Im Mondschein

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Tyvurn Dracon
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Im Mondschein

Beitrag von Tyvurn Dracon »

Kapitel 0 – Die Wandlung


Tyvurn rannte. Er rannte so schnell wie er selten zuvor in seinem Leben gerannt war. Die Bäume des Waldes flogen nur so an dem Mann vorbei. Der volle Mond schien hell durch die Baumwipfel, spendete das wenige Licht in diesem endlos wirkenden, hölzernen Meer. Immer wieder warf er hastig einen Blick über die Schulter. Panik lag im Blick, pure Angst. Der Atem raste und einzig das Adrenalin ermöglichte es ihm trotz der Erschöpfung und Luftnot noch seine Beine zu nutzen.
 
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Er bereute es zutiefst an diesem Abend in den Wald gegangen zu sein. Auf der Suche nach einer Herausforderung, getrieben von Rast- und Schlaflosigkeit, wollte er einen Gegner finden. Die Gedanken waren um Oger, Trolle oder sonstige Kreaturen gekreist. Harpyien, Waldschrate oder andere Monster an denen er seine überschüssige Energie, seine Getriebenheit abreagieren konnte. Er hatte gedacht, dass er schon jeder Gefahr die ihm begegnen würde gewachsen sein würde. Und wenn nicht, dass er klug genug wäre sie zu meiden oder ihr zu entkommen.
 
Falsch gedacht. Er hatte es nicht kommen sehen. Hatte es nicht gehört. Selbst sein Bauchgefühl, dass ihn immer vorwarnte, hatte ihn im Stich gelassen. Unbedacht, in leichter Rüstung aus Leder war er durch den Wald geschlichen. Die Schritten wurden vorsichtig gelenkt, kaum ein Geräusch verursacht. Während die Augen durch das Dickicht gespäht hatten, so gut sie es eben zuließen, hatte er nicht das Geringste bemerkt. Er wusste nicht einmal wie lange es ihn beobachtet hatte. Augenblicke? Minuten? Stunden? Am Ende spielte es auch keine Rolle.
 
Er hatte die Schritte auf eine Lichtung gelenkt. Seine Suche nach etwas zum Erschlagen war fruchtlos geblieben. Nichts außer ein paar scheuen Wildtieren war er begegnet. Die Nacht war leise – kaum ein Geräusch war im Wald zu hören. Er wirkte leer. Die Tiere, selbst die Monster und Kreaturen die sich hier sonst rumtrieben, schienen sich heute zu verstecken. Ruhig wanderte der Blick über die Lichtung, legte sich schließlich auf deren Rand während er sich im Kreis drehte. Es war bemerkenswert ruhig. Es war beinahe gespenstisch leer. Da kroch er schließlich in seinen Kopf: Ein Gedanke. Eine leise Ahnung, kaum mehr als ein Flüstern eines Geistes. Wenig mehr als das dumpfe Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Unwillkürlich stellten sich die Nackenhaare auf. Und da, noch ehe er diesen Instinkt, diese langsam aufkeimende Urangst fassen konnte oder bewusst realisierte, war es bereits zu spät.
 
Als er es hörte war es zu spät. Als er es sah, konnte er kaum noch reagieren. Wenig mehr als ein huschender Schemen. Schnell, gewandt – und doch riesig – bewegte sich etwas auf ihn zu. Er sah leuchtende Augen. Sah noch die Zähne aufblitzen. Sah wie etwas auf ihn zu sprang. Sein Geist, sein Kopf versuchten noch sich ein Bild von dieser Kreatur zu machen. Gelähmt war er von der Überraschung, Überwältigt von dem Anblick. Und doch, sein Körper, scheinbar losgelöst von dem vernünftigen, bewussten Denken, reagierte. Er ließ sich fallen. Spürte noch die Krallen des Wesens wie sie durch sein Gesicht fuhren, oberflächliche Wunden aufrissen. Und doch sprang es über den sich rücklings fallen lassenden Mann hinüber. Der Überlensinstinkt, der Tyvurn bereits durch die ein oder andere Situation gebracht hatte, schien endlich zu erwachen. Noch ehe er am Rücken gelandet war, krümmte sich jener. Eine Rolle und ehe er sich versah stand er auf den Beinen. Die Hände, zielsicher und flink, suchten Schwert und Schild, rissen jene empor und wandten sich in die Richtung in der er die Kreatur vermutete.
 
Nun sah er sie erstmals in ihrer ganzen, schrecklichen Pracht. Ein Wolf. Größer, schrecklicher und furchteinflößender als alles was er bisher an Wölfen gesehen hatte. Die Augen schienen nur irgendwie nicht so recht zu einem Wolf zu passen. Leuchtend waren sie, wild und animalisch der Eindruck. Und doch war da ein Ausdruck drin, den er nicht zuordnen konnte. Er schlug mit dem Schwert gegen das Schild, nickte dem Wolf beinahe herausfordernd zu. Das Vieh hatte ihn überrascht. Aber seine Chance war vertan. Er löste sich vom Gedanken an die Augen des Wolfes. Am Ende war es nur ein wildes Tier. Kein Oger, kein Troll, kein Dämon, kein Drache. Nur ein großer, böser Wolf der ihn beinahe getötet hätte. Und nun hatte er seinen Gegner. Endlich konnte er etwas erschlagen, seine Fähigkeiten schärfen.
 
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Zumindest hatte er das gedacht. Wieder im hier und jetzt spürte er das Stechen in den Seiten. Das Adrenalin, der Rausch des Kampfes und die Angst konnten seinen Körper nur soweit über die Belastungsgrenze bringen. Die Schritte, entgegen allem was sein Geist ihm entgegenschrie, wurden langsamer. Die Lunge brannte, die Beine waren schon längst taub, gefühllos. Und schließlich, unter einem letzten panischen Blick über die Schulter blieb er stehen. Er rang nach Atem, keuchte schwer. Die kalte Nachtluft brannte in seinem Hals, schien die Lunge selbst zu verätzen mit jedem tiefen, schweren Atemzug nach dem er schnappte.
 
Der Kampf war kurz gewesen. Die Kreatur war zu schnell, zu stark. Und zu allem: Zu intelligent. Keine blinde Wut war hinter den Angriffen, kein Hunger, kein Instinkt der sonst den Tieren zu eigen war. Die Angriffe waren präzise, lauernd gewesen. Er hätte schwören können, dass er sah wie der Wolf in einer Art verqueren Taktik ihm zusetzen wollte. Kein blindes Voranstürmen, nein eine gewisse Intelligenz, verborgen unter den Instinkten eines Tiere. Und er war auf diese Art gegen ein Tier zu kämpfen vollkommen unvorbereitet gewesen.
 
Er richtete sich auf, eine Hand ruhte noch auf einer Seite, stützte jene. Er wandte sich um, wirkte gehetzt. Er hatte nicht damit gerechnet vom Jäger zum Gejagten zu werden. Nicht das er ernsthaft um sein Leben fürchten musste. Und doch war es so gekommen. Die geweiteten Augen sahen so gut wie nie in der Dunkelheit, schienen Details wahrzunehmen die er sonst nie bemerken würde. Jeder seiner Sinne war geschärft, sein Körper und sein Geist angespannt wie selten zuvor. Es war Todesangst die er verspürte, die ihn voranpeitschte trotz aller Erschöpfung.
 
Und doch war es zu wenig. Er hörte es, direkt hinter sich. Dieses tiefe, bestialische Knurren. Wusste nicht wie die Kreatur an ihn herangekommen war. Er verstand es nicht. So schnell war kein Wolf. So leise, so überlegt. Alles in ihm schrie auf. Doch noch ehe er sich vollends umdrehen konnte spürte er die Pranken, bemerkte er den heißen Atem des Wolfes. Spürte wie unter dem Gewicht, der Kraft der Kreatur niedergedrückt wurde als sei er wenig mehr als ein Kind. Er schlug, reflexartig mit den letzten verbleibenden Kräften nach dem Kopf des Wolfes. Versuchte sich herauszuwinden. Seine Instinkte schrien ihn an, dass er einfach nur wegsollte. Mehr und mehr verschwamm der Blick vor seinen Augen, getrieben von blinder Panik. Doch es nutzte alles nichts.
 
Erst als er die Zähne der Kreatur spürte kamen er wieder dazu einen klaren Gedanken zu fassen. Der Schmerz holte ihn zurück, zwang ihn dazu wieder bewusst zu handeln. Die Kiefer des Wolfes bissen durch die Rüstung, rissen Fleisch auf. Er hörte die Knochen bedrohlich knacken. Ein lauter, schmerzerfüllter Schrei entfuhr ihm. Die Krallen des Wolfes, nicht weniger scharf als die Zähne, schienen durch die Lederrüstung zu schneiden als wäre sie wenig mehr als Stoff. Er spürte wie die Haut auf seinem Brustkorb, an seinem Bauch aufgerissen wurde. Er wollte Atmen. Doch das Gewicht des Wolfes machte es ihm beinahe unmöglich.
 
Kurz fand er sich damit ab. Für einen winzigen Bruchteil eines Augenblick war er überzeugt dass er hier und jetzt, mitten im Wald, sterben würde. Das er Leon keine Schläge auf den Hinterkopf mehr geben würde. Das er Alys Ankunft in diesen Landen nie erleben würde. Das er Keinen der anderen Bewahrer je wieder sehen würde. Das er im Dunkel der Nacht verenden würde, seine Leiche verrotten würde, von den Raben aufgefressen, von Maden abgenagt. Das er einfach mit dem Tot ein weiterer Mann sein würde, der sich selbst überschätzt hatte. Kurz war er davor sich dem Dunkel hinzugeben, den eigenen Tot zu akzeptieren.
 
Doch da keimte etwas in ihm auf. Wut. Aufbegehren. Trotz. Wenn er schon sterben sollte, wollte er wenigstens diese Kreatur mitnehmen. Er schrie laut auf. Dieses Mal jedoch nicht vor Schmerzen. Die Wut, der Rausch den ein Krieger kurz vor dem eigenen sicheren Ende erlebt, brach sich die Bahn. Der Blick verengte sich und die letzten, verzweifelten Reserven, tief verborgen in seinem Inneren, wurden freigelegt. Die Hand gelangte zum Gürtel, löste dort einen Dolch. Es war wenige mehr als ein Zahnstocher für diesen Wolf. Und doch würde es ausreichen. Musste es ausreichen.
 
Der Wolf war kurz verwirrt. Er hatte andere Schreie, andere Laute scheinbar von dem Mann erwartet. Nur für den Bruchteil einer Sekunde ließ er ab. Und das war Alles was Tyvurn brauchte. Mit aller verbliebener Kraft rammte er den Dolch in den Bauch des Wolfes. Beide Hände umfassten den Griff, zogen die scharfe Klinge hinauf. Er hörte das überraschte jaulen, das Wimmern des Wolfes als diesem der Bauch aufgeschlitzt wurde. Der Dolch schnitt durch das Fleisch, durch das Fell, öffnete weit den Bauchraum bis er irgendwann an einem Knochen anstieß. Blut rann aus jenem, nicht zu wenig. Es ergoss sich, einer Sturzflut gleich, rann über Tyvurn, bedeckte die eigene, aufgeschlitzte Rüstung. Verband sich mit seinem eigenen Blut, bedeckte in großen Mengen seine Wunden, bis von der Farbe der Rüstung nur noch wenig mehr zu sehen war als das dunkle Rot. Der Wolf wollte zurückweichen. Tyvurn, getrieben von blinder Raserei, klammerte sich mit einer Hand am Fell fest. In die wilden, animalischen Augen des Wolfes kam nun ein Ausdruck der zuvor in den Augen des Kriegers ruhte: Panik. Die Kreatur zerrte sich davon, trotz der Wunde noch erstaunlich stark. Doch der Griff des Kriegers blieb eisern. Es war nicht genug um das Tier an Ort und stelle festzuhalten. Stattdessen wurde er einfach mitgeschleift. Doch das war im egal. Mit der anderen Hand hob er den Dolch an und begann blindlings auf den Kopf des Wolfes einzustechen. Er hörte Knochen splittern. Ein schmerzerfülltes Jaulen. Spürte wie dann und wann er auf etwas weiches traf, der Dolch tief eindrang. Wieder und wieder hieb er zu, bis er nicht mehr konnte. Erschöpft ließ er los, von dem Wesen ab. Ließ sich fallen auf den Boden des Waldes.
 
Er sah nur noch, mit verschwommenen Blick, wie der Wolf sich in die Tiefen der Nacht zurückzog. Das Wesen hätte sterben müssen. Dürfte solche Wunden nicht überleben. Ehe die Ohnmacht von Tyvurn Besitz ergriff, trat ein Lächeln auf seine Lippen. Immerhin hatte er das Vieh noch mitgenommen. Es war am Ende wenigstens ein guter Kampf gewesen, ein ehrenvoller Tot. Und da wurde ihm schwarz vor Augen.
 
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Wider Erwarten kam er zu sich. Verloren wirkte er. Die Augen waren schwer, verklebt. Bewegen schien kaum möglich. Die Sonne blendete ihn. Für einen Moment sah er nur das Licht, wähnte sich bereits im Jenseits. Doch dann setzte die unweigerliche Erinnerung daran, dass er noch am Leben war, ein: Der Schmerz. Sein ganzer Körper war von einer kaum vorstellbaren Pein erfüllte. Die Wunden brannten, die Schulter konnte er kaum bewegen. Und doch, irgendwie, hatte er das Alles überlebt.
 
Zunächst bleib er nach kraftlos, geschwächt liegen. Wieviel Zeit wohl vergangen sein mochte? Stunden? Er hatte jegliches Gefühl verloren. Und als er endlich die Kraft aufbrachte sich zu erheben stand die Sonne bereits weit am Firmament. Sein Mund war trocken, die Kehle rau. Er war durstig. Verwirrt blickte er sich um. Zunächst konnte er sich nur dunkel erinnern wo er war. Doch nach und nach, als der Blick aufklarte und er die Umgebung sah kehrte die Erinnerung zurück. Überall sah er nur das dunkle Rot. Er selbst war voller Blut. Große Teile davon sein Eigenes. Aber ebenso viel mochte wohl von dem Wolf sein. Ein kehliges, tiefes Brummen entfuhrt ihm. Schmerzerfüllt verzog er das Gesicht als er sich langsam, unter Aufgebot aller Kräfte auf die Beine stemmte. Er musste hier weg. Raus aus den Wald. Wenn er noch lebte, lebte der Wolf vielleicht auch noch. Und wenn er zurückkommen würde, gäbe es diesmal keinen Kampf.
 
Er schleppte sich langsam durch den Wald. Schaffte es irgendwie aus jenem. Traf auf Menschen. Bei seinem Anblick wurden nicht viele Fragen gestellt, auch wenn er auf den Gesichtern der Fremden sehen konnte, das sie wohl Zahllose hatten. Kraftlos, geschwächt brachte er nur zwei Worte heraus. „Ansilon. Heiler.“.
 
Man brachte ihn in die Stadt. Lisander kannte Tyvurn. Es war in den wenigen Wochen die der Krieger in der Stadt verweilte oft genug passiert, dass er bei dem Heiler der Stadt aufgeschlagen war. Zumeist schimpfte dieser mit Tyvurn. Das er nicht vorsichtig genug sei. Oder zog ihn damit auf, dass er mal wieder in seiner Naivität blind in eine Falle gestapft war. Doch als er Tyvurn die Rüstung abnahm, die Wunden betrachtet blieb diesmal Alles aus. Bleich wurde der Heiler. Er sagte nichts. Und irgendwie war Tyvurn klar, dass er wohl noch immer in Gefahr war.
 
Er durfte das Heilerhaus nicht verlassen. Nicht einmal das Bett, außer um die Notdurft zu verrichten. Ständig von einem Heiler umgeben wurden die Wunden gehegt und gepflegt: Reinigung, Verbandswechsel. Die ersten Tage konnte er sich kaum rühren vor Entkräftung. Selbst das Essen oder das Aufsetzen fiel ihm schwer, war eine Tortur für ihn. Zunächst schienen die Wunden gut zu verheilen. Die Heiler waren gar ein wenig erstaunt über den Heilungsverlauf. Keine Infektion, kein Eiter trotz der Schwere und des Schmutzes trat auf. Nach vier oder fünf Tagen schien es beinahe so, als ob er frühzeitig aus dem Heilerhaus entlassen werden könnte.
 
Dann setzte das Fieber ein. Es begann plötzlich, begleitet von starkem Schüttelfrost. Ihm war kalt wie selten zuvor in seinem Leben. Er spürte wie sein Geist von dem Fieber ergriffen wurde. Mehr und mehr wurde er fahrig, reizbar. Er schob es auf das Fieber. Die Heiler waren zunächst ratlos. Die Wunden schienen gut zu heilen, selbst jetzt konnten sie keine Ursache für das Fieber ausfindig machen. Und von Tag zu Tag schien es schlimmer zu werden.
 
Wenn Tyvurn nicht gerade gereizt war und begann die Heiler anzuschreien, war er mehr und mehr im Delir des Fiebers. Selten hatte er sich so schwach, so krank gefühlt. Er verlor sich in Fieberträumen. Erinnerungen kamen hoch. An seine Eltern. An seine Geschwister. Bruchstücke der Vergangenheit schossen vor das geistige Auge und die meiste Zeit sprach er mehr im Wahn und Rausch, als das er bei klarem Bewusstsein war. Die Heiler schickten nach Leon. Doch nur wenig bekam er von der Anwesenheit seines Bruders mit. Man fürchtete um das Leben des Kriegers da die Heiler nicht mehr ein oder aus wussten. Kalte Waschungen, heilende Tees, ja selbst der Versuch von Magie schien wenig an seinem Zustand zu bessern.
 
Doch, nach 2 oder 3 Wochen, war es ebenso schnell vorbei wie es gekommen war. Eines Morgens erwachte Tyvurn. Das Fieber war weg und er fühlte sich so gut wie seit langem nicht mehr. Er begann zu Essen, sich zu bewegen. Die plötzliche Genesung verwirrte die Heiler ebenso wie das plötzliche Fieber. Und doch: Er schien gesund, kräftig. Einige Tage verblieb er noch im Heilerhaus. Lisander bestand darauf. Zur Beobachtung hieß es. Tyvurn war davon alles Andere als erfreut. Er begann erneut in scharfem Ton mit den Heilern zu reden wirkte einmal mehr gereizt, beinahe Jähzornig. Unter keinen Umständen wollte er hier länger gefangen sein. Etwas zog ihn hinaus, fort aus der Enge des Hauses. Er schob es auf den „Lagerkoller“. Dachte dass ihm die Decke auf dem Kopf fallen würde. Und nach einem weiteren Disput eines Abends bei dem Tyvurn sich lauthals über das Essen im Heilerhaus aufgeregt hatte, wurde es Lisander zu viel.
 
Tyvurn wurde aus dem Heilerhaus geworfen. Er selbst war nicht unglücklich darüber. Die Augen schlossen sich, zufrieden. Er atmete die kühle Luft ein. Spürte den Wind auf seiner Haut. Intensiv erlebte er die wiedergewonnene Freiheit, das er dem eigenen Tot so knapp entkommen war. Ein Hochgefühl überkam ihn, als er die Augen öffnete und in den klaren Nachthimmel hinaufblickte. Der Mond war am Zunehmen, hatte beinahe den Vollmond erreicht. Ein leises, zufriedenes Lachen entrann seiner Kehle als er den Blick langsam, zögerlich abwandte. Die Schritte lenkten sich gemächlich hinüber zu seinem Haus in Richtung des Hafens. Er wunderte sich, mit einem Grinsen auf den Lippen, als er durch die nächtlichen Straßen ging. War der Mond schon immer so schön gewesen?
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Tyvurn Dracon
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Re: Im Mondschein

Beitrag von Tyvurn Dracon »

Kapitel 1 – Roter Schnee
 
Der kühle Wind strich über die schneebedeckten Ebenen südlich von Winterberg. Der Schnee, Sand in der Wüste gleich, wurde verweht, bildete sanfte Hügel. Einsame Fußspuren zogen sich von dem Weg zwischen der Stadt des Nordens und Ansilon weg. Sie wanden sich durch den knietiefen Schnee, weiter weg von den möglichen Blicken Reisender. Nach und nach nahm das Wetter des Nordens sich der tiefen, großen Fußabdrücke an und verschüttete sie, bis schließlich nichts mehr an den einsamen Hünen erinnerte der zuvor durch das kalte Weiß gestapft war.

So, weit ab von jeglichen Wegen und anderen Menschen, vor einem Baum stehend schloss Tyvurn die Augen. Er horchte in sich hinein. Tiefer als er es noch vor wenigen Wochen je für möglich oder nötig gehalten hätte. Doch war seitdem das Leben ein Anderes. War er ein Anderer.

Er spürte es. Tief in sich: Die lodernde Wut. Den Zorn der in ihm ständig brodelte. Mal unter der Oberfläche verborgen, mal hochkommend – unkontrollierbar wie ein Brand der zu spät bemerkt wurde. Er bildete ein es sich zu hören: Das Knurren des Wolfes. Das Heulen. Und in der Dunkelheit die ihm die geschlossenen Lieder boten dachte er kurz das aufleuchten kräftiger, animalischer, eisig-blauer Augen zu erkennen.

Da entfuhr es ihm. Ein erster, lauter, wütender Aufschrei. Weit hallte er über die schneebedeckte Ebene und doch würden der Schnee und der eisige Wind das Geräusch verschlucken ehe es je an die Ohren eines Menschen drang. Doch der Schrei war nicht genug. Er spürte es hochkommen, spürte wie schon der Gedanke an das, was in ihm ruhte drohte ihn zu übermannen. Wie es den Zorn ins unermessliche steigen ließ. Wie der Wolf in seiner Brust mit ihm, dem Mann, rang und die Oberhand gewinnen wollte.

Das Feuer in ihm, der unkontrollierbare Brand drohte sich auszuweiten. Und hilflos wie er war, jung und unerfahren wie er als Wolf war, fiel ihm nur eines ein: Den Zorn in kontrollierte Bahnen zu lenken. Ihm verzweifelt ein Ventil zu bieten über das er entweichen konnte. Die Faust wurde geballt. Fingernägel gruben sich tief in das Fleisch und durchstießen dabei die Haut. Feine, kleine Blutstropfen bildeten sich und tropften hinab, hinterließen einem Kunstwerk gleich dezente, unregelmäßige Spuren im Schnee. Die Knöchel traten weiß hervor und da, noch ehe er einen weiteren Gedanken fassen konnte, holte er weit aus. Die Faust raste voran, schlug gegen den Stamm eines einsamen Baumes neben ihm. Die zweite Faust folgte.  Wieder und wieder, wie in blinder Raserei, schlug er gegen den Baum ein. Dem Baum selbst geschah nichts. Zu groß, zu widerstandsfähig war er. Unberührt wirkte er, wie jener da trotzte: Schnee, Wind und den Schlägen des Mannes. So war er auch noch gewesen vor wenigen Tagen. Ein ruhiger, ausgeglichener Mann der seine Gefühle im Griff hatte. Und, dem Sinnbild weiter entsprechend, war er es inzwischen der mit jedem Schlag, jedem Treffer seiner Knöchel auf die harte, raue Rinde, nachgab. War er nicht mehr der Baum, der Felsen in der Brandung. Bald tropfte das Blut von den Knöcheln, malte weiter Spritzer und zufällige Muster in den Schnee. Und doch – mit jedem Schlag den er ausführte, spürte er wie der Zorn verrauchte. Wie der Schmerz ihm Halt gab und ihn erdete.

Es waren noch frische Erinnerungen. An den Angriff des Wolfs. An den Aufenthalt im Heilerhaus. Und an jenen Tag, als ihm Etwas eröffnet wurde. Der Fakt, dass er nicht mehr der Selbe war. Es nie mehr sein würde. Unweigerlich kam ihm das Bild der Felder Ansilons vor die Augen. Wie er förmlich aus der Stadt geflüchtet war, getrieben von einer inneren Unruhe. Dem Gefühl der Enge, dass ihm die Stadt vermittelte. Erfüllt von „schlechter Laune“, wie er es genannt hatte.

Er stockte in seinen Schlägen. Eine innere Hitz erfüllte ihn, machte es ihm schwer zu Atmen. Mit einem tiefen, kehligen Knurren riss er sich förmlich den Fellumhang vom Körper, zog selbst die Weste aus. Beides landete achtlos im Schnee. Des Hemd, bereits schweißnass, klebte an seinem Körper. Die kalte Luft verwandelte den Schweiß, die Hitze die sein Körper abstrahlte, alsbald zu sichtbarem Dampf. Die Fäuste wurden erhoben, er betrachtete die abgeriebenen, blutenden Knöchel. Er konnte förmlich sehen wie die abgeriebene Haut verheilte, sich die Schürfwunden langsam schlossen. Und da war sie wieder: Die Wut. Erneut, mit einem lauten Schrei, schlug er ein ums andere Mal auf den Baum ein.
 
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Minerva hatte wütend reagiert. Er hatte es nicht zuordnen können. Es hatte ihn aufgerieben, ihn angestachelt. Die selbe Wut, der selbe Jähzorn welche seit damals beständig in ihm brodelten, hatten ihn erfüllt. Er hatte es nicht verstanden. Hatte er etwas falsch gemacht? Was sollte es gewesen sein? Sie hatte ihn fortgeführt. An einen Ort wo sie ungestört waren. Und sie hatte angefangen es ihm zu erklären.

Als erstes war da Unglaube. Zuerst hatte er nicht gewusst worauf sie hinauswollte. Danach hatte er gedacht sie würde ihn schlichtweg auf den Arm nehmen. Mehr und mehr hatte es ihn gereizt. Wieso sollte er diese Geschichte von Wolfsmenschen glauben? Es waren Märchen – nicht mehr. Die man sich am Lagerfeuer erzählte um von den Sorgen des Lebens abzulenken. Die man nutzte um Kinder zum Gehorsam zu bringen – weil sie sonst der große, böse Wolf holen würde.

Der Unglaube war geblieben. Bis sie ihn angefangen hatte zu provozieren. Die Erinnerungen an die Provokationen war verschwommen, kaum konnte er sich erinnern. Er wusste das er irgendwann Rot gesehen hatte. Gefühlt hatte wie etwas in seinem Inneren sich regte, aufbegehrte und herausbrach. Ihn eine Flut glühenden Zorns einfach wegspülte, dafür sorgte das er verloren war in einem Meer aus Wut.

Und dann war er aufgewacht. Nackt. Müde. Erschöpft. Verwirrt, dass er nicht da stand wo er stehen sollte. Desorientiert, weil die Kleidung die er eben noch trug am anderen Ende der Höhle in Fetzen lag. Und sein ganzer Körper schmerzte, als ob er stundenlang gekämpft hätte. Schwach, zittrig versuchte er sich aufzurichten. Die Wut war verflogen. Er musste sich ausruhen, fiel in einen unruhigen, oberflächlichen Schlaf.

Eine Stunde hatte er geschlafen? War es mehr gewesen? Weniger? Schwer zu sagen. Als er aufgewacht war, war Minerva mit frischer Kleidung dagewesen. Und während er sich anzog, wusste er instinktiv, dass Minerva die Wahrheit gesagt hatte. Er hörte ihr zu. Als sie zu erzählen begann: Vom alten Kodex. Jene erste und wichtigste Lektion die er zu verinnerlichen hatte, um jeden Preis.

„Wir werden vom Schicksal erwählt.“. Diese Zeile, die sie ihm gesagt hatte hallte wieder und wieder in seinem Kopf. Er haderte mit dem Schicksal. Seit Jahren schon. Geboren in Armut. Eltern früh verstorben. Selbst noch nicht ein Mann, aber verantwortlich für seine Geschwister. Das Lebend das sie führen mussten war ein hartes, karges und unnachgiebiges. Unverschuldet – in seinen Augen – hatte er aus der Heimat verschwinden müssen. Seine Schwester und seinen Bruder anlügen müssen. In der leisen, vorsichtigen Hoffnung, dass es ihnen hier besser gehen würde. Und zunächst hatte es so gewirkt. War er erfolgreich gewesen, waren sie der Armut entkommen. Sie waren sesshaft geworden, hatten Anschluss gefunden. Und da war sie mehr und mehr aufgekeimt: Die Hoffnung.

Doch scheinbar war es nicht sein Schicksal gewesen. Ein einfaches Leben zu führen. Denn so wie seine Eltern einst gestorben waren: War er ohne Zutun, ohne etwas unternehmen zu können - wie dereinst von einem Tag auf den Anderen - in ein neues Leben geworfen worden. Und es sah nicht rosig aus. Vorbei waren die Zeiten des kontrollierten, ruhigen Mannes mit dem höflichen Lächeln. Vorüber das Spiel, dass er gespielt hatte. Die Maske die er sich zurechtgelegt hatte, die Geschichte die er schreiben wollte: Alles war zerfallen.

„Du hast eine Chance verdient, mit dem Wolf in dir zu Ringen.“. So – oder so ähnlich – waren Tyladriels Worte gewesen. Jenes Mannes den er einst unter vollkommen anderen Umständen kennen gelernt hatte. Den er nun erneut kennen lernte.  Die Bedeutung dahinter wurde ihm von Tag zu Tag mehr bewusst. Denn es war ein Ringen, ein beständiger Kampf um Kontrolle. Ein Kampf von dem sein Leben und das Leben Anderer abhing. Spätestens seitdem er auf Livius getroffen war wusste er wieviel davon abhing. Das man ihm Fehler, einen Bruch der Regeln, nicht nachsehen würde. Zuviel stand auf dem Spiel. Es wirkte beinahe Hoffnungslos. Beinahe.

„Wir werden vom Schicksal erwählt.“. Waren Minervas Worte gewesen. Und mehr als er sich eingestehen wollte, mehr als er je an das Schicksal glauben wollte, bewahrheiteten sich die Worte. War es Schicksal das er sie zuvor kennen gelernt hatte? Erst eine zufällige Begegnung in der Trollschlucht. Dann eine weitere zufällige Begegnung am Pier in Ansilon, als sie seine Wunde geheilt hatte. Dann war sie zu den Bewahrern gekommen. Ein feines, zierliches Band hatte sich zwischen den Beiden gebildet. Eine zarte Pflanze, frisch aus dem Samen geschlüpft und erst wachsend, hatte sich gebildet und den Weg aus dem Erdreich an das Sonnenlicht gebahnt. Schicksal – was anderes konnte es nicht sein. Das er sie zuerst kennen lernte. Das sie die erste war, der er begegnete nach dem er vom Fluch betroffen wurde. Das sie sich seiner annahm, ruhig, unaufgeregt – und ihm damit ermöglichte nicht einfach fortgeschwemmt zu worden von den Wogen in seinem Inneren. Sie hatte sich seiner angenommen.
 
Sie gab ihm Rückhalt. War eine Stütze. War die Person zu der er ehrlich sein konnte, offen sein wollte. Und ihm half, dass er vielleicht doch in der Lage war noch seine eigene Geschichte zu schreiben.
 
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Er wusste nicht wie lange er auf den Baum eingeschlagen hatte. Die Knöchel brannten. Die Knochen seiner Hände schmerzten. Hatte er sie sich gebrochen? Mehrmals? Irritiert blickte er auf jene, betrachtete erneut dabei wie die abgeriebene Haut, das zerrissene Fleisch langsam zusammenwuchsen. Danach glitt der Blick hoch zum Baum. Die Rinde hatte ebenfalls einiges abgekriegt. Überall war Blut, an manchen Stellen war sie von den zahllosen Schlägen der Fäuste abgesplittert, abgerieben – wie die Haut an seinen Knöcheln.

Die Wut war verstummt – zumindest für den Augenblick. Sie würde wieder kommen. Aber sie hatte ihn nicht übermannt. Und da, unweigerlich, huschte ein kurzes Lächeln über sein Gesicht. Keimte die Hoffnung die erst in manchen Augenblicken verloren glaubte wieder auf. Er war kein gewöhnlicher Mann. Würde sich dem Wolf, der Wut in ihm nicht einfach willenlos hingeben. Nicht dem Zorn erliegen. Er würde lernen sie zu beherrschen – auch wenn es etwas war, dass momentan unmöglich schien. Er würde sich beweisen.

Die klatschnasse, durchgeschwitzte Kleidung klebte an seinem Körper als er sich hinabbeugte um den Umhang und die Weste aufzuheben. Er spürte die Kälte kaum, warf sich beides schlich über die Schulter als er die Schritte  zurück in Richtung Winterberg lenkte. Ein letzter Blick über die Schulter zu dem geschundenem Baum und dem roten Schnee folgte. Der Baum war angeschlagen. Ebenso wie er. Doch der Baum würde all das Überstehen und weiter heranwachsen. Und unweigerlich fragte er sich, ob dies ihm ebenso gelingen würde.
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Tyvurn Dracon
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Re: Im Mondschein

Beitrag von Tyvurn Dracon »

Kapitel 2 – Die Spur
 
Vor wenigen Tagen
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Grummelnd und mit einem leisen Stöhnen richtete sich Tyvurn auf. Er schmatzte auf, blickte sich um während er sich den Kopf rieb. Er sah Bäume, so weit das Auge reichte. Es brauchte einige Augenblicke um sich zurecht zu finden. Er war im Trolleichenwald. Hierher zog er sich inzwischen zurück, wenn er den Vollmond aufkommen spürte. Der Wald war weitläufig genug um sicher zu gehen, dass man keinen Menschen begegnete. Hier konnte er dem Wolf den Raum geben den dieser forderte.
 
Er verzog das Gesicht. Er schmeckte etwas Kupfernes, Zähes. Er spuckte es aus, was auch immer es wahr – auch wenn er eine grobe Befürchtung hatte. Angewidert blickte er auf das Stück Fell an dem noch ein Stück Fleisch hing. „Hase? Oder Reh?“. Tyvurn kniff die Augen zusammen, versuchte kurz zu erkennen was für ein Tier es einst gewesen war das der Wolf verschlungen hatte. Aber am Ende gab er auf. Es machte auch keinen Unterschied.
 
Er richtete sich auf. Wenn ein zufälliger Beobachter vorbeigekommen wäre hätte er wohl etwas verwundert reagiert. Der Hüne stand splitterfasernackt mitten im Wald auf der Lichtung, streckte sich ausgiebig. Die Gelenke waren etwas steif, die Muskeln verspannt. Jede Bewegung schmerzte. Und doch: Es wurde von Mal zu Mal ein kleines bisschen leichter. Er konnte sich kaum erinnern, wie lang es nun her war, dass er von dem Wolfsfluch getroffen wurde. Wochen? Oder waren es schon Monate? Die Hand legt sich an seine Wange, rieb nachdenklich über jene.
 
Er hatte eine Art „Beziehung“ zu seinem zweiten Ich entwickelt. So sehr man es „Beziehung“ nennen konnte, wenn man von tierischen Instinkte übermannt wurde und sich nicht an das erinnern konnte was in der Zeit der Verwandlung geschah. Am Anfang war es ein Kampf gewesen. Ein niederringen der tierischen Instinkte die ihn immer wieder zu überwältigen drohten. Er hatte sich mit aller Kraft, seinem ganzen Willen gegen jene gewehrt. Und es war ein verbissener, verzweifelter aussichtsloser Kampf gewesen.
 
Wie konnte man etwas bezwingen was Teil seiner selbst war? Wie sollte er gegen sich selbst kämpfen? Es hatte eine ganze Zeit gebraucht bis er in der Lage gewesen war sein neues Schicksal zu akzeptieren. Und es fiel ihm noch immer schwer. An manchen Tagen fluchte er, haderte er damit. Doch diese Tage wurden weniger. Manchmal schätzte er die Veränderungen. Seine Sinne waren schärfer geworden, er war schneller, stärker. Und auch die Wundheilung erwies sich als nützlich.

Irgendwann hatte er versucht ein stummes, wortloses „Abkommen“ zu schließen. Er akzeptierte die Instinkte. Ließ ihnen in einem gewissen Rahmen den Freilauf den sie brauchten. Es nutzte wenig ständig den brennenden Jähzorn, die Wut zu bekämpfen. Und so manch einer hatte sich seine Wut schon verdient. Da fielen ihm genug Beispiele ein, seit er in diese Lande gekommen war. Wenn es den Wolf nach dem Wald, nach Freiheit, gierte sollte er jenen haben. Wenn es ihn nach Blut dürstete, begab sich Tyvurn in die Höhlen. Er hatte sich vor einigen Wochen bereits dazu entschlossen die Wandlung in einen Wolf zu nutzen um dämonischen Kreaturen den Gar auszumachen.
 
Im Gegenzug gelang es Tyvurn mit der Zeit mit den Trieben, den Instinkten umzugehen. Sie waren noch immer sein ständiger Begleiter, noch immer gaben sie kaum eine Ruhe. Aber es fühlte sich weniger nach einem endlosen, ausweglosen Kampf an. Und mehr nach „Normalität“. Soweit man hierbei von „Normalität“ sprechen konnte.
 
eufzend, den Kopf schüttelnd, ging er über die Lichtung. Ungefähr wusste er wo er war. Er erinnerte sich an die Stelle wo er seine Kleidung abgelegt hatte. Es würde eine Zeit brauchen um an jene zu gelangen. Und so, als Mensch – soweit er noch Mensch war – lief er. Nackt. Durch den Wald. Er genoss das Gefühl der Erde unter den Fußsohlen. Roch die Waldluft, spürte den kühlen Wind über die Haut streichen. Es machte nichts wenn er sich an Dornen oder Ranken aufkratzte. Oder sich am Fuß verletzte weil er auf einen spitzen Ast trat. Sein Körper kümmerte sich um die kleinen Blessuren.
 
Wie hatte er es je anders ausgehalten? Er war in einer Stadt aufgewachsen. Hatte nichts anderes gekannt. Selbst hier, nach ihrer Ankunft, war er fast nur in Ansilon unterwegs. Doch seit er sich verändert hatte hielt er die Enge der Stadt kaum aus. Es war besser, seit sie im Anwesen außerhalb der Stadtmauern lebten. Seit er mehr Raum hatte. Und doch – der Wald war es wo er hingehörte. Mehr denn je spürte er das, tief in sich drinnen. Dunkel nur noch erinnerte er sich wie hilflos er sich noch vor wenigen Mondläufen im Wald bewegte hatte. Wie seine Größe, seine Statur vollkommen ungeeignet erschienen um sich durch das Dickicht zu bewegen. Sicher – er würde sich nie in vollkommener Lautlosigkeit durch dichtes Gestrüpp bewegen können. Aber instinktiv fanden die Schritte ihren Weg hindurch, sahen Pfade und Lücken die vorher seinen Augen verborgen waren.
 
Er vergaß die Zeit. Wusste nicht wie lange er so durch den Wald lief. Irgendwann fand er schließlich sein Ziel. Die Lichtung auf der er sich am Vorabend, als der Mond aufging, ausgezogen hatte. Es dauerte einen Moment. Angestrengt versuchte er sich zu erinnern. Wo hatte er die Kleidung hingelegt? Unsicher ging er über die Lichtung. Die Sonne schien verspielt durch das dichte Laubdach, die Strahlen wärmten sanft seine Haut.

Die Erinnerungen an die Zeit kurz vor der Verwandlung waren verschwommen. Je mehr er versuchte sich daran zu erinnern, umso mehr kamen da jedoch andere Eindruck auf. Verschwommen, unklar und unwirklich. Ein wenig als würde er sich düster an einen Traum erinnern aus dem er zu früh aufgewacht war. Tyvurn stockte in der Bewegung, runzelte die Stirn. Bruchstücke, Fetzen von Emotionen kamen zurück. Bilder an die er sich nur vage erinnern konnte. War es eine Jagd gewesen? Keine auf Monster. Auf Tiere. Keine bei der er einen Bogen oder einen Speer gehabt hätte.
 
Entfernt erinnerte er sich an das Gefühl der Hetz. An den Triumph als seine Zähne sich in den Hals seines Opfers gebohrt hatten. Den köstlichen Geschmack von Blut als er dem Tier die Kehle aufriss. Die tiefe Befriedigung die er dabei verspürt hatte. „Wildschwein also, hu?“ murmelte er mehr zu sich selbst. Die Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Bisher hatte er sich nie an seine Zeit als Wolf erinnert. Es waren große, schwarze Lücken in seinem Gedächtnis gewesen. Als ob nicht er in der Zeit Herr seines Körpers gewesen wäre. Als ob sein Geist eingeschlossen wäre und ein komplett anderes Wesen von ihm Besitz ergriff. Änderte sich etwas? Wenn ja was? Die Zunge, unwillkürlich, leckte über die Lippen. War es das er versuchte den Wolf zu akzeptieren? Und war der Wolf dafür im Gegenzug bereit ihn zu akzeptieren? Oder versuchte er hier nur zwanghaft der ganze Geschichte, die alles andere als „normal“ und „menschlich“ war Normen aufzudrücken damit sie Sinn ergab?
 
Beiläufig griff er in einen hohlen Baum und zog Stiefel, Hose und Hemd hervor. Die Verwirrung blieb. Und unweigerlich wurde ihm bewusst, was ihm Livius nach wie vor bei jeder Gelegenheit zu verstehen gab. Er war jung. Nach wie vor ein Welpe. Auch wenn er sich langsam mit seiner Existenz abfand, langsam lernte die Stärken zu nutzen und die Gefahren einzuschätzen. Mit einem leisen Seufzen zog er sich an. Einen Moment stand er noch neben dem Baum, die Hand auf die Rinde gelegt. Er würde gehen müssen. Bevor seine Mitbewohner Fragen stellten. Es war ein Gefährliches, riskantes Spiel das er trieb. Eines das vielleicht nicht aufgehen würde. Doch was war die Alternative? Sich für immer in die weiten des Waldes zurückziehen? Kurz schoss da ein Lächeln über sein Gesicht. Der Gedanke gefiel ihm eigentlich, sagte ihm zu. Doch noch war es nicht so weit. Noch gab es da einige Menschen die er gerne in seinem Leben hatte. Und so, schweren Herzens, klopfte er dem Baum auf die Rinde. Als ob er ein alter Freund wäre und dies ein Abschied.
 
Der Weg führte ihn quer durch den Wald nach Nordhain. Eine Stadt die er momentan mied. Erinnerungen die ihn etwas quälten machten den Aufenthalt eher unangenehm. Hastig ging er zum Reisemagier um unliebsame Begegnungen zu vermeiden. Ein kurzer Austausch von Gold, ein paar Worte und ehe er sich versah war Tyvurn wieder in Ansilon.  Er atmete etwas befreit auf, nickte mehr zu sich selbst als sonst wen. Ehe er den Weg zum Anwesen der Bewahrer fortsetzen wollte.
 
Ein wenig gedankenverloren ging er seines Weges, ehe er beim Nordtor Wortfetzen aufschnappte. Unweigerlich blieb er stehen, das Interesse war geweckt. „Schon gehört von dem Wolfsangriff?“.
 
Tyvurn legte die Stirn in Falten, wandte sich in die Richtung aus der er die Worte gehört hatte. Zwei Wachen standen beim Tor und unterhielten sich, beiläufig. Eine ruhige Schicht war stets Zeit für etwas Klatsch und Tratsch – das kannte er aus seiner Zeit bei Graupel. Und es war stets hilfreich den Klatsch und Tratsch der Torwachen zu kennen. Und so, mehr aus einer Vorahnung heraus als wirklich von einem logischen Gedanken getrieben, hielt er sich in der Nähe der Wache auf. Weit genug weg um nicht aufzufallen, aber nah genug um dem Gespräch lauschen zu können.
 
„Es gab einen Wolfsangriff?“ – „Ja, die alte Mathilde – die fette Bäuerin – hat erzählt, dass da ein riesiger Wolf gestern Nacht kam. Sie hätte ihn fast nicht bemerkt, wenn der Vollmond ihn nicht beschienen hätte. Hat wohl das Holzgatter durchbrochen und ein paar Schafe gerissen.“. Tyvurn schluckte, verborgen um die Ecke. Es klang vertraut. Unweigerlich dachte er zurück, an jene verhängnisvolle Nacht als er in den Wald ausgezogen war als Langeweile und Rastlosigkeit. Daran wie er dem Wolf begegnet war der mehr war als er zu sein schien. An den Kampf und daran, dass er bis heute nicht sicher war ob er das Mistvieh getötet hatte oder nicht. Er dachte an das Versprechen das er Livius gegeben hatte. An die Worte von Tyladriel als dieser meinte, dass wenn ein Wolf käme einer gehen müsste. Damit das Gleichgewicht bewahrt wäre. Und er dachte daran, dass er derjenige sein wollte der diesem Vieh den Kopf abriss.
 
Konnte es sein? All die Wochen war es ruhig gewesen. Sicher – er war mit anderem beschäftigt gewesen. Untoten Drachen, Sternendrachen, Dämonenportalen und anderen Aufgaben denen die Bewahrer nachgegangen waren. Er war mit sich selbst beschäftigt gewesen. Doch hatte er stets Augen und Ohren offen gehalten. Doch nichts – nirgendwo in den Wäldern von Ansilon war etwas auffällig, verdächtig gewesen das auf einen anderen seiner Art hätte hinweisen können der sich nicht im Griff hatte. Dies war der erste Vorfall seit Wochen der eine Spur sein konnte. Er spürte wie das Herz etwas schneller schlug. Angespannt, neugierig lauschte er weiter.
 
„War auf jeden Fall südlich, an der Grenze zum Wald. Ungewöhnlich – einmal das ein Wolf sich so nah an die Stadt ran wagt. Und das er so groß ist das er einfach einen Holzzaun durchbrechen kann. Muss wohl toll gewesen sein, das Vieh. War hoffentlich nur eine einmalige Sache – würde nicht gerne nach einem tollwütigen, riesigen Wolf suchen nur damit die Bauern sicher sind.“. Die zweite Wache brummte nur zustimmend, ehe sie sich abwandte.
 
Hastig wandte sich Tyvurn ab, beschleunigte die Schritte zum Anwesen. Das war eine Spur. Sicher – es konnte nur ein Wolf sein. Aber verdächtig genug war es allemal. Er würde sich dort umsehen müssen. Gründlich.
 
Heute
_______
 
Der Vollmond war nur wenige Tage her. Tyvurn stand mit fester, wettersicherer Kleidung in einem dunklen Grün an der Grenze zum Wald. Die Augen fuhren über die Bäume die wie eine immergrüne Mauer vor ihm aufragten. Er war angespannt. Die Spur war wahrscheinlich kalt geworden. Er hatte sich die letzten Tage schon immer wieder herumgetrieben. Er hatte die fette Mathilde – sie war wirklich so wie es ihr Name verriet – besucht. Fragen gestellt, unauffällig. Sich als Jägersmann ausgegeben der auf der Suche nach einer Trophäe war. Ein wenig Gold hatten ihre Zunge locker gemacht – doch allzu viel konnte sie nicht sagen. Am Ende half es nichts – er würde sich in den Wald selbst begeben müssen. Den Wald wo vor einigen Wochen alles angefangen hatte. Die Hand legte sich auf seine Schulter. Er dachte an manchen Tagen noch den Schmerz zu spüren. Die Stelle wo der Wolf seine Zähne in ihn geschlagen hatte. Es war wohl nur Einbildung, aber die Erinnerung blieb. Er würde einige Zeit hier bleiben müssen. Wohl den Kampf gegen Morgun verpassen wenn er Pech hatte. Aber das hier war genauso wichtig. Und etwas das nur er erledigen konnte. Ein letzter, tiefer Atemzug folgte ehe er mit einer Hand fest den Schwertgriff umklammerte. Das Gesicht wurde grimmig, ein wütendes Lodern keimte in den Augen auf.„Wir haben eine Rechnung zu begleichen, Mistvieh.“.
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Tyvurn Dracon
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Re: Im Mondschein

Beitrag von Tyvurn Dracon »

Zwischenkapitel - Der verschwundene Bruder

Der gestrige Abend hatte vieles verändert. Vieles aufgewühlt. Da war die Untersuchung des verdorrten Wechselbalgs gewesen. Etwas, das man sich ehrlicherweise hätte sparen können. Das Ergebnis war für ihn nach wenigen Blicken klar: Der Balg starb. Wie eine Pflanze die man zu lange vernachlässigt hatte war sie jenseits jeder Rettung. Und doch: Er spielte einmal mehr die Hand der Magier. Einmal mehr, packte er an wo andere nur zusahen. Er fragte nach was er tun sollte, was sie vor hatten. Lyna, als einzige, machte sich daran die Kreatur genauer anzusehen. Davion als einziger der anderen Magier sich einbrachte. Der Rest? Gebar als einzige Idee „Bringen wir es zu Süßwasser.“. Selten in seinem Leben hatte sich Tyvurn dermaßen verarscht gefühlt, seine Zeit derlei verschwendet gewusst. Während sein Bruder verschwunden war, zog er eine tote Pflanze über die Insel der Hochelfen.
 
Irgendwann reichte es ihm. Es war kein unabsichtliches verplappern. Kein Ausplaudern. Es war durchaus bewusst gesagt. „Gut. Wäre das erledigt? Ich muss noch meinen Bruder suchen.“. Hatte er gewusst was für ein Fass er damit aufmachte? Gewusst die Reaktion erfolgen würde? Er hatte eine ungefähre Ahnung gehabt – und sie trat sogleich, mit vehementer Härte ein. „Schweig, Krieger. Du elendiger…“. Das waren noch die harmlosesten, liebenswürdigsten Worte die Livius an diesem Abend zu ihm sagen würde. Doch es kümmerte ihn nicht mehr. Er war so oft von Livius bedroht worden, hatten schon Schlimmeres erdulden müssen. Es waren nur noch leere Worte. Tyvurn log auf die Nachfrage von Davion und Alira. Er bemühte sich nicht einmal gut zu lügen. Es war ihm in diesem Augenblick schlichtweg egal, wer was wusste. Es reichte ihm. Leon war lange verschwunden und sie traten auf der Stelle. Alle Pläne die er mit Luci und Lyna gehabt hatte, hätte er gerne mit Livius abgesprochen. Doch dieser? War ebenso verschwunden wie Shira. Während er das zu einem gewissen Maß noch nachvollziehen konnte, dass sich Livius um die Erkrankte kümmern wollte, empfand Tyvurn starke Unzufrieden wie sie als Gilde mit dem Verschwinden von Leon umgingen. Wie sie mit dem Wissen, dass sie hatten umgingen. Empfand er Abscheu über die Heimlichtuerei – nicht nur nach Außen hin. Er wusste, schon länger, dass man ihm bei Weitem nicht in alles einweihte. Was er zumeist schlichtweg akzeptierte. Doch nun ging es um seinen Bruder.
 
Lyna, Luci und Vincent sowie er standen schließlich im Hafen von Ivren’mir. Warteten auf Livius und Shira. Das Warten kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Er wurde zusehends unruhiges. Sollte er einfach gehen? Sollte er warten? Er wäre wohl längst verschwunden, aber noch am gestrigen Abend hatte Livius ihm neue Informationen zu den Wechselbälgern versprochen. Informationen die er noch immer nicht erhalten hatte. Wie ein getriebenes Tier ging er auf und ab. Die anderen Bewahrer wurden unruhig. Sie spürten wohl wie sehr es in ihm brodelte. Und ohne zu wissen warum, ohne zu erahnen was in ihm vorging. Er wurde bissig, gereizt. Er begann Sachen zu sagen, ihnen Dinge vorzuwerfen die nicht gegen sie gerichtet waren. Es sollte ihm später leidtun. Es quälte ihn noch am nächsten Tag, das er Lyna sowas an den Kopf geworfen hatte. Das er sich vor Luci und Vincent so verhalten hatte. Er wusste, dass jeder der Drei Leon ebenso sehr vermisste wie er. Das sie Alle ihn zurückhaben wollten.
 
Als Livius und Shira endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit kamen spürte Tyvurn wie es stärker und stärker in ihm brodelte. „Wurde Zeit, dass ihr mal auftaucht.“. Keine Sekunde dachte er daran seine Wut zu verbergen Seinen Unwillen das alles einfach so weiter zu tragen wie sich Livius und Shira das wohl vorstellten. Er war es Leid, nur eine dumme Schachfigur in ihrem Spiel zu sein. Livius war nicht weniger erregt als Tyvurn. Die Blicke welche die Männer sich zuwarfen waren tödlich, die Anspannung in der Luft beinahe zum Angreifen. Zügig führte der Weg ins Anwesen der Bewahrer.
 
Kaum dort angelangt war es wieder so weit. Livius sprach seine Befehle. Erwartete das Tyvurn stumm und ohne Widerworte folgte. „Nein.“. Eine simple Antwort, ein Zeichen des Widerstands. Das würde hier und heute geklärt werden. „Wir diskutieren nicht. Mein Geduldsfaden ist am Ende, Tyvurn.“„Meiner ebenso.“. Was folgte war nur ein weiterer Streit. Eine weitere Meinungsverschiedenheit zwischen Tyvurn und Livius. Livius schickte alle Bewahrer bis auf Shira aus dem Raum, versiegelte jenen magisch. Worte wurden gebrüllt. Ein Schlag verteilt. Tyvurn hätte gerne gesagt, dass dies ein verstörender Moment im Gildenleben war. In Wahrheit waren das nur er und Livius die schon wieder aufeinanderprallten. Zwei unnachgiebige Felsen, die kollidierende Sterne die ihre Sturheit in einer Explosion aus Wut und Jähzorn entluden.
 
Und dann kam irgendwie die Neuigkeit. Leon lebte. Shira’niryn und Livius wussten davon. Mehr noch. Sie hatten ihn getroffen. Da war Erleichterung. Und doch war diese Erkenntnis mehr als nur ein Schlag ins Gesicht. Sie wussten das sein Bruder lebte. Und hielten es nicht für nötig ihn zu informieren? Mehr noch. Sie hatten es ihm bewusst vorenthalten. Hielten von ihm scheinbar so wenig, dass sie ihm dieses Geheimnis nicht zutrauten. Livius sprach ihm jedes Recht ab davon zu wissen. Als ob Tyvurn nicht das Recht hätte um die Unversehrtheit seines Bruders zu Wissen? Nicht von seinem Aufenthaltsort zu wissen? Da kamen sie wieder. Die inzwischen zur lästigen Gewohnheit gewordenen Todesdrohungen von Livius an ihm. Und Tyvurn spürte in dem Moment mehr denn ja, dass alles was er und Livius jemals an Beziehung, an gemeinsamer Basis hatten wohl unwiderruflich zerstört war. Er verspürte den Drang den Magier in Stücke zu reißen, ihm das Herz rauszureißen – wie Livius es einst bei ihm tun wollte.  Tyvurn erinnerte sich: An den Moment als der Magier ihn mit Feuermauern eingekesselt hatte. Als die Klauen des Magus sich tief in seine Brust gebohrt hatten. Als er ihm beinahe das Leben genommen hätte. Selbst der damalige Akt war nicht geklärt bis heute. Und nun, legte es Livius darauf an indem er Tyvurn von seinem Bruder fernhielt?
 
Sicher. Er und Leon waren keine engen Brüder gewesen. Jeder hatte immer seine Geheimnisse gehabt. Seinen eigenen Weg. Leon als Lehrling der alten Agathe. Tyvurn in seinen Machenschaften für Hendrik. Und doch: Wann immer jemand Leon bedroht hatte, hatte er dafür gesorgt das es nie wieder geschah. Wenn jemand Leon weh getan hatte, hatte er demjenigen die Schmerzen hundertfach zurückgezahlt. Wenn jemand Leon etwas weggenommen hatte, war er aufgetaucht. Und so wie damals, als Leon noch ein Kind war, würde er heute nötigenfalls die Welt in Brand setzen, durch Meere von Blut waten, alles und jeden zermalmen der sich zwischen ihm und seinen Bruder steckte. Bis Leon wieder in Sicherheit war. Und dann seine Geheimnisse, seinen eigenen Weg gehen konnte.
 
Doch Livius verstand das nicht. Und so kam in ihm der Gedanke auf, mehr und mehr, dass Livius nur ein weiteres Hindernis war das zwischen ihm und seinem Bruder stand. Und der einzige Grund, dass er es nicht versuchte zu beseitigen, war Respekt den anderen Bewahrern gegenüber. Das er dies Luci nicht antun wollte. Oder Lyna und Vincent.
 
„Sechs Mondläufe, Tyvurn. Wie konntest du das nicht bemerken?!“. Der Vorwurf in der Stimme. Die Unmöglichkeit der Information. All dies ließ irgendetwas in Tyvurn für einen Augenblick brechen. Wie konnte das sein? Das würde ja bedeuten, dass Leon noch in Graupel nicht mehr Leon war? „Er war sechs Monate lang entführt. Und ausgetauscht, gegen diesen anderen Leon.“. Shira’s Worte schnitten tiefer in die Wunde, rissen sie auf. „Unmöglich.“ Stammelte er. Es konnte nicht sein. Er wollte diese Wechselbälger finden. Jagen. Sie in Stücke reißen als blutige Rache, Vergeltung für das was sie ihm und seinen Bruder angetan hatten. Er sprach den Gedanken aus. „Wie willst du sie alle finden, wenn du nicht einmal Leon aufgedeckt hast?“. War es Absicht? Das sie ihm nun das Herz aus der Brust riss, es auf den Boden warf? Das in all den Vorwürfen, die er sich ohnehin schon selbst machte, sie noch auf jenem herumtrampelte? Er hatte Livius schon langer nicht mehr Vertraut. Und der kleine Kristalldrache war dabei ebenfalls alles was Tyvurn von ihr hielt, was er an Vertrauen aufgebaut hatte zu zerstören. Worte fielen. Hässliche Worte. Worte die er diesmal nicht bereute. Der Moment als er sich das Abzeichen der Bewahrer von der Brust riss und es auf den Boden warf fühlte sich in dem Moment nach Genugtuung an. Nach Befreiung. „Sucht euch einen anderen Idioten.“ „Du und Shira – ihr helft nicht. Ihr benutzt nur.“. Nur einige der hässliche Worte und Anschuldigungen die fielen. Die er ihnen in Rage entgegenspie. Enttäuscht. Frustriert. Und von dem Zorn in ihm gedrängt. Einzig das Argument Livius, dass er sie brauchte war der Grund dafür, dass er das Abzeichen wieder annahm.
 
Worte die er nur noch am Rande vernahm. Die er zuerst nicht so Recht zuordnen wollte. „Du handelst so, weil du ein impulsiver Mensch bist, der durch sein – zweites – Ich nur noch impulsiver wird. Du denkst nicht nach.“. Er später wurde ihm die Tragweite dieser Worte klar. Erst später war für ihn damit klar was es bedeutete. Shira wusste ES. Und Livius hatte ihr davon erzählt. Das würde er auch noch klären müssen. Soviel zum alten Kodex.
 
Er war die Nacht über in seinem Zimmer gewesen. Hatte kaum geschlafen. Erst am nächsten Morgen war er herausgekommen. Und das morgendliche Gespräch mit Lyna führte ihm vor Augen, dass er wohl ebenso viel zerstört hatte wie Livius und Shira. Das er in seiner Rage über den Verlust des Bruders Leute vor den Kopf gestoßen hatte die er nicht verletzen wollte. Die Entschuldigung schien auf taube Ohre zu stoßen. Der Zynismus, die Kälte die ihm entgegenschlug waren wohl verdient. Das musste er aushalten. Und doch…
 
Und doch war es langsam zu Viel. Er hatte es Lyna gesagt. Er fühlte sich nicht mehr Wohl bei den Bewahrern. Nicht das Anwesen war gemeint. Die Gemeinschaft. Er würde abwarten. Warten bis Leon in Sicherheit war. Und dann? Dann würde er sich überlegen müssen. Die Wahrheit war die, dass seit er das Abzeichen wieder trug er es wieder runterreißen wollte. Die Schmach, der Schmerz und das Gespräch von gestern wogten noch in ihm. Mit einem Male fühlte es sich wie ein Fremdkörper an. Er hätte mit Livius und Shira am liebsten sofort gebrochen. Aber für Leon musste er es noch aushalten. Und Luci, Lyna, Vincent. All die Anderen. Sie brauchten ihn. Spätestens wenn wieder irgendwer vor irgendwelchen Monstern beschützt werden musste. Aber ob es reichen würde? War seine Zeit bei den Bewahrern bereits kurz davor zu Ende zu gehen?
 
Doch bis es soweit war? Ging er nach Nordhain. Ursprünglich im Gedanken bei Tyladriel unterzukommen für ein paar Tage, sich wieder mit Minerva zu treffen. Oder die meiste Zeit alleine im Wald zu sein.
 
Er konnte 1 und 1 zusammenzählen. Vor zwei Tagen hatte Shira’niryn ihr Treffen bei den Waldelfen gehabt. Er hatte sie zum Reisemagier getragen. Wenig später hatte Livius von neuen Informationen gesprochen.  Am nächsten Tag diese Entwicklungen. Die Waldelfen mussten etwas wissen. Vielleicht war Leon bei ihnen? Wenn Livius und Shira’niryn ihm schon nicht helfen wollten, ihm nichts sagen wollten – dann würde er selbst nach seinem Bruder suchen. Würde er die nächsten Tage jenen durchstreifen. Er würde für einige Tage schlichtweg verschwinden. Nur Lyna hatte er gesagt wo er war. Sie hatte ihm sogar, trotz der Anspannung zwischen ihnen, noch geholfen. Ihm eine Möglichkeit geboten unterzukommen wo er alleine war. Wo er in Ruhe nachdenken konnte.
 
Und so lenkte der Krieger die schweren Schritte voran, tiefer in den Wald. Tief genug um sicher zu gehen, dass keine Menschenseele ihn sah. Er zog sich aus, versteckte die Kleidung. Er konnte sich nach wie vor nur Bruchstückhaft erinnern. Wie ein Traum wo Fetzen der Erinnerung dem wachen einschossen war seine Zeit als Wolf. Aber er hoffte, betete, dass er sich erinnern würde. Das der Wolf es ihm sagen würde, wenn er seinen Bruder fand. Und so, unter Schmerzensschreien formte sich der Körper. Schreie die ihm dichten Grün des Waldes von den Bäumen verschluckt wurden, Vögel aufstießen. Der Mann verschwand, der Wolf tauschte mit ihm Platz. Der Geist begann zu dämmern, abzudriften. Ein letzter Gedanke an dem sich der Mensch festklammerte. „Finde meinen Bruder. Bitte.“. Der Wolf übernahm, drängte den Mann zurück bis dieser gänzlich von der Schwärze verschluckt wurde, dämmerte und keinen Einfluss mehr über den Körper hatte der ihm einst zu eigen war. Und der Wolf zog los, hinein in den Wald.
Der gestrige Abend wog schwer auf seinen Schultern. Er spürte das Gewicht, die Last die mit jedem Tag schwerer wurde. Mit jedem Tag an dem er seinen Bruder nicht finden konnte und die Hoffnung ein wenig schwand. Die Schritte die er setzte verliefen im Sand, die Spuren die er in jenem suchte schienen vom Meer weggespült zu sein. Und mit jedem Tag, jeder Stunde wurde er gereizter.
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