Vergessen

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Jin
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Registriert: 13 Mai 2019, 23:25

Vergessen

Beitrag von Jin »

Prolog

Still war die Nacht, kühl die Luft. Ein scharfer, schneidender Wind strich über das Sandmeer, trieb Staubböen vor sich her. Bleich fiel das Mondlicht in den Sand – während die Sandkörner ein monotones Lied sangen, als sie gegen die Sandsteinwände der Häuser geworfen wurden.

Mit fröstelnden Händen wickelte sich Jin noch fester in ihr Betttuch hinein. Auch wenn Teile ihres Körpers die fröstelnde Abendluft der Wüste spürten, so überzog doch eine dünne Schweißschicht ihren Körper obwohl sie schlief.

 
Kapitel 1

Schleierhaft und unwirklich war der Traum, in dem Jin förmlich gefangen gehalten wurde. Ihr Geist materialisierte die Form einer lebhaften Umgebung. Sie verweilte an einem Ort, der detailgetreu dem Kerker des Klosters ziemlich ähnelte – sie selbst stand im Gang, während ihr Blick in einen der dreckigen Kerkerräume gerichtet war.
Dort zeichnete sich die Gestalt einer Frau ab – geschunden, verwundet, dreckig, mit einfachen Lumpen bekleidet, abgemagert und selbst ihr schwarzes Haar deutete nur noch an, wie sehr sie einst Wert darauf gelegt haben muss, dass alles seine gepflegte Ordnung hatte. Einzelne fettige, verklebte Strähnen verdeckten ihr Gesicht, während sie in ihren Händen den leblosen Leib einer Ratte hielt.
Aus der Sicht der Wächterin war der Anblick jener Person nicht mehr wirklich etwas Besonderes. Nein, die Priesterin Lamont hatte nun mal ihre Vorlieben in der Erniedrigung gefunden und sicher war diese Gestalt nur wieder eines ihrer Gelüste, doch das interessierte sie nicht wirklich. Es war gegen ihre Sitte geworden, die Ansicht der Priesterin in Frage zu stellen, denn sie hatte ihre Gründe, Dinge zu tun, die getan werden mussten.
Mit ihrem Handpanzer stieß Jin gegen die Gitterstäbe, die in einem hellen hallenden Ton das Kellergewölbe durchschallten.
„Sprich wer du bist, Fräulein im Dreck und ich werde eure letzten Stunden mit meiner Anwesenheit bereichern.“ sprach Jin, während sie einige Schritte zurücktritt, um ihren Rücken gegen die Kerkerwand zu drücken. Die Antwort dauerte ein wenig, in der Traumstruktur sogar eine halbe Ewigkeit, denn die unbekannte Frau machte nicht den Eindruck von den Worten bewegt zu werden. Viel eher durchfuhr dem verwahrlosten Leib ein Zucken, sodass die leblose Ratte einen Schritt in Richtung der Zellenstreben flog. Dann aber erklang eine Stimme mit stockendem, keuchendem Unterton, ohne dass sich der Körper noch weiterbewegte.
„Du weißt wer ich bin…. Erinnere dich… du… entstammst von mir, denn du bist ich. Erinnere dich.“
Blanker Hass aufgrund der Absurdität der Worte stieg in Jin auf. Sicherlich war Jin niemand, der ein dünnes Nervengerüst besaß, doch sie hasste es Zeit zu verschwenden. Ein Griff zu ihrem im Traum vorhandenen Schwertknauf an ihrer Hüfte erfolgte, doch sie zog die Waffe nicht hervor. Ruhig schloss sie ihre Augen und atmete… einen, dann zwei und kurz darauf auch drei Atemzüge durch. Der Griff um den Schwertknauf löste sich wieder und sie seufzte aus.
„Noch einmal. Wer bist du? Nur diesmal versuch deinen Kopf zu gebrauchen, wenn sich dein Mund öffnet. Du bist eine verwahrloste Gefangene, die offenbar vergessen hat in welcher Position sie steht und damit bist du ganz sicherlich nicht ich, die sich die Zeit nimmt mit einer Person wie dir zu sprechen. Bedenke, dass ich dir dein Leben zwar nicht mehr schenken kann, denn dies liegt in den Händen der Priesterschaft, doch ich kann dein Sein mit meinen Worten bereichern.“
Die Worte erklangen von Jin fast schon drohend in Richtung der Frau, die sich erneut überwinden musste, eine Antwort auszusprechen. Sie beugte sich aus ihrer hockenden Gestalt nach vorne, um erneut nach der Ratte zu greifen, welche sie auch erreichte. Knochige Finger, samt dreckigen ungepflegten Fingernägeln umschlossen den Körper, der wenige Augenblicke später hin zum Mund geführt wurde. Herzhaft biss die Frau in den Leib der Ratte hinein, sodass Gedärme, wie auch Blut an ihrem Kinn herunter rannen. Sie lächelte, während sie kaute und Jin verspürte Ekel bei der Barbarei dieses Anblicks.
Nachdem die Hälfte des abgebissenen Fleischhappens heruntergeschlungen war, antwortete sie und strich dabei einige Strähnen aus ihrem Gesicht, so dass selbst etwas Rattenblut sich durch ihr Gesicht zog. Jin sah hier das erste Mal ihr entstelltes, mageres Gesicht, welches vermutlich nur mit viel Fantasie an das Gesicht von ihr selbst erinnerte.
„Ich lüge dich nicht an, denn du musst weichen, damit ich mein Leben führen kann. Dein oder viel mehr mein Name ist Genevieve de Molay. Die Schwester des Hohepriesters des Herrn, Bernard de Molay. Du hörst richtig! Du bist die Schwester eines Gläubigers des Herren und sieh nur was daraus geworden ist. Was die Priesterin Lamont daraus gemacht hat... Wie nennt sie dich? Wie täuscht sie dich und welche Lüge von ihr glaubst du?“
Mit dem Lumpenärmel wischte sich die gerade vorgestellte Genevieve die Reste des Blutes von ihren Lippen und glotzte förmlich zur imposanten Gestalt der Wächterin Jin heraus, wartend was sie antwortete.
„Lächerlich und eure Worte wirken alles andere als überlegt. Ich kenne keinen Bernard de Molay und dieser Name ist für mich nicht von Bedeutung. Er ist nur ein Lamm unter Schafen, wenn sein Glaube dem Herrn dient.
Vor euch steht eine Wächterin und ganz sicher keine Schwester eines Schlangenpriesters. Mein Name ist Jin und nicht Genevieve. Zügle besser deine Zunge, bevor ich es bin, die deine Zunge entfernt und im Wald vergräbt.“

Verhöhnendes Gelächter entbrach aus der Frau mit dem Namen Genevieve. Im Traumgefüge richtete sie sich innerhalb eines Wimpernschlags auf und stand, wie als hätte die Zeit für einen Bruchteil weniger Sekunden stillgestanden, gebeugt an den Gitterstäben lehnend. Erst in ihrer halbwegs aufrechten Haltung war das Ausmaß der Gestalt wirklich zu sehen. Ihre Rippenbögen zeichneten sich an der viel zu engen Lumpenkleidung ab. Das Gesicht wirkte fast schon knöchern und ihre Zähne waren von einer gelb-rötlichen Schicht bedeckt, welche offenbar noch von dem Blut der Ratte stammte. Unzählige Narben und Schnitte zogen sich an den offenen Stellen ihres Körpers ab.
„Du hast nicht begriffen das dies nicht die Realität ist. Diese Unterhaltung findet in deinem Kopf statt, eine Unterhaltung die ich unzählige Male mit anderen Wächtern damals führte, als ich in dieser Zelle eingesperrt war. Nun bist du es, in einem Traum, welches sich tief in deinen Gedanken abspielt. Du kannst versuchen mir zu entkommen, doch denke daran, dass mich nichts davon abhalten wird, mein Ziel zu verfolgen, wieder ich zu sein. Dein Leben, wie du es führst ist ein Frevel an meiner Person und früher oder später wirst du sterben, wie jeder andere, welcher dem Glauben des Namenlosen folgt. Lass uns entscheiden wer diesen Körper verdient…“
bibberte Genevieve förmlich, in der Anstrengung all die Worte so verständlich wie möglich über die Lippen zu bringen. Das Traumgerüst verschwamm für einen Moment in einem seichten Nebel und ehe sie die Struktur in ihrem Geist wieder neu ordnen konnte, griffen die knochigen Hände Genevieves um den Hals von Jin. Schmerz verspürte die Wächterin dabei nicht, doch ein Unwohlsein machte sich breit.
Jin’s Augenbrauen erhoben sich und erst jetzt begriff sie, dass dies alles nicht die Realität war. Es war tatsächlich ein Traum, Magie oder gar ein fürchterliches Werk des Herrn, ihre Gedanken beeinflussen zu wollen. All das zog durch ihre Gedanken, als krächzende Worte dicht an ihrem Ohr erklangen:
„Ich werde mir die Zeit nehmen, dir zu offenbaren welche Taten die rote Priesterin mit mir vollzog. Denn alles was sie dir erzählte ist eine Lüge... du bist eine Lüge… dein Dasein ist eine Lüge.“

 
Kapitel 2 

Die Welt verschwamm in einer Schwärze, die selbst die Nacht nicht hervorbringen konnte, bis es nach wenigen Wimpernschlägen in ein grelles Weiß überging. Einzelne Strukturen bildeten sich nach und nach neu und fügten sich somit wie in einem Puzzle zusammen. Jins Wahrnehmung war getrübt. Sie fand sich wieder, mit den Händen vor ihrem Gesicht, schützend vor dem hellen Licht. Sie wusste nun, dass ihr Zustand durch ihre Gedanken hervorgerufen wurde, doch fühlte es sich bei weitem nicht wie ein Traum an. Das Gefühl der knöchrigen Finger und der Fingernägel spürte sie noch immer um ihren Hals, welches sie vorher noch nie in einem Traum wahrnehmen konnte. Denn meist war Unwohlsein eher ein Auslöser zu erwachen - wie beispielsweise das Fallen von einer Klippe, sodass man aufgrund des Schockmoments kerzengerade im Bett saß. Daher wusste sie, trotz ihrer Eingebung nicht zu entkommen. So hatte sie so oder so keine andere Wahl als dem Schauspiel treuer Sklave zu sein.
Als die junge Wächterin ihren Arm senkte, erkannte sie die ersten Momente weiterhin nichts als gleisendes Weiß. Erst nachdem sie ihren Augen ihre Angewöhnung ließ, bildeten sich die Merkmale von Schnee und Gestein. Wenige Zeit später erkannte sie Umrisse von Häusern und selbst ein bekanntes Lager, samt Mine wurden erkenntlich - Sie befand sich in Winterberg, um genauer zu sein recht nah an der Schmiede.
Ruhig beobachtete Jin die Umgebung. Manch Handwerker, der förmlich aus den Schatten entstand, eilten von der Schmiede hin zu ihren Kisten, andere eilten in den Stollen und wieder andere Gestalten tauchten in einer Plattenrüstung auf und schützten den Eingang der Mine. Das alles war für sie sonderbar, denn diese Momente kannte sie zwar, doch die Gesichter der Handwerker waren ihr fremd und doch irgendwie nicht, denn tief in ihr fühlte sie manche von ihnen gekannt zu haben, auch wenn sie sich nicht mehr an sie erinnerte. Hatte das etwas mit dieser Genevieve zu tun? Jin bezweifelte es aufgrund der Offensichtlichkeit des Hirngespinsts ihrer Träume. Doch es gab einen Moment, der sie an all dem zweifeln ließ, denn als sie die Handwerker ansprach, so gaben sie keine Reaktion. Es war eher so als würde Jin aus Luft bestehen, auch wenn sie ihren eigenen Körper deutlich sehen konnte und sich ganz sicher war, dass sie ignoriert wurde. So manch einem drohte sie sogar mit ihrem Schwert, bis dieser allerdings ohne eine Furchtreaktion wieder seiner Arbeit nachging. Dann sah sie sie… eine Frau, die nicht wirklich anders aussah als die sonstigen Arbeiter des Stollens. Jin’s Gefühl sagte ihr, dass dies Genevieve war, doch ihr Aussehen ähnelte nur noch schwach der gepeinigten Gestalt aus dem Kerker. Sie sah weitaus weiblicher, narbenreiner und trotz, dass sie gerade aus der Mine kam, so war ihr Auftreten grazil, bewusst und sauberer. Glattes langes schwarzes Haar hing ihr zu einem Zopf gebunden bis zur Mitte ihres Rückens, welcher von einem wärmenden blauen Mantel verdeckt lag.
Wie die anderen Handwerker ignorierte diese Gestalt die Wächterin ebenso und lief blicklos an ihr vorbei. Sie leerte ein paar Erze in ihre Truhe, bis eine eher bekanntere Gestalt an eben diese Handwerkerin herantrat. Es war Nicia, die für Jin eher bekanntere Schmuck- und Juwel Händlerin aus Nalveroth, mit der sie bereits, dass ein oder andere Geschäft getätigt hatte.
Doch was machte sie hier, in der Kälte Winterbergs? Diese Erklärung konnte sie sich nicht annehmen.
Es wurden Worte gewechselt über Erze und Edelsteine, die die Handwerkerin aus dem Norden einwilligte zu verkaufen, obwohl diese Händlerin aus Nalveroth stammte.
Dann erklang eine Stimme an Jin‘s Ohren, die eindeutig von der krächzenden Stimme der gepeinigten Genevieve stammten.
„Erkenne, was mir wiederfahren ist… sie war der Auslöser für all das und ich war zu leichtsinnig es zu erkennen.“
Ehe Jin sich erneut versah, schloss sich eine knochige Hand um ihren Hals, bis das Weltbild erneut zerriss.
Dunkelheit kehrte erneut in ihre Welt ein, Strukturen bildeten sich wiedermals neu. Diesmal verkrafteten Jins Geist und Augen es einfacher, denn das Bild des Kerkers lichtete sich erneut vor ihrem Gesicht ab. Diesmal allerdings war sie es, die innerhalb des Kerkers stand, gemeinsam mit der eben gesehen Handwerkerin aus Winterberg, welche wohl das frühere Antlitz Genevieve’s war.
Hilfeschreie der Handwerkerin durchklangen die Kerker dutzende Male und es schien eher so als würde die Zeit diesmal weitaus schneller vergehen.
Die Priesterin Marleen, als auch einige Wächter, die ihr heute nichts mehr zu sagen schienen, standen vor den Gitterstäben. Gelächter erklang und Genevieve erhielt nur das notwendigste zum Überleben, wenn sie sich nicht allzu aufmüpfig benahm.
Die Nahrung als auch das Wasser welches Genevieve durch die Wächter erhielt, war meist nicht rein – es wurde vergiftet, um ihr die Qualen so unerträglich wie nur möglich zu machen. Der Wandel ihres Körpers hatte begonnen. Aufgrund des Giftes erbrach sich Genevieve von Tag zu Tag immer öfter und konnte kaum eine Nahrung noch in sich behalten. Nur dank der Ratten, oder mehr deren rohes Fleisch behielt sie ab und an doch noch etwas im Körper, um nicht sofort an Schwäche zu sterben. Dass sich das Mädchen noch auf Beinen halten konnte, war mehr und mehr zu einer Glückspartie geworden, leuchtete es Jin ein.
Die rote Priesterin aber genoss es, das Qualenspiel von Woche zu Woche auf neue Ebenen zu bringen. Wenn sie sich nicht gerade aufgrund des Gifts erbrach und ihr inneres Wohl schädigte, so tat es die Priesterin von außen. Schnitte und tiefgreifende Wunden wurden ihr zugefügt, um dem Mädchen offenkundig zu zeigen -wem sie Respekt zu zeigen hatte-. Auf der anderen Seite dieser Medaille lag noch die Versorgung der Wunden des Mädchens, um ihr Qualenspiel stets wieder von neuem beginnen zu können und damit zügig ihren Willen zu brechen.
Aus Jins Sicht war es schockierend wie auch faszinierend zugleich. Sie kannte die Härte, welche die Priesterin ausstrahlte nur zu gut, auch die Wächterin durfte in ihrer Zeit als Asketin die ein oder andere Peitsche aufgrund diverser Fehltritte zu spüren bekommen. Es gab allerdings auch keine sichtbaren Lücken, die sich in diesem Tun manifestierten – um jemanden langanhaltig zu brechen gäbe es wohl wenig bessere Varianten, die Jin gerade in den Kopf kämen. Doch offenkundig kannte Genevieve eine Methode es mehr oder weniger zu widerstehen, denn ganz gleich was kam, sie blieb starrköpfig.
Den Wandel des Körpers konnte diese Starrköpfigkeit allerdings nicht bremsen.
Sie magerte bis an ihre Grenzen ab, weil sie nur sehr wenig ihrer Nahrung in sich behalten konnte. Die stetige Giftzufuhr quälte ihren Körper, ließ sie leiden, machte sie fast wahnsinnig. Ihr Körper und ihre Gedärme brannten von den Auswirkungen. Die stetige Giftzufuhr hatte auch die Folgen, dass ihr Körper von Tag zu Tag schwächer wurde und auch ihr Teint gewann mit jedem Tag mehr dem Antlitz einer lebenden Leiche. Nicht nur ihre Haut wandelte sich, denn auch ihr Haar wurde stumpf und verlor stetig dessen Melanin, bis das nachwachsende Haar nicht mehr saftig schwarz, sondern gräulich hell aus den Haarknospen spross.
Jin selbst sah den Wandel Genevieve‘s geistesabwesend zu, denn vieles der Merkmale trafen wahrlich auf die heutige Jin zu. Die Wächterin strich sich durch das Haar, welches sich leblos grau zwischen die Fingerrillen ihrer Handpanzerung legte. Auch Jins Haut war blass. In der Öffentlichkeit hatte sie sich angewöhnt, offene Hautstellen mit dunkleren Hauttönen zu bemalen, um sich vor der heißen Wüstensonne zu schützen. Narben besaß sie ebenso, wie sie eine Kriegerin eben besitzt – viele davon versteckt unter ihrer Rüstung.
Aber trotz all den Offensichtlichkeiten erkannte Jin in ihren Gefühlen noch immer nicht die Wahrheit, welche dieser Traum offenbarte. Sie sah nicht die Zusammenhänge mit Genevieve und sah sich eher wie ein komplett anderer Mensch. Auch all diese Erinnerungen waren für die Wächterin mehr Schall und Rauch, dem sie nicht entkommen konnte.
Doch der Traum offenbarte noch weitaus mehr, denn es war ein Teil ihrer vergessenen Geschichte, die Jin mit Genevieve verband…
 
  
Kapitel 3

Die Qualen Genevieve‘s hatten allerdings noch kein Ende gefunden, obwohl Jins Kopf sich eher darauf festgebissen hatte, diesem Hirngespinst keinen Glauben zu schenken. In ihrer Ansicht nach war dieses Erlebnis ein Eingriff des Schlangengottes, der durch seine Lügen veranlasst hatte, eine Anhängerin des Namenlosen geistlich zu schwächen.
Als Jin die Augen schloss und wieder öffnete, verwandelte das Kerkerzimmer sich aus heiterem Himmel in einen Ritualraum, der bestückt mit den härtesten Foltermethoden war, wie die eiserne Jungfrau. Erneut hatte sich das Szenario gewandelt, nur diesmal griff keine knochige Hand nach ihrem Hals. Die Wächterin sah die rote Priesterin hinter der geschwächten, dem Tod nahenden Genevieve stehen. In ihrer Hand und hoch über dem Leib der geschundenen erhoben, hielt die Priesterin ein Horn und sang förmlich ein Gebet des Namenlosen, ehe sie das Horn niederstieß und in die offenliegende Schulter Genevieve‘s bohrte. Blut quoll aus der klaffenden Wunde, obwohl das Horn weiter im Körper gehalten wurde. In Genevieve’s Gesicht machte sich der Wahnsinn der vergangenen Qualen frei, sie schrie und würgte vor Schmerz und noch immer sah Jin es mit Gleichgültigkeit, obwohl sie nur wenige Schritt entfernt stand.
„Nichts verbindet uns… du bist schwach“ wiederholte Jin in einem leisen Ton und die Zeit begann still zu stehen. Der knochige Geist Genevieve‘s kroch aus dem Schatten der eisernen Jungfrau hervor und betrachtete das Szenario, aber auch Jin’s Reaktion.
„Heute verbindet uns nichts mehr, doch dies war deine Geburtsstunde. Wenige Tage später bist du ans Tageslicht gekommen und ich rückte in den Schatten. Heiler würden sagen du entstündest aus einer hervorgerufenen Persönlichkeitsspaltung, der zudem alle Gedanken dazu fehlten, wie es dazu kam. All die Schmerzen, die ich erlitten habe waren der Auslöser deiner Existenz. Das rote Miststück hier machte dich zu ihrem Sklaven, zu SEINEM Sklaven. Aber sag mir, ist es das was du willst? Im Schatten all jener stehen, die dich mit Füßen treten, weil du die Schwester eines Großmeisters der Priester des Herrn bist?“
Erklang es nun wieder neben Jins Ohr und der knochige Griff schloss sich diesmal nicht um ihren Hals, sondern um die Hand der Wächterin. Mit einem leichten Druck wurde die Hand zu ihrem Schwertknauf geführt.
Jin versuchte willentlich dagegen anzukämpfen, doch scheiterte daran Genevieve‘s Willen zu trotzen. Es war zwar Jin’s Traum, doch die Oberhand hatte die alte, schwächliche Genevieve.
Die knochigen Finger drückten Jins Fingerpanzer um den Knauf und veranlassten wenige Augenblicke später sogar, dass sie begann ihr Schwert aus der Scheide zu ziehen – Stück für Stück.
„bring das rote Miststück hier um und ich werde dafür sorgen, dass schon bald ihr Kopf in der Realität rollen wird. Verlass dich auf mich.“ säuselte erneut die Stimme, wenn auch eher krächzend.
Mehrere Male zog die Wächterin die Luft tief ein und wieder aus.
Um keinen Preis der Welt wollte sie die Priesterin tot sehen, nicht nur weil der Kodex es verbat, auch weil sie es war, welche sich darum kümmerte das Jin nun diejenige war, die sie heute ist. Sie kümmerte sich um sie, als sie verletzt in Silberburg aufgefunden wurde, gab ihr Beschäftigung und sogar ein Ziel im Leben. Marleen hatte sie noch nie wirklich fallen gelassen… und mit Sicherheit würde die Priesterin Gift und Galle speien, wenn sie diesen Gedanken hören konnte – auch wenn er der Wahrheit entsprach.
Beruhigend schlossen sich Jins Augen und sie begann Worte zu murmeln, während das Schwert immer weiter herausgezogen wurde.

 
Vater mein, dies Schwert dies Leben
Segne und nimm mit schwarzer Hand
Lass mein Herz nach hohem streben
Denn mein Herz und mein Verstand
Dienen dir, nur dir allein,
dir, der du in Ketten liegst
ich werde dein Wächter sein
sterben gar damit du siegst!
Sehe hier mit Schwertes Liebe
Bringe ich dein Wort oh Herr!
Und der Wahrheit dreister Diebe
Die voll Stolz die Welt durchgehen
Werde ich die Knie brechen,
blende sie, damit sie sehen!


Die Kraft ihr Schwert zu führen kehrte damit zurück in ihre Glieder. Aus den haltgebenden Worten hatte sie die Stärke geschöpft, obwohl das Schwert bereits gezogen war. Sie wird verhindern, dass der Priesterin in ihrem Traum, sowie in der Wirklichkeit Leid zugefügt wird, selbst wenn es bedeutet, alle eigenen Zwänge zu sprengen.
So fuhr das Schwert nicht durch den Körper der Priesterin, denn Jin packte die knochige Hand Genevieve‘s und riss sie vor sich auf den Boden. Ohne Gnade und mit Hass blickte sie hinab...

„Nein! Du sollst verschwinden! Das ist mein Körper! Verschwinde endlich! Du darfst mich hier nicht auslöschen, sonst wirst du niemals erfahren was wirklich vorgefallen ist! All das was ich dir zeigte wird verschwinden und du wirst weiterhin ein Sklave des Namenlosen sein!“
 
Jin hatte Genevieve's Worte satt...

„Nichts verbindet dich mit mir. Du, der du dem Lügner dienst, versuchst meinem Geist zu schaden, sei vergessen in alle Zeiten!“

Und so wurde das Schwert niedergefahren und durchbohrte den Körper des geschundenen Mädchens Genevieve. Als Blut und Tränen hervortraten verschwanden auch die Strukturen des Traumgefüges… nur diesmal anders.

 
Epilog

Jin schreckte aus ihrer Schlafposition auf. Draußen wehte noch immer der kalte Wüstenwind. Ihr Körper zitterte - ob sie wohl aufgrund der Kälte aufgeschreckt war? Sie dachte es zumindest, auch wenn der Grund ein anderer war. Ihre Gedanken fühlten sich leichter an, so als wäre ein Ballast von ihren Schultern gefallen. An einen Traum konnte sie sich nicht erinnern – doch vergisst man diese auch oft nach dem Erwachen. Ob Sie etwas Schönes geträumt hatte? Das wird sie sich wohl nicht mehr erklären können. Alles was passiert war, schien wie in eine Schatztruhe weggeschlossen und in den tiefsten Meeren von Bord geworfen worden zu sein. Dennoch hatte sie das unerklärliche Gefühl, etwas aus dieser Nacht mitgenommen zu haben. Die nächsten Tage fühlte Sie sich stärker und selbstsicherer. Sie hatte den Drang, etwas aus sich machen zu wollen. Sie ließ die Hautbemalung weg und kleidete sich anders. Erklären konnte sie sich diese Einstellung nicht. Doch sie fühlte sich gut dabei und das war es, was zählte.
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