Ruf nach Leere

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Jin
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Registriert: 13 Mai 2019, 23:25

Ruf nach Leere

Beitrag von Jin »

Ruf nach Leere

Unruhig zehrten die Flammen am knarrenden Holz in einer von Hand ausgegraben Vertiefung, fernab von jeglichen Städten. Im fahlen Lichtschimmer der Flammen saß ein älter wirkender Mann auf einem umgestürzten, maroden Baumstumpf. In seiner Hand hielt er einen Dolch, welchen er dazu verwendete, um an einem dünnen Ast eine Spitze zu schnitzen. Auf der anderen Seite des Lagerfeuers erfüllte ein mageres und immer wieder erklingendes Winseln die tiefe Nacht. Fünf Knaben knieten in verschmutzten, ehemals weißen Roben vor dem Feuer. Ihre dünnen Hälse schmückten Ketten mit einem goldenen Ankh. Jeder von ihnen trug eiserne Handfesseln, die mit einer Metallstange präpariert waren, um jeden Einzelnen mit den anderen zu verbinden und einen Ausbruch im Kollektiv zu erschweren.

„Haltet – verdammt nochmal – eure gierigen Mäuler, ihr elendigen Maden. Eure Mütter werden nicht kommen, um euch zu befreien! Aber hofft nur weiter… hofft nur. Vielleicht erhört euer geliebter Schlangenvater dort oben eure Gebete, euer Winseln. Ich werde mir Zeit für ihn nehmen, ihm Qualen zuzufügen, die ihn wünschen lassen, nie geboren worden zu sein“
brachte der alte Mann in einem gebrochenen südländischen Dialekt hervor und stocherte mit dem präparierten Stock in der Erde vor dem Lagerfeuer herum.

„Oder ist euch vielleicht langweilig? Soll ich einigen von euch bereits jetzt das Leben nehmen, auf dass eure Brüder eure leblosen Körper tragen müssen, bis wir an unser Ziel kommen? Na, sagt nur, wer möchte hier und jetzt sein Leben lassen?! Es wäre mir ein Vergnügen und würde meine Laune erheitern, die Reise sofort fortzuführen… Nein? Wie schade, vielleicht ändert ihr später noch eure Meinung…“
Unter einem Knurren warf der alte Mann seinen Stock in die Flammen. Nach wenigen Wimpernschlägen der Ruhe begannen die Flammen, mit einem trockenen Knistern, eben jenen Stock in ihren engeren Brandkreis mit aufzunehmen.

Unruhig tippelte der alte Aufseher an seiner um die Hüfte gebundenen Schwertscheide.

„Ach, ich weiß was ich tun kann, um euch die Langeweile aus dem Kopf zu treiben. Eine vermaledeite Geschichte, wie sie Mütter ihren Kindern vorlesen, wenn sie endlich einschlafen sollen. Diese wird ein wenig anders. Wer mir nicht zuhört, dem werde ich einen Finger abtrennen… oder vielleicht zwei? Das überlege ich mir dann spontan. Also... diese Geschichte soll einst vor Jahren oder gar Jahrzehnten vorgefallen sein. Wer weiß das schon so genau? Die Geschichte handelt von einem jungen Mädchen, das einst unter dem Namen Genevieve bekannt war; Genevieve de Molay…“
  

Es war einmal…

  
in einem dunklen Kellergewölbe des Klostergeländes der Dienerschaft. Es herrschte Stille, dann Geschrei und dann wieder eine gefühlte Ewigkeit der Stille.

Doch Stille ist eine Saat, die brechen und keimen möchte, eine Frucht.

So kam der Tag, an dem diese Stille zu keimen begann. Es war der Tag, an dem die junge Dame de Molay unfreiwillig dieses Gewölbe betrat. Es war jener Tag, welchen die rote Priesterin auserkoren hatte, eine Zelle mit frischem Leben zu füllen. Flüche und auch wüstere Ausrufe dominierten über Wochen hinweg die Klänge des Gewölbes.

Wer in seiner Vergangenheit bereits den Namen de Molay vernahm, wird sich natürlich fragen, was eine Angehörige der Familie de Molay in Nalveroth zu suchen hatte, oder?

Nun, Genevieve war natürlich nicht freiwillig dort, sie war damals eine einfältige, gutherzige Person gewesen, die ihr Vertrauen in eben jenen Tagen in eine fremde Person setzte. Eben jene hatte sie an diesen Ort geführt und ihr Schicksal gezeichnet.

Aber ich schweife vom Kern dieser Geschichte ab…

Wie es in einer dunklen Zelle so ist, bei der kein Sonnen- oder Mondlicht eintritt, so vergisst der Mensch schnell seinen Lebensrhythmus: Aufstehen, wenn die Sonne den Horizont erweicht und schlafen gehen, wenn die Decke der Dunkelheit sich über die Welt legt. So erging es auch Genevieve, die schon nach wenigen Tagen nicht mehr wahrnehmen konnte, ob es nun Tag oder Nacht war. Lediglich Temperaturschwankungen, die in der Wüste nicht selten sind, dienten ihr noch als eine vage Richtlinie. Bei Nacht fröstelte sie ein wenig und bei Tag war es annehmbar, aber dennoch kühl. Die dicken Sandsteinmauern dämmten die Temperaturen ab.

Die hin und wieder angereichten Speisen, welche von trockenem Brot bis hin zu Fleisch reichten, hielten ihren Körper zumindest einigermaßen beschäftigt. Doch man spricht auch davon, dass das junge Mädchen an manchen Tagen gar wie ein magerer Hofhund nach Essen bettelte. Sie erschien schwach und unwürdig, doch sie lebte.

Tage und Nächte zogen über die Wüstenstadt Nalveroth vorüber. Die Welt bewegte sich weiter. Nur die Bewegungen Genevieves blieben stehen. Die einstige Stille kehrte in den Kerker zurück. Die Flüche und Beschimpfungen verebbten und drehten der reinen Existenz dieses jungen Lebens ihren Rücken zu. Erst als jene Ruhe einkehrte, schien es so, als würde die rote Priesterin ihr brutales Interesse an jenem jungen Leben befriedigen. Folter und Verstümmelung kehrten in die Gewölbe ein. In manchen Erzählungen sagt man sich, dass die Priesterin veranlasst hatte, der jungen Frau die Fruchtbarkeit zu nehmen. Oder hatte die Priesterin gar selbst Hand angelegt?

So fand man eines Abends die Zelle, in welcher Genevieve ruhte, und alles darin mit Blut verschmiert; der Boden, die Kleidung und selbst die dreckige Haut der Frau. Zwar musste man ihren Leib am darauffolgenden Tag reinigen und pflegen, doch Genevieve lebte erstaunlicherweise weiter und erholte sich.

Niemand weiß, ob dies der Wahrheit entspricht. Vielleicht wusste es Genevieve sogar selbst nicht? Doch den Schmerz und den Stress, den musste sie spüren. Ein Leid, welches garantiert schwerwiegender war, als ein läppischer abgetrennter Finger es je hätte sein können. Ihre angestaute Wut, ihr Hass und ihre Verzweiflung mussten gewaltig gewesen sein.

Neben den Verstümmelungen wurde sie ebenso hin und wieder zur Arbeit gezwungen. An Ketten geführt wurde sie wie ein Hund von der Priesterin oder ihren Schergen zur Arbeit gebracht. Erze sollte sie schürfen, um die Langeweile und die müden Knochen zu bekämpfen. Auch wenn das junge Ding geschwächt war, vollzog sie ihren Dienst. In weit abgelegenen Höhlen, fernab jeglicher Städte, schwang sie eine Picke, um einfache Erze aus dem steinigen Boden zu schlagen. Bis zum Anbruch des Mondes verbrachten beide die Tage oftmals in eben jenen Höhlen, bis zumindest Genevieve schweißgebadet wieder in ihre Zelle gesteckt wurde.

Es soll sogar einen Vorfall gegeben haben, bei dem die Gefangene es sogar beinahe geschafft habe, bei einem dieser Ausflüge zu flüchten. Ein Angriff von Ungeheuern soll sowohl die Priesterin als auch eine Wache abgelenkt haben. Die junge de Molay sei dabei mehr oder weniger geflüchtet, um dennoch wieder zur Priesterin zurückzukehren, als die Luft rein vom Wesensgestank war. Entweder war sie ungeheuerlich dumm oder verdammt schlau.

Vielleicht kommt ihr ja auf die glorreiche Idee, weshalb sie nicht geflohen ist. Oder viel eher... warum flieht ihr nicht? Wenn ich schlafe, hättet ihr gemeinsam eine Gelegenheit dafür. Ihr seid bloß gemeinsam an eine Stange befestigt. Gar nicht so schlimm, oder? Ach… ich vergaß, der Wald. Der wird natürlich etwas schwerer zu bewältigen sein, wenn keiner von euch überhaupt einen blassen Schimmer hat, wohin er eigentlich laufen muss.
Seid euch aber gewiss… Ich werde euch einholen und euch bestrafen. Ein verlorener Finger wird da eure kleinste Sorge sein.

Dahingehend habt ihr etwas gemeinsam mit der jungen Dame aus der Geschichte. Denn wie auch ihr, kannte sie die Wege nicht, außerdem hätte eine Kette ihre Flucht nur behindert. Die Priesterin hätte die junge Frau mit Sicherheit eingeholt und bestraft.

Mit der Zeit, in der sie einsam in ihrer Zelle war, begann die junge Frau, sich an ihre Situation anzupassen. Bestimmt dachte sie noch darüber nach, ob ihre Familie ihre Abwesenheit bemerkte. Denn sicherlich könnte ihr Fernbleiben auch ein Anzeichen dafür sein, dass sie auf eine Reise hätte aufgebrochen sein können.

Genevieve hatte sich damit abgefunden, dass sie niemand aus den Krallen der roten Priesterin befreien könnte. Sie hatte nur die Wahl, ihr Schicksal anzunehmen oder aufzugeben und ihrem erbärmlichen Leben ein Ende zu machen. Die Möglichkeiten dazu hätte sie. Doch denkt ihr, ich würde euch diese Geschichte erzählen, hätte sie sich für den letzteren Weg entschieden?

Oh nein, ihr Blagen. Es kam alles ganz anders.

Eines Abends empfing die junge de Molay den Besuch der Priesterin Lamont, welche ihr frische Kleidung brachte. Aufgewühlt vor Freude, vielleicht wieder an die Oberfläche zu dürfen und wenn es sein musste, die Picke zu schwingen, zog sie sich um. Zu diesem gewünschten Ausflug kam es allerdings nicht, denn die Priesterin hatte andere Pläne getroffen.
Die gewohnte Eisenkette an ihrem Leib befestigt, wurde Genevieve nicht die bekannte Treppe hinaufgeführt. Ihr Ziel sollte eine Kammer sein, die viel tiefer im Gewölbe des Klosters erbaut wurde. Dort angekommen begannen Torturen, die einem Höllenfeuer gleichkamen. Qualen, die ihr euch nicht ausmalen wollt und ja, auch die junge Genevieve hatte damit zu kämpfen. Sie kämpfte um ihr Leben. Manche Stimmen behaupten, sie hätte den Kampf verloren, andere wiederum erzählen davon, dass sie danach nicht mehr dieselbe Person war. Ich habe es nur gehört, doch vielleicht bekommt ihr die Möglichkeit, die junge de Molay selbst zu fragen?

Aber nun ruht. Um jene, die jedoch gerade dem Traumland zu nahe waren, werde ich mich morgen bei unserer Abreise kümmern. Vielleicht werde ich euch noch ein paar Geschichten erzählen können, bevor ich euch an die Dienerschaft des einzig wahren Gottes übergebe.


Am nächsten Morgen, als die ersten wärmenden Sonnenstrahlen das Firmament in ein mildes Orange färbten, war die Gefangenenkarawane bereits aufgebrochen. Die Kohlereste in der Lagerfeuerausgrabung knisterten noch eine Weile und auf dem morschen Baumstamm, auf dem der alte Mann am vergangenen Abend noch ruhte, lagen vier grob abgetrennte Finger. In wenigen Stunden werden die wilden Tiere des Waldes das noch warme Blut wittern und das Fleisch samt Knochen verspeist haben.
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