Die Totenebene – der Äther
Ihr Blick glitt ein letztes Mal zu Rorek hinüber und traf den seinen. In seinen grünen Augen lag all das, was sie ebenfalls spürte: die wahnsinnige Angst vor der Ungewissheit, ob sie diesen Irrsinn überhaupt überleben würden, aber gleichzeitig der Entschluss, dass es keine andere Möglichkeit gab. Und ein Zurück gab es jetzt ohnehin nicht mehr. Die sonst eher gefühlsfreie Ritualistin schluckte schwer, rang die Panik nieder und schloss die Augen, während sie ihren Stab fest mit der rechten Hand umklammerte und die Kanten Ihres Seelenhüteramuletts in ihre Linke schnitten. Der Moment der Wahrheit war gekommen. Würde es überhaupt funktionieren? Im schlimmsten Fall würden sie sich für einige Minuten lächerlich machen und dann versuchen sich gemeinsam mit den anderen Kämpfern zu retten. Aber… wenn das hier nicht funktionierte – was dann? Sie konnten keine anderen Magier diesbezüglich um Hilfe bitten… denn sie kannten weder Astralmagier noch Nekromanten die entsprechende Macht besaßen… und ihre Schüler? Es war schlimm genug, dass sie überhaupt in dieser Gefahr schwebten… Nein… es musste funktionieren. Sie sah über die Barriere hinweg, wie Roreks Schultern sich strafften und hörte förmlich sein leises, resigniertes Seufzen. Ja, er war zum selben Schluss gekommen, das konnte sie in seinen Gedanken hören und spüren. Ein letztes Mal öffnete sie ihm ihren Geist, doch sandte sie keine Worte, sondern lediglich das, was sie fühlte und er verstand. Erwiderte es. Und dann konzentrierte sie sich, um das Ritual durchzuführen. Die Reise in die andere Ebene.
„KAL VAS ORT POR!“
So simpel… so einfach… ein Rückrufzauber… und die markierten Runen waren ihre Stäbe, die mit den Ebenen verbunden waren… fast schon so simpel, dass sie beide gelacht hatten, als sie darauf kamen. Für ein Portal waren sie womöglich nicht stark genug… und die Gefahr zu groß, dass ihnen jemand entgegen ihrer Anweisungen folgte und dabei starb. Zu ihren Füßen hatten sie den Kometenstaub verteilt und ihn zum Teil mit den Kräutern des Rituals vermischt. Er sollte dazu dienen, dass sie nicht irgendwo in den Ebenen ausgespuckt wurden, sondern möglichst in der Nähe des Ursprungs dieses Meteoritendämons.
Sie hatte kaum den Zauber ausgesprochen, die Worte waren noch nicht einmal richtig verklungen, da spürte sie schon den typischen Sog in der Magengegend, als der Rückrufzauber begann zu wirken. Doch dieser Sorg war… anders… stärker… es war schmerzhaft. In einem Moment sah sie noch die blutrote Barriere des Wesens vor sich, dahinter die schemenhafte Gestalt Roreks und in den Augenwinkel all jene, die sie zu diesem selbstmörderischen Unterfangen begleitet hatten…
Dann umfingen sie bereits die Energien des Totenreichs und sie spürte den Wirbel an Macht, der an ihrer irdischen Gestalt und an ihrem Geist zerrte. Ihr letzter Gedanke galt dem blonden Magier, welche dasselbe nur wenige Meter neben ihr tat. Und dann… war da nur Stille. In ihrem Geist und ringsum. Und sie war förmlich ohrenbetäubend. Auch konnte sie ihren Stab, den sie wenige Augenblicke zuvor noch in der Hand gehalten hatte nicht mehr spüren. Dort wo sie eigentlich die Verbindung zu ihrem Stab in ihrem Geist erfassen konnte herrschte ebenso eine Leere und Stille. Die Verbindung war zerbrochen und sie hatte keine Ahnung was mit dem Stab geschehen war. Fakt war: Er war fort.
Sie schlug die Augen auf und ließ den Blick wandern. Es war… atemberaubend und unbeschreiblich. Schön und abstoßend zugleich. Vor ihr erstreckte sich eine Landschaft und gleichzeitig lediglich nur ein kleiner Raum… ein Tal und doch auch wieder eine flache Ebene… gezeichnet von Licht, Dunkelheit… Weiß, Schwarz und Grautönen. Schimmernden Irrlichtern, die sich um dunkle Ranken bewegten. Bäume, die aber doch nur Schatten waren. Wind zerrte wild an ihren Kleidern, doch kein Ton drang an ihr Ohr, weder das Heulen des Windes, noch das Flattern ihrer Kleider. Nichts war da. Und dort, wo die Verbindung zu Rorek in ihrem Geist saß, klaffte lediglich ein leeres Loch. Ihre Verbindung zur Materiellen Ebene war abgeschnitten. Erneut musste sie die Panik niederringen und die Gewissheit verdrängen, dass sie auch unter Umständen nie wieder zurückkehren konnte.
Hier war es weder warm noch kalt. Weder Dunkel noch Hell. Dieses Gleichgewicht war betörend und Atemberaubend. Langsam setzte Vyktorya ihre Schritte vorwärts und sah sich um. Sie konnte sie überall spüren: die Seelen. Sie waren die Irrlichter, sie waren die Schatten, die Bäume, die grauen Grashalme am Boden… sie hatten hier keine Form. Kein Sein. Nichts, was man greifen konnte. Wie also sollte sie hier die Essenz des Meteor-Dämons finden, um seine Verbindung hierher zu vernichten?
Als hätte die Ebene ihre Frage gehört, bemerkte sie eine Bewegung links – oder doch rechts? – von sich. Sie wandte sich dort hin und sah diesen schlierenden schwarzgrauweißen Fleck. Erst ganz klein, doch während sie einen Schritt nach dem anderen in seine Richtung setzte, kam er näher – oder bewegte sich die Landschaft unter ihr? Es war so verwirrend… Und während sie sich näherte, wuchs dieser Fleck, zog sich erst in die Länge, dann in die Breite, wucherte wie ein Geschwür. Er hatte keine richtige Gestalt und doch wusste Vyktorya instinktiv, dass dies hier der Verbindungspunkt des Meteor-Wesens war. Doch wie sollte sie es vernichten? Wirkten ihre Zauber hier überhaupt?
„Rel Xen Corp!“, rief sie und ihre Stimme hallte gespenstisch durch die Stille. Sie spürte, wie sich die gefiederten Flügel aus ihrem Rückgrat brachen und wie sich die Proportionen ihres Körpers nur geringfügig änderten: ihr Körper wurde noch hagerer, die Wangen fielen ein und ihre Robe wurde zu einem grauen Schleier, der den Leib umflatterte. Gleichzeitig wurden die Konturen der Umgebung deutlicher und sie nahm die Nuancen der Seelen um sie herum noch deutlicher wahr. Und was sie dabei spürte, entsetzte sie: Diese Seelen, die hier eigentlich neutral und friedlich sein sollten, strahlten Angst, Abscheu und Hass aus! Angst und Abscheu vor diesem Geschwür… Hass auf diesen Eindringling… Und dort… Ihr entwich ein ungläubiger Laut, welcher in der Stille der Ebene verhallte. Dieses Geschwür wuchs, in dem es die Seelen ringsum an sich heran sog und… fraß! Oder was auch immer es mit ihnen tat… jedenfalls wurden sie in diese kaum greifbare Masse gezogen und verschwanden darin.
„NEIN!“, brüllte sie, als die Wut sie packte.
„NEIN!“ Die Schwingen weit ausbreitend, schoss sie voran auf dieses Wesen zu.
„VAS IN JUX!“ Sie schrie den Zauber förmlich und beobachtete, wie sich die Schattenmasse kurz krümmte, aber im nächsten Moment löste sich auch schon ein tentakelartiger Arm, welcher nach ihr Schlug und sie einfach zur Seite wischte, wie eine lästige Fliege.
„Öffne dich…“
Vyktorya versuchte noch die Orientierung zurück zu erlangen, nachdem sie irgendwo in der Ebene aufgeschlagen war. Verwirrt sah sie sich um, doch außer dem Geschwür, welches nun weiter entfernt war, konnte sie nichts Anderes entdecken.
„Öffne dich…!“
Sie blinzelte. Sie kannte diese Stimme.
„Jenaya…“, flüsterte sie leise. Der Äther selbst sprach zu ihr.
„Ja… ich bin bei dir… öffne dich für mich… ohne meine Hilfe schaffst du es nicht… und ohne dich… sind wir machtlos!“
Die Seelenhüterin dachte nicht lange nach, sondern öffnete ihren Geist und hatte noch kaum einen Spaltbreit ihre mentalen Barrieren gelöst, als sie bereits den brutalen Angriff spürte: eine Macht drang in ihren Geist ein und erfüllte sie. Sie konnte den Druck in ihrem Inneren spüren und fühlte, wie ihr Geist Risse bekam, wie das Glas eines Wasserbeckens. Erst ganz fein, doch je mehr Druck auf sie eindrang, desto größer wurden diese Risse. Sie schrie schmerzerfüllt auf, denn der Druck schien sie förmlich innerlich zerreißen zu wollen.
„Öffne dich!“, befahl die körperlose Stimme des Äthers erneut und Vyktorya krümmte sich wimmernd. Diese Wendung hatte sie nicht kommen sehen. Natürlich hatte sie geahnt… damit gerechnet, dass sie hier nicht lebend entkam. Aber sie hätte nie geglaubt, dass der Äther selbst ihr ein Ende bereiten würde, noch ehe sie den Aspekt des Elementars auf dieser Ebene vernichten konnte. Sie spürte wie ihre Wandlung zu brechen drohte. Federn, die aus ihren Flügeln ausfielen, wirbelten durch den Sturm auf der Ebene umher und zerstieben vor ihren Augen zu Staub.
„ÖFFNE DICH!“, kreischte die Stimme nun und Vyktorya schrie ebenfalls auf, als die Risse in ihrem Geist noch größer wurden. Sie hörte regelrecht das Knacken oder bildete sie es sich vielleicht nur ein? Waren es ihre Knochen, die dem Druck nicht standhielten? Konnte ein Geist ein Geräusch verursachen, wenn er gebrochen wurde? Was passierte hier? Sie versuchte ihre Gedanken gen Rorek zu lenken, rief sich sein Gesicht vor Augen und ein gequältes Schluchzen entrann ihrer Kehle. Erneut schrie sie, als nun Wut und Unwille gegen dieses unvermeidliche Ende in ihr aufstieg. Nein, sie würde diesen Aspekt töten… Sie schrie und ließ nun alle Barrieren sinken und schlug selbst geistig auf die letzten Bastionen ein, die nun endgültig zerbrachen, als sie die Kräfte des Äthers nun förmlich gierig in sich hineinsog. Wenn sie hier schon sterben würde, dann würde sie dieses Ding dort vorne mit sich reißen. Koste es was es wolle!
Mit einem weiteren Schrei richtete sie sich auf und spreizte die Flügel ab, was erneut einen Schwung Federn umher wirbeln ließ. Staub wirbelte um sie herum und der Wind der Ebene zerrte an ihrem Kleid, an den Flügeln, ihren Haaren, brannte in ihren Augen. Sie zitterte förmlich, als diese neue Macht sie durchströmte und sie spürte, dass nun alle Barrieren gebrochen waren. Doch die Macht, die sie erfüllte, war nicht die des Äthers, sondern ihre eigene. Der Äther… hatte lediglich dafür gesorgt, dass sie die letzten Barrieren um ihren Geist fortwischte und über sich hinauswuchs.
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Umgebung, während die Schmerzen in ihrem Geist langsam nachließen und die Wellen der Kraft durch sie durchströmten. Sie spürte wie die Magie ihres Blutes pochte und sich mit ihrer neuen Macht vermengte. Ihre Sinne schärften sich und sie nahm die Auren der Seelen umso deutlicher wahr und deren verzweifelten Hilferufe klangen so laut, als würden sie ihr direkt ins Ohr brüllen. Das Grau der Ebene erhielt noch weitere Nuancen, welche nun auch zart in die Farben eines Regenbogens chargierten, ganz so, als würde sie auf die Aura eines Menschen blicken, welche aus den Farben seiner Gefühle und seines ureigenen Charakters bestand.
Dann hob sie langsam die Arme und begann damit ihre Armee aufzubauen: ihre drei treuen Diener-Seelen kehrten unversehens zu ihr, um ihr beiseite zu stehen. Doch sie brauchte mehr… viel mehr… sie ließ ihren Blick wandern und entdeckte ganz in ihrer Nähe eine der wenigen Seelen, die dieses korrumpierte Ding noch nicht an sich gezogen hatte, ganz einfach weil sie geschickt seinen Tentakeln auswich und durch seine ätherische Form so schlüpfrig wie ein Aal war. Sie streckte die schlanke, fast knöchrige Hand in Richtung dieser Seele aus und flüsterte:
„Sei mein… diene mir… stehe mir in diesem Kampf bei…“ Die Seele schien inne zu halten, flirrte etwas näher und verharrte einige Momente, was Vyktorya als Zustimmung sah und schließlich rief:
„IN CORP XEN!“. Dieses körperlose, seelenhafte Ding flirrte erneut und das Grauweiß dieses eher nebelhaften Dinges veränderte sich in ein ätherisches grünviolett und Vyktorya spürte, wie sich ihr neuer, vierter Diener mit ihrem Geist verband. Sie lächelte zufrieden, doch es war noch immer nicht genug. Mehr. Sie brauchte mehr… Langsam wandte sie sich wieder ihrem Widersacher zu, welcher in der Zwischenzeit um fast die Hälfte angeschwollen war und noch immer alle Seelen die er greifen konnte, an sich raffte. Sie musste ihn aufhalten! Sie musste dafür sorgen, dass die Seelen zu ihr kamen, vor ihm flohen und bei ihr in Sicherheit waren… Später wusste sie selbst nicht, ob es reiner Instinkt war, oder ob Jenaya sie führte, als ihre Lippen den nächsten Zauber formten:
„KAL VAS CORP WIS XEN!“
Ihre Stimme wurde vom Wind der Totenebene verschluckt, welcher sich erneut tosend erhob und zu einem Wirbelsturm formte, kaum, dass die Worte verstummten. Hätte sie noch ein schlagendes Herz, würde es ihr nun in diesem Moment stehen bleiben, als sie sah, was nun geschah: Einige der Seelen, die das korrumpierte Wesen gegriffen hatte, wurden ihm entrissen und weitere, die sich hinter Vyktorya verborgen hatten, wurden von diesem Wirbelsturm erfasst und angezogen. Sie schrie leise auf. Nein! Was passierte hier? Das war doch nicht in ihrem Sinn! Sie wollte diese Seelen retten und nicht ihnen noch mehr schaden! Doch sie konnte nichts tun, sie war wie erstarrt, während sie zusah, wie die Seelen sich verformten, deren ätherischen Gestalten aus verschiedenen Farbschattierungen sich in diesem Wirbelsturm vermengten. Erst spät wurde ihr bewusst, dass die Hilfeschreie dieser Seelen verstummt waren. Tatsächlich… ertönte… Jubel? Sie starrte auf den Wirbel aus Farben, aus dem erst ein Jubelgeheul und dann ein regelrechtes Kriegsgeschrei ertönte. Der Wirbel formte sich aus… zog sich in die Länge, als würde der Sturm ihn neu formen… bis sich diese helle, nebelartige Gestalt manifestierte und sie aus dem, was sie für Augenhöhlen hielt, anstarrte. Nur langsam… sehr langsam wurde es ihr bewusst – oder war es der Äther, der ihr diese Erkenntnis eingab? – was sie gerade getan hatte: Sie hatte ein Seelenelementar beschworen. Aufregung durchströmte ihren Leib, vermengte sich mit ihrer pulsierenden Macht. Jetzt…. Jetzt war es genug.
„Vernichten wir es…“, raunte Vyktorya leise und wandte sich dem korrumpierten Seelenknoten zu.
„VAS CORP!“
Sie stürmte voran, gefolgt von ihren Wesen und beschwor Zauber nach dem anderen auf das groteske Geschwür aus korrumpierten Seelen. Dieser wand sich, schrie stumm in die Ebene hinaus und schlug und schleuderte seine Arme um sich. Doch es half ihm nichts. Immer weiter drang Vyktorya in die schwarzgraue Masse vor, bis sie das Herz des Wesens erreicht hatte. Ja… es besaß tatsächlich so etwas wie ein Herz. Ein Kern aus pulsierendem Gestein. Offenbar ein Abbild des Splitters hier auf der Totenebene. Von ihm gingen die schwarzen Fäden aus, welche das Wesen zusammenhielten, wie ein Spinnennetz, worin sich all die geschändeten Seelen verfangen hatten, um es zu stärken.
Wütend holte sie aus und schlug ihre Klauen in den Splitter.
„VAS“ Sie spürte, wie ihre Finger sich darum schlossen und ihn langsam zermalmten.
„JUX“ Zwischen den knöchernen Fingergliedern drang die Schwärze wie Teer hervor.
„REL“ Ihr Atem ging schneller, sie spürte die körperlichen und geistigen Schmerzen, die das Wesen ihr dabei zufügte, fühlte wie seine Schattenarme an ihren Flügeln rissen, wie ihre Diener verzweifelt versuchten dagegen anzugehen….
„MANI!“ Der Splitter zerplatzte in ihrer Hand und löste zugleich eine Druckwelle aus. All ihre Zauber wurden zerschlagen, selbst ihre Diener kreischten und flohen in die Tiefen des Äthers. Die Schwärze der Ebene umfing sie und ihr letzter Gedanke galt Rorek. „Ich hoffe… du lebst…“, dachte sie stumm, während eine andere Stimme in ihrem Geist leise und dankbar flüsterte:
„Danke… Seelenhüterin.“
Das nächste was Vyktorya sah, war eine graue Decke aus dicken Steinblöcken, die zuerst ganz dicht war und sich dann plötzlich zu entfernen schien. Sie hatte nicht mal genug Zeit, um einen erschrockenen Laut von sich zu geben, als sie auch schon rücklings auf harten Stein krachte. Reste von rötlichem Pulver stob auf und die Ritualistin zog es erst einmal vor, still liegen zu bleiben. Ja… die Regeneration setzte bereits ein und der ein oder andere tatsächlich gebrochene Knochen und geprellte Muskel begannen zu heilen.
„Frau Vyktorya! Ihr seid zurück!“
Nur träge sickerte der Ausruf in ihren Geist. Im nächsten Moment spürte sie auch bereits einen warmen Körper neben sich. Sie blinzelte und ächzte leise, während sich ihre Sicht nun endlich langsam klärte. „Frau Vyktorya! Seid Ihr verletzt?“ „Was… bist du das Natasha?“ Neben ihr kniete Natasha, ihre derzeit jüngste Schülerin. Die junge Frau starrte sie mit solch einer großen Erleichterung an, dass Vyktorya unwillkürlich innerlich schauderte. In der Nähe hörte sie auch Amandas Stimme. „Ja, ich bin es! Habt Ihr das Wesen besiegen können?“ Natashas Fragen prasselten weiter auf Vyktorya ein, doch im Augenblick war für sie nur eines wichtig: „Rorek? Wo ist er?“ „Er liegt dort drüben.“, antwortete die junge Magierin und zeitgleich spürte sie die geistige Verbindung zu ihrem geliebten Mann aufflammen. „Lebst…du noch?“, seine Stimme in ihrem Geist war wie Balsam auf ihrer Seele, wie Honig, der sie einhüllte und ihr geborstenes Herz zusammenklebte. Nie war sie glücklicher gewesen, ihn zu hören. Selbst an jenem Tag, als er sich plötzlich im Körper des Runentrolls wiederfand, war sie kaum glücklicher gewesen.
„Aber jetzt müssen wir erstmal hier weg, glaube ich.“
Natashas Worte ließen Vyktorya langsam die restliche Letargie abschütteln. In der Tat… neben der Freude und dem Glück, dass sowohl Rorek als auch sie selbst und natürlich auch die anderen offenbar lebend aus dieser Sache entkommen waren, vibrierte ein neues, unangenehmes Gefühl durch sie. Etwas war hier nicht richtig. Sie spürte wieder … das Unterreich. Doch nun so viel stärker. Sie befürchtete, dass diese Menge Faerzress auch für sie und Rorek nicht sonderlich gesund war und Magie anzuwenden, aktuell keine gute Idee war. Ja, sie mussten hier in der Tat weg!
Es waren nur noch sonst Xapoa, die Amazone und zwei oder drei der gerüsteten Handwerker zurückgeblieben. Vor den Ausläufern der Klosterberge trafen sie schließlich auf den Rest der Truppe. Der Empfang war eine Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung. Natürlich hatten offenbar die Wölfe – insbesondere Livius gehofft – dass sie beide nicht widerkehrten. Doch da hatten sie weit gefehlt. So ein Pech. Vyktoryas Laune hob sich noch ein wenig mehr, wenn das überhaupt möglich war. Das Lächeln lag auf ihren Lippen und es war ihr in diesem Moment völlig egal. Sollte doch jeder sehen, dass sie selbst mehr als froh und erleichtert war, noch zu leben. Nur vage hatten sie festgestellt, dass das Wesen offenbar – zumindest für den Moment – besiegt war. Näheres konnten sie schlicht nicht feststellen. Woher diese Strahlung kam, darüber hatte Vyktorya tatsächlich lediglich eine Vermutung aufstellen können. Wahrscheinlich wurde durch das Sprengen der drei Ketten diese Strahlung freigesetzt. Vielleicht durch die kurzzeitige Vermischung der drei Ebenen? Vyktorya konnte nur spekulieren, doch würde sie nicht all ihre Spekulationen mit den Wölfen teilen. Sollten die ihre pelzigen Köpfe selbst anstrengen und forschen. Sie wollte jetzt nur fort von hier!
Zuhause hatten Vyktorya und Rorek sich nur kurz über ihre neugewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen ausgetauscht. Es hatte sie erschreckt, zu erfahren, dass Rorek offenbar das Ganze mit noch wesentlich mehr Glück überstanden hatte, als sie selbst. Die feinen Narben auf seiner Haut waren das Zeugnis, dass die Ebene ihn vollständig zerrissen und neu zusammengefügt hatte. Doch auch er hatte an Macht gewonnen und seinen Stab verloren. Ein verlorener Magierstab. Das war ein geringer Preis für all das. Ein wenig ließ Vyktorya das Gefühl nicht los, dass der Preis noch zu gering war… war es zu einfach gewesen? Nein… die Erinnerung an die unsäglichen Schmerzen kehrten zurück. Wie sie das Gefühl hatte, dass ihr Innerstes zerriss und ihr Geist bersten würde. Die schreckliche Angst Rorek nie wieder zu sehen. Zu versagen… Nein… tatsächlich hatten sie einen hohen Preis gezahlt. Aber Magie hatte nun mal immer ihren Preis.
Immer.
Später trafen sie noch auf die beiden „Klangweber“ sowie Livius‘ Schüler Ronbor. Interessant. Nun nannte der Köter sich also schon einen Magister. Kurz war sie versucht, Ronbor für die Monthares-Akademie zu gewinnen, doch nachdem Ronbor davon sprach Illusionist zu werden, verwarf sie den Gedanken. Der Mann wusste nichts vom Konflikt seines Lehrmeisters und den Vampiren. Er sollte nicht darunter leiden. Derzeit konnten hatten sie keinen Illusionistenlehrmeister verfügbar, was bereits bei Amanda schwierig wurde. Bei Livius hatte Ronbor Zugriff auf die wohl mächtigste Illusionistin, denn Vyktorya hatte keinen Zweifel, dass das Wesen, welches einst Shirin war, ihren einstigen Schüler und Schoßhund – oder war sie nun sein Schoßhund? Es war schwer zu sagen, so wie sie häufig einfach nur still neben ihm stand – nicht bei der Ausbildung eines Schülers unterstützen würde, sobald es in die Tiefen der Illusionistik ging. Schade eigentlich, aber lieber war dieser Ronbor Schüler von einem Köter, als der Schüler des Magierbundes.
Und jetzt… war es ohnehin an der Zeit ihre Neue Macht auszuprobieren!