleich zu den Tierversuchen macht eben deutlich, dass humanoide Wesen scheinbar mit einer anderen Intelligenz und mit weniger Instinkt beglückt sind, weshalb sie Dinge deutlich schneller oder zumindest anders erfassen können. Unverändert ist die scheinbare Unversehrtheit.

[…]

Fazit der Versuchsreihe:
Abschließend ist nun zusammenzufassen, dass die Beschwörung eines Lebewesens dieser Ebene mithilfe seines Blutes möglich ist. Je größer das Wesen und je weniger vom Standort der Kreatur und ihm selbst bekannt ist, desto schwieriger wird die Durchführung. Bei der Beschwörung des Zielobjekts ist anzuraten, einen Machtzirkel mit weiteren Magiern zu bilden, um einen fließenden Kraftstrom zu erhalten. Es ist davon auszugehen, dass die die derzeitigen Eigenschaften des Zielobjekts einen gewisser Schutzschild darstellen könnten, wodurch sich das Zielobjekt möglicherweise etwas länger gegen die Beschwörung wehren könnte. Das Ritual wird sorgfältig vorbereitet werden müssen.
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Mirja Vildaban | Vyktorya Alvlem
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Schutz für die Herde

Beitrag von Mirja Vildaban | Vyktorya Alvlem »

Immer wieder hallten die Schreie und das Knurren durch das kleine Anwesen und die ewige Stadt. Unruhig streiften die Wachen vor dem schwarzen Gemäuer umher, wussten sie doch genau, was diese Laute zu bedeuten hatten: Ein neuer Unsterblicher erwachte.

Vyktorya lag reglos in den Kissen ihrer Ruhestätte und lauschte auf die Kakophonie aus Schmerz und Hunger, der auch in ihren Instinkten eine Saite zum Klingen brachte. Ihr eigener Blutverlust machte sich bemerkbar. Die Wunden an ihrer Flanke und ihrem Handgelenk waren längst verheilt und lediglich das Blut auf ihrer Kleidung und Haut und den zerrissenen Stoff waren noch Zeugen davon. Sie sollte sich waschen, umkleiden und selbst nähren, aber im Augenblick harrte sie gedankenverloren weiter aus. Es erdete sie auf eine perfide Art und Weise zumindest einen Teil des Leids zu spüren, den der neue Welpe gerade erlebte. Vielleicht war es auch eine gewisse Art Selbstgeisselung, wer weiß. Immerhin war es eine ihrer Schülerinnnen, eine Schutzbefohlene, die dort unten lag und unter der Wandlung litt.

Hatten sie die Bedrohung durch diesen Wilden Unsterblichen nicht ernst genug genommen? Schwer zu sagen. Sie hatten in den letzten Wochen und Monden abwiegen müssen, um welche Probleme man sich kümmerte. Zum einen war Vyktorya selbst in der Zeit, als dieser Unsterbliche auftauchte, von der Legion korrumpiert gewesen. Tatsächlich hatte sie unterschwellig Angst, dass sie womöglich diejenige war, die für diese Blutbäder verantwortlich war, bis sie die Steckbriefe in der Ewigen Stadt fand.
Der Kampf gegen die Legion hatte die volle Aufmerksamkeit bedurft. Was war schon ein wildernder Vampir gegen eine Armee an Dämonen? Nichts. Und jetzt rächte sich diese Nachlässigkeit… diese… Entscheidung zwischen Pest und Cholera. Die Pest war zurück gedrängt und die Cholera lachte ihnen schamlos ins Gesicht.

Katherines Erschaffer war wirklich ein Tier. Er widerte Vyktorya ab dem Moment an, als er seine Fänge aus Soriyas Hals riss und das Wort an sie richtete. Seltsam, dass Davion diesen Kerl so dringend jagen wollte, wo doch seine Ansichten doch fast gut zum Bund passen könnten. „Du könntest die Welt haben.“ Vyktorya entwich ein angewidertes Schnaufen, als Soriyas wütendes Brüllen wieder anschwoll und sich mit Katherines vergebliche Beschwichtigung mischte. Natürlich waren die Menschen am Ende, heruntergebrochen auf das Wesentliche, lediglich Nahrungsquelle. Das Vieh… die Herde, von der sich die Unsterblichen ernährten. Doch musste man sich entscheiden… war man ein Tier, wie die verdammten Köter, und riss schlicht alles gierig was einem unter die Augen kam? Oder hegte man die Herde. Züchtete sie heran zu braven Lämmern, labte sich an ihnen und sorgte dafür, dass sie stets treudoof, folgsam und vor allem unwissend über ihr Schicksal ausharrten? Wenn man die Herde riss, wird man später hungern, denn es war nichts mehr da, wovon man sich nähren konnte. Pflegte man seine Herde… nun… dann kamen diese Tölpel doch beinahe freiwillig zur Schlachtbank.

Das war stets das Problem von vielen Machtgierigen: Sie vergaßen bei der Vernichtung der Welt, dass es am Ende nichts mehr zum Regieren gab, wenn sie alles zerstören und töteten. Da war es egal, ob der Machthunger nun einen Unsterblichen oder einen Menschen befiehl.

Apropos Machthunger… sie sollte sich selbst nähren und dann einige Nachrichten schreiben. Außerdem spürte sie, dass Rorek alsbald zurück kehrte… und ihr Gefährte war bereits jetzt gereizt wie ein wilder Stier. Wenn er das Blut an ihr sah – selbst wenn die Wunde längst geschlossen war – wurde der Abend nur noch unangenehmer als er ohnehin schon war. Und darauf hatte Vyktorya reichlich wenig Lust.

Also blendete sie den Lärm des tobenden Frischlings aus und machte sich frisch, ehe sie sich an den Schreibtisch setzte und einen Brief verfasste.
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Mirja Vildaban | Vyktorya Alvlem
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Weiß wie Schnee, Rot wie Blut...

Beitrag von Mirja Vildaban | Vyktorya Alvlem »

... oder auch: Die Hochzeit eines Vampirs
 
Etwas Altes

*einige Mondläufe früher*
Still saß die Unsterbliche im Turmzimmer ihres Elternhauses in Drachdea und betrachtete die große, beschlagene und uralte Truhe vor sich. Nie hätte sie gedacht, dass sie diese Kiste doch noch öffnen würde. Langsam glitten ihre schlanken Finger über die alten, schwarz angelaufenen Eisenbeschläge und das glatte, edle Eibenholz. Obwohl es über ein Leben her war, drangen die Erinnerungen auf sie ein, als wäre es erst gestern gewesen:
„Bunija! Bunija! Was ist das für ein schönes Kleid?!“, aufgeregt sah das kleine, achtjährige blonde Mädchen ihrer Großmutter entgegen, wobei sie ehrfurchtsvoll mit den Fingern über die strahlendweiße Seide des kostbaren Kleides strich.
„Ah Mi-fata, leg das wieder zurück, sei so gut. Nicht, dass es schmutzig wird oder kaputt geht.“, die ältere Frau trat zu ihrer Enkelin heran und musterte das Kleid mit hellgrauen, wehmütigen Augen. „Aber was ist das denn nun? Ich habe das noch nie an dir gesehen und wieso versteckst du das in dieser Truhe?“, Vyktorya sah ihre Großmutter verständnislos an, während sie dennoch ihrer Anweisung folgte und die Falten der Seide wieder sanft und sorgfältig zusammenlegte und das Kleid möglichst behutsam wieder zurück in die mit Samt ausgekleidete Truhe legte.
„Es ist mein Hochzeitskleid, Mi-Fata.“ Vyktorya runzelte die Stirn und ihr Blick glitt hinüber zu dem Gemälde, welches ihre Großmutter als junge Frau an ihrem Hochzeitstag zeigte. „Aber auf dem Bild trägst du ein ganz anderes Kleid.“ Auch wenn sie das Kleid nur kurz in den Händen gehalten hatte, konnte das kleine Mädchen dennoch den Unterschied erkennen: das Kleid in der Truhe war von strahlendem Weiß und aus schlichten, glänzendglatten Seidenlagen gefertigt und wirkte so hauchzart wie eine frische Schneedecke. Während das Kleid, welches ihre Großmutter auf dem Gemälde trug, zwar ebenfalls weiß, jedoch mit einem üppigen Reifrock und einer Menge Spitze und aufgepufften Ärmeln versehen war.
„Es ist das Kleid, was ich mir gewünscht hätte, hätte ich den Mann meines Herzens heiraten können.“ „Ich verstehe nicht…“, murmelte Vyktorya nachdenklich. Sie musterte erneut das Bild. Sie hatte ihren Großvater nie kennengelernt, er war weit vor ihrer Geburt verstorben, als ihre eigene Mutter selbst noch fast ein Kind war. Daher kannte sie ihn lediglich als jungen Mann von diesem einen Gemälde. Ihre Großmutter hatte sonst keinerlei Erinnerungsstücke an ihm behalten. „Irgendwann wirst du das verstehen Mi-Fata.“

Vyktorya hatte nach diesem Abend noch eine Weile darüber nachgedacht, doch ihre Großmutter hatte sich nicht mehr weiter dazu geäußert, sondern lediglich dieses feine, wissende Lächeln aufgesetzt, wenn ihre Enkelin danach fragte. Nur wenige Jahre später war ihre Großmutter dann – für Vyktoryas Empfinden – viel zu früh verstorben und hatte das Mädchen mit vielen Fragen über das Leben und einsam zurückgelassen. Ihre Eltern waren damals schon längst den Orgien und dem Opium verfallen und Vyktorya hatte beschlossen, nie wieder jemanden in ihr Herz zu lassen. Niemand mehr, der sie allein lassen konnte. Niemand, der sie verletzen konnte. Jahre später – inzwischen waren ihre Eltern längst durch Vyktoryas eigene Hand gestorben - musste sie mit 16 Jahren aus politischen Gründen heiraten, sie hätte sonst das Anrecht auf den Titel ihrer Grafschaft verloren, da sie noch nicht volljährig war. Ein seltendämliches Gesetz, doch so war es nun mal. Damals hatte sie zum ersten Mal seit langem erneut wieder an die Worte ihrer Großmutter gedacht. Ein Kleid, nur für den Mann des Herzens. Noch immer wusste sie nicht, was ihre Großmutter damit meinte. Was hatte ein Mann mit einem Kleid zu tun? Aber diese Worte fühlten sich dennoch an, wie ein Wunsch. Ein Wunsch dieser alten Frau, welche Vyktorya als Kind vergöttert hatte. Die Frau, die sie zumindest bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr großzog und wohl die einzige Person, die diesem kleinen Mädchen damals Liebe und Wärme entgegenbrachte. Also hatte Vyktorya weder zu dieser Hochzeit noch zu ihrer zweiten Hochzeit, wenige Jahre später mit Radu Ibranov das Kleid ihrer Großmutter getragen. Wenn Vyktorya ehrlich war, wusste sie nicht mehr, was aus ihren alten Brautkleidern wurde. Im besten Falle hatte sie diese selbst verbrannt. Aber sicher war sie sich da nicht mehr. Es gab eine Zeit in ihrem Leben, die in einem dunklen Nebel lag, die Zeit, in der sie sich ausschließlich ihrer Magie widmete und dabei auch förmlich über Leichen ging.

Erst heute. Jetzt, wo sie vor dieser alten Truhe saß, verstand Vyktorya die Worte ihrer Großmutter. Jetzt, Jahre… fast Jahrzehnte später begriff sie die Bedeutung und die Tiefe. Nun, wo sie ihr Herz und ihren Geist wieder geöffnet hatte, für die Einflüsse von Gefühlen. Diese… vermaledeiten Gefühle. Die dafür sorgten, dass sie wütend wurde, schrie, tobte und wütete… traurig wurde und gar Weinen wollte. Dass ihr Herz schmerzte und Ängste in ihr hochkamen, die sie zuletzt als Kind spürte.
Und daran war nur dieser eine Mann schuld. Der Mann ihres Herzens.

Und nur deshalb saß sie hier und zögerte. Schließlich atmete sie tief durch und öffnete die Truhe vorsichtig. Dort lag es noch immer. Das weiße Seidenkleid. Es wirkte, als läge es noch haargenau so, wie sie es einst, vor so vielen Jahren, hineingelegt hatte. Sanft hob sie es heraus und trat damit vor dem Zimmerhohen Spiegel neben dem Kamin, um es sich an den Körper zu halten. Ja. Dies war das Kleid, in dem sie die einzig wahre Hochzeit ihres Lebens feierte. Jene, die ein wahrer Bund des Lebens werden würde. Ein kurzes Schmunzeln zuckte um ihre Lippen. Und dennoch, würde auch dieser Ehemann nicht lebend aus dieser Ehe hervorgehen. Denn er war bereits tot. Welch Ironie.
Und noch ironischer war, dass auch diese Hochzeit im Grunde nur deshalb stattfand, weil es ein politisch hervorragender Schachzug ist. Zwar hatte Vyktorya schon Wochen zuvor zum ersten Mal angesprochen, dass es sinnvoll wäre, die Beziehung durch eine Heirat öffentlich zu machen. Es war schon öfter vorgekommen, dass Menschen überrascht waren, wenn sie von ihrer Beziehung zueinander erfuhren. Das hatte Vyktorya geärgert. Doch nun Nägel mit Köpfen zu machen war im Grunde dem Besuch der Paladine zu verdanken. Um die Beziehungen zu Silberburg weiter zu festigen und ‚den guten Willen der Nekromantin zu zeigen‘, schlugen Rorek und Vyktorya vor, den Bund der Ehe unter dem Dach des Herrn zu besiegeln. Und welch Wunder – das hatte diese Bande von fanatischen Lichtspechten doch wirklich besänftigt! Unfassbar.

Aber auch wenn das ein fader Beigeschmack war. Es änderte nichts daran, dass es diesmal anders war… völlig anders… wo sie zu ihren ersten Hochzeiten schlichtweg froh war, wenn alles vorbei war, hatte sie nun… Angst. Ja, sie war seit dem Moment, als Glaris ihr bestätigt hatte, dass man sie in Silberburg trauen würde, unglaublich nervös und wann immer die Hochzeit offen angesprochen wurde, drehte sich ihr förmlich der Magen um. Aber da musste sie durch und sie wollte es auch. Und es gab noch viel zu tun…

 
Etwas Neues
Das Kleid mit den passenden Schuhen und Handschuhen hatte sie zunächst in Drachdea gelassen. Wenn sie schon Rorek ehelichen wollte, dann wenigstens mit allen Traditionen und Schnickschnack. Er würde das Kleid also erst bei der Hochzeit zu Gesicht bekommen – natürlich idealerweise mit ihr darin. Doch ein Kleid allein machte sie wohl kaum zu einer Braut, nicht wahr? Ein Blumenstrauß, ein Haarkranz, Schuhe… es fiel ihr nicht schwer das passende auszusuchen, ihre Vorstellungen waren dabei sehr genau.
Die Blumen für ihren Strauß und das Haar zog sie im Garten selbst. Es würde auch kein typischer Strauß aus Rosen sein. Nein. Sie würde schlichtweg ein Gesteck aus Lavendel tragen – sowohl in der Hand wie auch auf dem Haupt.

Sie brauchte außerdem Seide. Viel Seide...
Neben einem Paar Schuhe träumte sie von einem seidigen Umhang, statt einem Schleier. Also machte sie sich daran Seide zu kaufen und zu suchen. Den passenden Schnitt besaß sie bereits. Nun musste sie nur noch alles miteinander verarbeiten und den perfekt abgestimmten Farbton zum Kleid finden.
Etwas „Geliehenes“
Perlenohrringe. Sie waren wunderschön: drei Perlen, die in einer Reihe vom Ohrläppchen herabbaumelten, während die allerletzte Perle an eine kleine Träne erinnerte. Perfekt.
Einziges Problem: Es waren nicht ihre.
Hm.
Vyktorya beobachtete die aufgetakelte Gräfin missbilligend. Beim Äther, wie sie diese Frau missachtete.

Gräfin Aleksandra Revinjic von Ravnjiek.

Sie war die Herrin über die Grafschaft Ravnjiek und damit ein Teil des vereinten Rates Dracheas. Und eine derjenigen Schabracken, die ihr in der Vergangenheit Unmengen Ärger einbrachten. Aleksandra war im gleichen Alter, wie Vyktorya, sah jedoch um viele Jahre älter aus – und das nicht nur, weil Vyktorya unsterblich war und damit nicht alterte. Auch sonst sah die Frau, eigentlich Mitte bis Ende Dreisig, aus, als nähere sie sich schon stark der Mitte Fünfzig: Falten, die sie mit Unmengen an Puder und Rouge zu verdecken versuchte, einige viele Pfund zu viel auf den Rippen und damit mit einem Doppelkinn gesegnet, welches dafür sorgte, dass praktisch keinerlei Hals vorhanden war. Die Perlenkette mit dem Siegel der Grafschaft Ranvnjiek schnitt einfach schlicht in irgendeine der unzähligen Fettschichten ein – ob nun Hals oder Kinn – das wusste vermutlich, wenn überhaupt nur die Trägerin. Dementsprechend sprengte der Busen auch das Dekolleté der Gräfin und das Mieder knarzte und ächzte unter der Belastung. Genau wie das zierliche Sofa, auf dem Madame Hof hielt. Das Kleid war geschmacklos, das Schweinchenpink mit den übergroßen Rüschen war schlichtweg unvorteilhaft und ließ die Gräfin noch mehr einem solchen Tier ähneln.
Abscheu kroch in Vyktorya hoch. Sie hasste diese Anlässe. Sie hatte es unter anderem Aleksandras Eltern zu verdanken, dass sie damals jung verheiratet wurde. Auch die zweite Heirat war mitunter durch den Druck der Revinjics auf den Rat entstanden. Und Aleksandra das kleine verdammte Biest hatte Vyktoryas Kindheit ebenfalls nicht angenehmer gemacht. Und heute hockte dieses Schweinchen hier und war umringt von all den anderen Gräfinnen, Baroninnen und anderem Geschmeiß der Adelswelt. Ja, es war einer der wenigen Momente, wo sie die Abneigung der Crew nur allzu gut verstand. Aber es war eine Pflichtveranstaltung. Vyktorya war aufgrund ihres Titels, den sie vor einigen Jahren wieder für sich beansprucht hatte, ebenfalls Mitglied des Rates, weshalb sie regelmäßig an diesen Teekränzchen, Bällen und sonstigen illustren Runden teilnehmen musste. Sie versuchte es zu vermeiden, wo sie konnte, doch sie musste auch genügend Präsenz zeigen, um ihren Respekt und Anspruch nicht zu verspielen.

Also stand sie es zähneknirschend durch. Zum Glück war Rorek stets an ihrer Seite. So war es auch heute seine beruhigende Hand auf ihrem Unterarm, als er spürte, wie das grunzende Lachen der Gräfin ihre Wut noch steigerte. Und ja… diese Frau mit der Schweinchenfigur, im Schweinchenrosa Kleid lachte in Grunzlauten wie… ein Schwein. Manche Menschen waren wirklich gestraft, doch diese Frau bemerkte das noch nicht einmal… Im Gegenteil. Das hätte sie schon fast sympathisch gemacht, wäre sie nicht aus tausend anderen Gründen eine hinterlistige, verachtenswerte Person.

Wann immer Aleksandra konnte, hatte sie ihre Giftpfeile in Vyktoryas Richtung abgeschossen, schon in Kindsheitstagen hatte sie sich vor allen profiliert und bei jeder Gelegenheit Vyktorya ausmanövriert, wo sie nur konnte. Die Alvlems und die Ravnjieks waren sich seit Generationen nicht grün. Woher das kam… Vyktorya wusste es nicht. Ihre Großmutter hatte es ihr nie erzählt und ihre Eltern hatte sie nicht gefragt. Wie auch… in ihrem Delirium hätten sie die Frage ohnehin nicht mitbekommen.
Und genau das war eine der Wunden, die Aleksandra immer wieder aufriss. Vyktorya hatte es wirklich versucht sich als Kind mit diesem schon damals etwas molligen Mädchen anzufreunden. Blauäugig und nichts von der seltsamen Fehde ahnend. Das Ergebnis war, dass Aleksandra die Gelegenheiten für Besuche im Anwesen der Alvlems dafür nutzte, um aufzuspüren, wie es dort zuging. Vyktoryas Eltern waren dabei zugegeben nicht wirklich hilfreich, interessierte es sie doch nicht, dass ein junges Mädchen mitsamt Hofstaat im Haus zu Besuch war. Die Orgien wurden dennoch gefeiert und Rituale bis zur Extase abgehalten. Der Geruch von Opium und anderen sehr eindeutigen Düften entging weder Aleksandra noch deren Diener – die damit noch mehr anfangen konnten, als vermutlich das Mädchen selbst. Doch es war dieses verdammte Schweinchen-Gör, welches es ihren Eltern brühwarm berichtete und diese die Missstände im Hause Alvlem natürlich im Rat breittraten.

Noch heute war Vyktorya davon überzeugt, dass diese Sache mit unter dazu führte, dass ihre Großmutter so früh verstarb. Ihre Eltern scherten sich natürlich keinen Deut um das, was im Rat gesprochen wurde. Ihre Großmutter jedoch schon. Doch für die alte Dame war es ein Kampf gegen Windmühlen – sowohl im eigenen Hause wie auch im Rat. Irgendwann gab sie auf. Im wahrsten Sinne. Ihr Herz versagte eines Tages einfach so. Im Morgengrauen hatte Vyktorya sie gefunden. Nachdem alte Gräfin Alvlem am Vorabend von einer weiteren, hitzigen Ratssitzung zurückgekehrt war.

Das waren nur ein paar der Dinge, die sie der Schweine-Gräfin niemals vergeben konnte. Und heute Abend sollte Aleksandra ihr Schicksal besiegeln:
„Habt ihr die Alvlem wieder gesehen? Unfassbar… dass sie sich nicht schämt, mit diesem Lumpenkerl aufzukreuzen. Er soll nicht einmal adlig sein. Irgendein Streuner… wo sie den wohl aufgelesen hat? Aber der Apfel fällt ja nicht weit vom Stamm… ihre Mutter war da ja nicht besser und wo das hingeführt hat, wissen wir ja. Ich hab gehört, dass sie es inzwischen wie ihre Alten Herren hält… und noch schlimmer! Und mal ehrlich… glaubt ihr wirklich diese Sache mit der Inquisition? Bestochen wird sie sie haben… oder noch schlimmeres… wer weiß.“
Natürlich war sich Aleksandra sehr wohl bewusst, dass Vyktorya mithörte – nicht nur, weil sie ein feines Gehör hatte, sondern weil sie keine fünf Schritte entfernt von dieser Traube aus aufgetakelten, alternden Matronen stand und sich krampfhaft an einem Glas Wein festhielt.

„Beruhige dich, Liebes.“, raunte Rorek über ihre geistige Verbindung und versuchte sie zu beruhigen. Doch es war zu viel. Dank den Umständen, dass sie wieder Gefühle zugelassen hatte, war auch die Wut, der Hass und die inneren Verletzungen zurückgekehrt und die chaotischen Tage während und nach Rax‘ Entführung hatten ihre Gefühlswelt noch immer nicht los gelassen. Im Gegenteil. Vyktorya kochte innerlich.Aber für den Moment tat sie Rorek den Gefallen. Sie beruhigte sich. Tief atmete sie durch und blieb stoisch stehen, während sie mit einem anderen Ratsmitglied, welches ihr wohler gesonnen war, über die hiesige Politik philosophierte. Aber das Ende des Abends würde kommen. Sehr bald. Und die Nacht war noch immer lang genug, um ein Kapitel in ihrem Leben zu beenden.
Einige Stunden später, kurz vor Morgengrauen.

Das Zimmer der Gräfin von Ravnjiek.

Ächzend schnürte sie das Mieder auf und schnaufte tief, als die Corsage ihren Speck freiließ und ihr Rücken sich gepeinigt unter der Last krümmte. Angetrunken und bester Laune wankte sie zu ihrem Schminktisch und ließ sich auf das Hockerchen davor plumpsen. Es knarzte bedächtig, hielt jedoch. Das kümmerte die Gräfin jedoch nicht. Grinsend starrte sie ihrem eigenen Gesicht entgegen. „Aleksandra, Aleksandra, du schlaues Ding. Ha! Du hast es immer noch drauf…“, knödelte sie lallend ihrem Spiegelbild entgegen. Doch dann zuckte sie zusammen und ihr Kopf ruckte herum, soweit das Fett es eben zuließen und die Schweinsäuglein starrten irritiert ins Halbdunkel des Zimmers. Hatte sie nicht eben eine Bewegung im Spiegel gesehen? Hm… „Ist da jemand?“, fragte sie nuschelnd und blinzelte ein paar Mal. Doch lediglich das Ticken der Kuckucksuhr in der Ecke antwortete ihr. Das letzte Glas Wein war wohl doch zu viel. Sie gluckste kurz und wandte sich wieder ihrem Spiegelbild zu. Nur um sofort ein spitzes Quieken auszustoßen, welches sofort von einer eiskalten Hand auf ihrem Mund erstickt wurde. Lavendelfarbene Augen in einem leichenblassen Gesicht, umrahmt von silbrigblondem Haar starrten ihr entgegen. Helle, spitze Zähne blitzten auf, als die Gestalt sich von hinten zu ihr herabbeugte. „Zeit für die Schlachtbank, mein Ferkelchen.“, die Stimme war eisig und Angst kroch in Aleksandra hoch. Sie wollte sich wehren, sich losreißen, ihre feiste Hand hob sich bereits, um nach einem der spitzen Haarnadeln auf ihrem Tischchen zu greifen. Doch da wurde ihr Kopf bereits herumgerissen. Sie hörte weder das Knacken noch spürte sie wie ihre Halswirbel brachen. Es… endete einfach und Stille und Dunkelheit empfingen sie.

Leidenschaftslos starrte Vyktorya auf den Fleischberg, der in sich zusammensank. Sie trank nicht von ihr. Allein der Gedanke widerte sie an. Vorsichtig rückte sie den leicht verdrehten Kopf wieder zurecht, so dass er nicht mehr unnatürlich von der Halswirbelsäule abstand. Wenn der Hausarzt der Grafen von Ravnjiek sein Geld wert war, würde er es dennoch bemerken. Ansonsten… nun, bei dem Gewicht und der Lebensart dieser Frau, wäre ein Früher Tod durch Herzversagen kein Wunder. Doch selbst wenn jemand auf sie schließen würde – das sollte ihr erst einmal jemand beweisen. Das Zimmer der Gräfin war verschlossen, eine Wache stand davor und das Zimmer lag im Dritten Stock der Villa, in der die heutigen Feierlichkeiten stattfand. Außerdem hatte man sie und Rorek kurze Zeit davor mit einer Kutsche gemeinsam mit einem weiteren Ratsmitglied aufbrechen sehen. Der Ratsmann würde Stein und Bein schwören, dass sie ihn in seine Villa begleitet hatten und sie noch bis kurz nach Morgengrauen gemeinsam tranken.
Dass er tatsächlich für einige Zeit nur mit Rorek allein trank, während Vyktorya dank ihrer Magie und den Schatten zurückkehrte… nun… davon wusste der gute arme Mann natürlich nichts und niemand würde es je erfahren.

Somit blieb der Tod der Frau ein Rätsel – oder eben ein tragisches Schicksal. Lediglich die Perlenohrringe wurden vermisst. Diese ruhten derweil in einem kleinen, unscheinbaren Beutel zwischen einigen Reagenzien an Vyktoryas Gürtel. Diese „Leihgabe“ würde ihre Hochzeitsgarderobe sicher trefflich abrunden.
 
Etwas Rotes

Jetzt fehlte eigentlich nur noch eine Kleinigkeit. Und das besaß sie bereits: Strümpfe.
Der eigentliche Brauch sah vor, dass man etwas Blaues zur Hochzeit trug, was für Liebe und Treue stand. Vyktorya mochte dieses Klischee nicht, außerdem hatten sie und Rorek ein eigenes Zeichen für Liebe und Treue: Ihre geistige Verbindung. Nichts konnte diese Tiefe der Verbindung auch nur ansatzweise widerspiegeln.
Nein, sie würde aus der Reihe tanzen. Allein, weil sie selbst die Farbe Blau nicht mochte. Sie würde eine Farbe wählen, die ihre und Roreks Existenz prägte, die überhaupt den Grundstein für ihre Geistige Verbindung symbolisierte: Blutrot.
Es dauerte nicht lange, bis sie das perfekte Rot zusammengestellt hatte und ihre Seidenstrümpfe darin färbte. Rorek würde sie lieben. Und er wäre schließlich auch der Einzige, der sie zu Gesicht bekam.


 
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