Die schwarzen, ledernen Schwingen verursachten leise flappende Laute, während sie kraftvoll schlugen um den dunklen Gargoyle in der Luft zu halten. Doch hier draußen, abgeschieden von der Welt und tief in der Nacht würde ohnehin keiner das Geräusch bemerken. Die dunkle Gestalt war am Nachthimmel kaum zu sehen, nur wenn sie tiefer sank, näher an diese blutrote Kuppel heran, wurde sie vom Leuchten der Barriere unheimlich angestrahlt. Doch im Augenblick hatte der Gargoyle wahrlich andere Probleme. Nämlich genau diese Barriere, die sich unter ihm wie eine riesige Käseglocke über den Talkessel spannte, in dem sich die Ruinen des Alten Klosters befanden.
Langsam glitt sie in ihrer Urgestalt über die Kuppel hinweg und zog ihre Kreise. Vyktorya hatte sich für diese Gestalt entschieden, weil das Weiß ihrer Federschwingen als Engel deutlicher am Nachthimmel zu sehen sein würde, als die dunkle, nachtgleiche Färbung des Gargoyles. Außerdem waren ihre Instinkte in dieser Gestalt wesentlich geschärfter und ihre Augen blickten klar durch die Dunkelheit hinab, auf das Leuchten der Barriere. Es war nun schon die zweite Nacht, in der sie diesen Erkundungsflug machte, seit sie die Barriere entdeckt hatten. Auch tagsüber hatte sie sich die Kuppel und die Umgebung näher angesehen, um herauszufinden, womit sie es hier zu tun hatten. Doch… bisher war sie nicht wirklich schlauer geworden.
Sie konnte lediglich sagen, dass es definitiv keinen Zugang zum Kloster gab und sich innerhalb dieser Barriere irgendetwas tat. Sie sah die veränderten Wesen. Es war… seltsam… Auf den ersten Blick wirkte alles unterhalb dieser Barriere wie eine seltsam friedliche Idylle… die Klostergebäude, die ruhig da lagen… ringsum das geschäftige Gewusel von geistlichen, die sich um Tiere und Gärten kümmerten… doch der zweite Blick offenbarte plötzlich die grausame Wahrheit: zerfallene Gebäude… Tiere die seltsam verändert waren… erweckte Seelen und Untote, die offenbar in Erinnerung an ihr altes Leben ihrer Arbeit auf groteske Weise nachgingen. Alles in allem… seltsam. Selbst für eine erfahrene Nekromantin wie sie es war.
Was hier geschehen war, konnte sie nur vermuten:
Nachdem was sie bisher rausfinden konnten, musste das Gesteins-Wesen den Binnensee endgültig verlassen haben. Nachdem es sich zunächst im Hafen Silberburgs fröhlich austobte, hatte es sich auf dem Weg zum nächsten Ort gemacht, der ihn vermutlich aufgrund seiner nekromantischen Energie anzog: Das Kloster.
Nachdem was sie über die Splitter wussten, gingen Rorek und sie davon aus, dass auch das Wesen aus dem Gestein des Meteors „gewachsen“ sein musste und damit ebenfalls nekromantischen Macht als Ursprung hatte. Vermutlich trug der Silberburger Hafen noch genug Rest-Energie von der damaligen Verseuchung durch Morgun in sich, dass das Wesen davon angezogen wurde. Doch vermutlich reichte ihm diese Energie langfristig nicht aus, weshalb er sich ein besseres „Quartier“ suchte. Rorek hatte es schon treffend formuliert: Sie konnten froh sein, dass das Wesen sich nicht den Drachenfriedhof ausgesucht hatte. Wer weiß, welches Unheil ihnen dann geblüht hätte. Wobei auch das hier nun wahrlich nicht danach aussah, als würde es ein Spaziergang werden.
Ob der Hafen noch zu retten war, war ihr im Augenblick egal und auch die noch übrigen Seuchenherde kümmerten Vyktorya derzeit wenig. Dieser Köter Livius hatte einige Mitstreiter versammelt, um sich wohl diesen Herden anzunehmen… soweit Vyktorya es bei ihrem Rundflug erkennen konnte, hatten sie die Giftnebel nördlich von Silberburg bis zum Klosterberg gebannt. Vermutlich auf ähnliche Weise, wie jene Stelle im Ansiloner Forst. Doch die seltsame Strahlung, die diese Orte innehatten, hielt offenbar noch weiterhin an.
Doch was war nun mit dem Kloster und dieser Barriere? Wobei… je länger Vyktorya diese „Barriere“ beobachtete, desto mehr überkam sie das Gefühl, dass dies der falsche Begriff war. Langsam ließ sie sich herabsinken und landete auf einer Klippe nordöstlich vom Kloster.
Die leuchtende Kuppel war deutlich zu sehen und einige Minuten lang beobachtete sie diese. Seltsam. Erst jetzt fiel es ihr auf, jetzt wo sie selbst still ausharrte und nicht durch Flügelschläge in Bewegung war: ein leichtes Flimmern glitt immer wieder über die Barriere. Oder halt… Flimmern war nicht richtig. Aber es war ein Schimmern, ein Leuchten, das scheinbar regelmäßig aufbrandete. Wie der Rhythmus einer Welle, die träge an den Strand rollte. Oder… wie Atemzüge. Irritiert schloss sie die schwarzen Augenlider und ließ die Urgestalt fallen. Sofort flatterten ihre Kleider und Haare im Wind, der zwischen den beiden Gebirgen über den Fluss pfiff, aber ihre Gedanken wurden klarer und waren weniger von den Urinstinkten angegriffen. Auch so konnte sie die Barriere noch erkennen und erneut harrte sie still aus und beobachtete das pulsierende Leuchten.
Bewegte sich die Barriere?
„Rorek! Sieh dir das an!“, rief sie in Gedanken nach ihrem Gefährten. Sie spürte, wie er in ihren Geist eintauchte und durch ihre Augen blickte, doch er gab lediglich ein nachdenkliches Brummen von sich und erklärte, dass er nicht wüsste, was sie meinte. Daher öffnete sie ihm ein magisches Portal, durch das er wenig später schritt. „Sieh hin… beobachte den Rand der Kuppel dort, wo sie in die Felsen übergeht. Dort an der einen Stelle ist eine Felsnase, wo man es deutlich sieht.“, auch mit ihrem Geist wies sie ihn auf die Stelle hin und wartete ab, während Rorek – genau wie sie zu vor – reglos dastand und beobachtete. Sie spürte sofort, als er dieselbe Erkenntnis hatte: „Sie pulsiert!“ „Ja! Wie… ein Brustkorb… ein Herz… oder…“, sie sah nochmals zur Barriere und schüttelte den Kopf. „Nein… nein! Es erinnert mich an einen Kokon. Aber nicht den einer Spinne… sondern einer Raupe.“ Rorek brummte missmutig. „Hier schlüpft aber kein Schmetterling“. „Nein… wohl kaum. Was auch immer sich da verpuppt… es wird früher oder später fertig sein… und es wird uns nicht gefallen.“
Schweigend beobachteten die Magier den blutroten Kokon.
Was würde sie also noch erwarten?