Gottgeschaffene Gottheit

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Teana/Juliane/Dariel
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Gottgeschaffene Gottheit

Beitrag von Teana/Juliane/Dariel »

Nach langer Abwesenheit kehrte ich Dariel also an den Ort der ursprünglichen Sünde zurück. Dorthin zurück, wo ich die Lebzeit ziehen ließ und der Tod mich bereitwillig umarmte und mir seinen eiskalten Kuss auf die Stirn drückte.

Lange Zeit war ich fest davon überzeugt, dass ich gegen mein damals neues Dasein hätte ankämpfen müssen. Meine achso teure Menschlichkeit musste ich mir unbedingt bewahren und durfte nicht zu dem Monster werden, dass mich regelgerecht auf diesen Weg gezwungen hatte.
Lange Zeit betrauerte ich die Überreste meiner menschlichen Vergangenheit. Außer in mir verblassende Erinnerungen ist heute nicht mehr viel davon über.
All die Schmach, die Trauer und der Zorn verblassen mit diesen Erinnerungen und ich werde mir über die Tatsache bewusst, dass ich besser bin.
Besser als all die sterblichen Wesen um mich herum. Die Vollkommenheit wurde mir auferlegt und nie habe ich mich auch nur einen Hauch darum bemühen müssen. Heute nenne ich es nur noch eine glückliche Wendung des Schicksals.

 
Anfänglich umgarnte ich noch eine junge Frau – Shirin war ihr Name. An ihr wollte ich die Liebe entdeckt haben, verweilte nahe – beinahe zu nahe an ihr und gab mich selbst der Illusion hin, dadurch menschlicher geworden zu sein. Durch Worte und Nähe verspürte ich vermeintliche Liebe, die ich nicht mehr von mir lassen wollte. Die Sehnsucht nach der Menschlichkeit ließ mich mehr zu einem Monster werden, als es die Akzeptanz der Dinge damals je zugelassen hätte. Doch diese Welt, in die ich hineingeboren wurde – diese Neue Welt war mir fremd und ich kannte sie, ihre Bewohner und das herrschende Regelwerk nicht.
Ja, neben mir gibt oder gab es noch viele anderer Vampire und doch hegte ich nie auch nur einen Deut an Verlangen mich mit diesen abzugeben. Viel zu sehr hatte ich meine Mutter – Renessa – zu hassen gelernt. In jedem der anderen Vampire sah ich ein Stück von ihr aufflammen. Waren sie alle ihre Kinder? Einige von ihnen bestimmt – doch gewiss nicht alle. Dafür war sie nicht mächtig genug – was ich mir erst nach langer Zeit eingestehen wollte und konnte. Und trotzdem sah ich in jeder vampirischen Gestalt Renessa als Ursprung somit auch einen in mir aufkeimenden Ekel, der mich jedweden Kontakt zu diesen Wesen unterbinden ließ.
Doch das blieb nicht so. Später lernte ich auch andere Wesen vampirischen Ursprungs kennen. Man verstand sich und kam miteinander aus und doch füllten diese Wesen die Leere nicht, die sich tief in mir ausgebreitet hatte.
Shirin war dazu in der Lage gewesen – scheinbar und das für lange Zeit, bis sie selbst ihre Nähe zur Menschlichkeit vernachlässigte und mehr und mehr zu etwas fremdartigen wurde.

Ich unterbrach die Verbindung zu diesem sterblichen Geschöpf, betrachtete sie noch lange Zeit sehnsüchtig aus den Schatten heraus und erhoffte mir wohl einen Weg zu erkennen, auf welchem wir beide glücklich und zufrieden nebeneinander hätten traben können. Welch schmalzigen, bittersüßen und zugleich märchenhaften Gedanken, die ich mir damals immer und immer wieder selbst entgegenrief.
Doch ich war jung und wusste es nicht besser. Die Naivität war mir ins Gesicht geschrieben und die Unkenntnis über mein wirkliches Sein prägte all das selbstgefällige Handeln.

Heute weiß ich, dass ich besser als die Summe aller Erfahrungen bin, die ich durch diese Lebewesen der einstigen Vergangenheit ergattern durfte.
Ich zähle mich nicht etwa zu den besseren Lebewesen dieser Welt auf – nein, das bin ich nicht. Ich habe mein Leben bereits lange hinter mir gelassen und zähle viel mehr zu denjenigen Existenzen, die stillschweigende Betrachter von Leben und Tod sind und den Zyklus von Geburt, Leben und Tod in vollen Zügen betrachten, miterleben und beeinflussen können. In den Schatten der Nächte wandere ich umher, nähre mich von wem ich möchte und tilge von dieser Welt wen ich möchte.
Beinahe gottgleiche Charakterzüge sind es, die mir zu teil wurden und das möchte ich nicht abstreiten. Trotzdem fehlte lange Zeit etwas. Wer sich von den Kindern dieser Welt nährt und sie nach Belieben zu erlösen vermag, möchte auch das Leben nach Belieben geben. Nur so kann der Kreis geschlossen werden, um selbst fortan Gott gerufen zu werden.

Zweifelsohne bin ich eine gottgeschaffene Gottheit, die über Leben und Tod herrscht. Wie kam ich dazu, diese Lettern niederzuschreiben? Vielleicht sogar in der Furcht wiegend, die Sterblichen könnten in einigen Jahrzehnten oder Jahrhunderten davon erfahren?
Furcht ist ein instinktiver Akt der Menschen, um sich eben diese Sterblichkeit bewahren zu können. Als gottgleiches Wesen unter den Sterblichen, sind diese Instinkte für mich belanglos und haben keinerlei Spielraum in meinem Einflussbereich. Auch ist dies nicht alleinig mein Verdienst.

Ich kehrte dieser Neuen Welt in die ich geboren wurde den Rücken, um als gottgleiche Existenz wiederkehren zu können.

Es begann alles mit Lucas.
 
Zuletzt geändert von Teana/Juliane/Dariel am 13 Apr 2021, 01:34, insgesamt 1-mal geändert.
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Teana/Juliane/Dariel
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Klippen der Tiefe

Beitrag von Teana/Juliane/Dariel »

Ich habe diesen jungen Kerl als äußerst theatralisch und dünnhäutig kennengelernt. All die Veränderungen in seinem Dasein nahm er nicht sonderlich gut auf. Mit äußerster Strenge lag mein Augenmerk Wochen auf ihm, bevor ich ihn auswählte und ihm das Leben schenken wollte.
Bevor sich unsere Wege das letzte Mal trennten, konnte ich eine Niederschrift seiner Atemzüge vorfinden. Natürlich gierte es mich danach zu erfahren, welche Gedankenströme diesen jungen Kerl bezüglich meines Wesens durchdrangen.
Unsere Wege hatten sich bereits getrennt und doch war ich immer noch fortwährend präsent. Ich griff mir das Büchlein und erkannte in den dort festgehaltenen Worten seine äußerst subjektive Art der Geschehnisse.
Tatsächlich wollte er diese mit den Menschen um sich herum teilen. Ich bin mir nicht sicher, ob er sich lediglich nach der Aufmerksamkeit und dem vermeintlichen Verständnis vieler sehnte oder aber nur den ewigen Tod herbeirufen wollte.
Ich nahm das Buch mit mir, verinnerlichte den Inhalt das erste Mal nach meiner Rückkehr nach Ansilon und las was Lucas zu sagen hatte.
Dieses Buch widme ich einzig und allein den Personen, die mir ihre Liebe zu Teil werden ließen - meinen Eltern und der Frau die mich nach dem Verschwinden meines Vaters großzog.

Nach reichlichen Überlegungen schrieb ich dieses Tagebuch. Erinnerungen aus längst vergangenen Zeiten habe ich in diesem Schriftstück verewigt. Schließlich habe ich den Entschluss gefasst, dass Menschen wie du, das Recht besitzen, etwas über mich zu erfahren. Wer ich bin? Niemand den du wirklich kennen solltest. Heutzutage wird der Bekanntheitsgrad einer Person über die Präsentation seiner Selbst in der Öffentlichkeit bestimmt. Ich bin weder ein großer Redner noch eine Person der Öffentlichkeit. Kein großartiger Barde und auch kein populärer Bühnenkünstler. Obwohl Letzteres wohl am ehesten auf mich zutreffen würde, wenn man mich denn danach fragen würde. Für die Leute in meiner Umgebung gebe ich vor jemand zu sein, der ich nicht bin. Ich wandere neben ihnen her, um nicht aufzufallen und verberge mein wahres Ich.
Heute lebe ich im neuen Kronstadt, im entfernten, östlichen Teil des Landes und versuche ein halbwegs normales Leben unter all den Menschen um mich herum zu führen.

Vielleicht wird mein Tagebuch tatsächlich weitergereicht, an die verschiedenen hier lebenden Generationen dieser Welt, um die meinen so besser kennen lernen zu dürfen. Du verstehst nicht was diese Zeilen zu bedeuten haben, so lass es mich dir erklären und nimm dir ein wenig Zeit, denn die wirst du brauchen.

Mein Name ist Lucas.
Normalerweise beginnen Bücher stets mit persönlichen Angaben der Hauptperson. Der Geburtsort des Protagonisten, wo und wie er gelebt hat oder andere unwichtige Gegebenheiten, die keinen näheren Bezug zur eigentlichen Geschichte haben. Genau diese Erzählungen beginnen auch oft mit Magie, Zauberwesen oder anderen Welten.
Doch diese Geschichte beginnt ohne all diese Besonderheiten und bezieht sich zunächst lediglich auf die damals präsenten Tatsachen, die mein Leben zu dem machten, was es denn damals war.
Vielleicht wird dir dieses Werk helfen, mehr über die Wahrheit ihres Daseins zu lernen oder aber du stempelst dieses Buch als Unterhaltungsmedium ab – ich überlasse es dir.
Um niemanden verletzten zu müssen, meiden die Unsterblichen die Menschen oder mischen sich nur selten unter sie. Einige der schaurigen Märchen sind wahr, andere wurden von Betrunkenen, Gauklern und anderen Narren erschaffen, um damit zu Geld zu kommen. Der märchenhafte Zauber, die Romantik und die damit verbundene Übermacht, die diesen Wesen zugeschrieben wird, ist nichts weiter als ein Märchen.
Nach und nach, werde ich dir einiges über die Verbreitung, die Weiterentwicklung von Gesetzen unter den entstandenen Hierarchien der Unsterblichen berichten.
In Wirklichkeit sahen es viele unter ihnen als einen rastlosen Fluch an. Natürlich gab es auch diejenigen, die es als die heilige oder dunkle Gabe ansahen. Unsterblichkeit, die ewige Jugend und ausgiebiger Schutz vor Krankheiten und Seuchen. Das war oder sage ich besser ist immer noch der Traum eines jeden Menschen auf dieser Welt und das seit Menschen Gedenken. Trotzdem bleibt es für mich selbst nur die halbe Wahrheit.
Wer erst die endlosen Jahre als ständige Begleiter hat, wird die Sterblichkeit zu schätzen wissen. Natürlich mag das zunächst nicht nachvollziehbar und äußerst unschlüssig klingen. Denn man stelle sich vor was man alles erreichen könnte, wenn diese Beschreibung auf ein Wesen zutreffen würde.
Und doch wage ich zu behaupten, dass nur derjenige, der von der Unsterblichkeit kosten durfte, schlussendlich die Bedeutung der Sterblichkeit zu würdigen wissen wird.
Ist es denn nicht das vorausbestimmte Ziel eines jeden Lebewesens, irgendwann seinem Ende entgegenzutreten? Und doch versucht der Mensch seit je her, dem Unausweichlichen auszuweichen.
Irgendwann während unseres Daseins auf dieser Welt, werden wir einen Punkt erreichen, der uns von dieser Welt scheiden wird. Du lebst dieses unbekümmerte Leben, fragst dich wahrscheinlich nach einem tieferen Sinn des Lebens und schlussendlich weißt du doch, dass es irgendwann ein Ende nehmen wird – am Ende wird niemand nach deiner Meinung oder deinen Erfahrungen fragen. Du wirst verblassen und vergessen werden - ganz und gar so wie die unzähligen Atemzüge, die du bereits vollzogen hast.
Der Mensch in seiner sterblichen Hülle, ist das Wesen, welches fortlaufend von der Zeit gezeichnet wird und somit folglich vergeht. Ungewiss, der Ursprung und das Ziel eines jeden Daseins, wandern und vergehen sie, um den Punkt zu erreichen, der ihrem sterblichen Körper ein Ende setzt. Die annähernde Unsterblichkeit für einen Menschen, schaffen die Geschichten, die sie erzählen. Doch selbst dann werden sie nicht dazu in der Lage sein, es zu erleben.

Die, die die Unsterblichkeit als fortwährenden Begleiter neben sich haben, wissen über die Bedeutung des dadurch verweilenden Giftes Bescheid, das als Resultat einen anfänglichen Rausch mit sich bringt, der einem göttliche Gefühle gibt. Je länger dieses Gift in den eigenen Adern fließt, umso deutlicher wird einem, dass es nichts Göttliches an sich hat. Nein, es ist ein stummes und ruheloses Gift.
Man kann lieben und weinen, erinnert sich an die Vergangenheit, drückt sie fest an sich und möchte sie nicht loslassen. Doch man kann nicht mit Gewissheit sagen, dass die Erinnerungen an die Ursprünge für Tränen oder die Erinnerungen an Liebe, auch wirklich dem entstammen was man früher als Menschsein bezeichnete.
Anders als in deinem Leben, sterben all die, die ich kenne und kannte. Gerade wegen dieses natürlichen Laufes, fühlte ich mich am Anfang betrogen. Ich hätte fast verlernt, was es bedeutet zu Lachen und zu Weinen und hätte so fast die letzten Reste meiner einstigen Menschlichkeit verloren und das nur, weil ich zwischen Tod und Leben das eigentliche Ziel aus den Augen verloren hatte und den Wahnsinn als Gast meines Daseins bei mir hatte. Natürlich gibt es einen näheren Sinn des Daseins, oder hast du etwa daran gezweifelt?

Ich bewege mich auf dünnem Eis, das den Anschein hat, als würde es jeden Moment zerbrechen. Daher bin ich unfähig den Zyklus des Lebensalltags zu durchwandern und kann nicht einfach so sterben. Aber ich erinnere mich noch detailliert an das Leben, das ich einst führte und die Sehnsucht nach der schleierhaften Vergangenheit ist groß. Ich wurde sehr jung zu dem, was ich nun bin und wurde aus meinem Leben herausgerissen. Ich bin dazu verdammt auf unbestimmte Zeit auf dieser Erde zu wandern.
Nun, wenn du ein wenig darüber nachdenkst, weißt du, dass nicht sonderlich viele unter euch, oder sage ich besser - so gut wie niemand - mit seinen Gedankengängen die Klippen des Meeresrandes überblickt. Hast du selbst auch nur ein wenig nachgedacht, was hinter dem Horizont sein könnte?
Etwas, das bisher unentdeckt sein könnte? Das was wir Wissenschaft nennen und das was wir Realität nennen, sind die Klippen am Ende des Weges.
Ich weiß dass sich mehr dahinter verbirgt. Denn man warf mich über den Abgrund der besagten Klippen.
Es war ein angenehm warmer Sommertag an dem alles begann.

Theatralische Versuche, mit Worte wie ein Mensch klingen zu wollen. In diesem Augenblick war ich mir nicht sicher ob er dieses Büchlein als Lockmittel für die Geistlosen und Jungen herhalten sollte oder alles darin festgehaltene wirklich sein Denken, sein Fühlen und sein Leben war. Ich kannte Lucas über Jahre hinweg und hätte nie gedacht, dass er immer noch so sehr an dem festhalten würde, von dem ich ihn dankbarer Weise erlöst hatte.
Die Stimmen der sich unterhaltenden Menschen in der Tarverne zu Ansilon verstummten langsam und ich flüchtete mich in mein eigenes, innerstes Refugium der Stille.
Ich trank von meinem Glas mit scheinbar blutroten Wein, lenkte meinen Blick auf das lodernde und Knisternde Feuer des Kamins und wurde nachdenklich.
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Teana/Juliane/Dariel
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Das letzte Abendmahl

Beitrag von Teana/Juliane/Dariel »

Das letzte Abendmahl

Die Tage waren so lang wie nie und die Sonne warf ihre brennend heißen Hitzewellen auf die ländliche Gegend um Goldstadt herab. Eine kleine Stadt im Osten des Kontinents. Gerade so groß, dass die Menschen sich anhand der Gesichter einander erkannten. Überschaubar und doch belebt. Abseits von der Stadt hatte ich ein Anwesen und einige bewirtschaftete Felder, die mir Vater nach seinem Verschwinden hinterließ. Durch den Verkauf der Ernten konnte ich mir ein äußerst sorgenfreies Leben erlauben.
Das Anwesen war von einem dichten, immergrünen Wald umzäunt, der überwiegend aus Tannengewächs bestand. Mein Heim lag auf einem kleinen Hügel, etwas abgeschieden. Ich hieß diese angenehme Ruhe, die damals dort zu Gast war, äußerst willkommen. Doch in den letzten Wochen und Monaten bedrückte sie mich mehr denn je. An diesem Morgen ging ich im Vorgarten Spazieren, der westlich des Hauses errichtet worden war. Umzäunt wurde dieser Garten von einer etwa eineinhalb Meter hohen Hecke. Rote Rosenblüten wuchsen aus dem grünen Heckendickicht und konkurrierten in einem einzigartigen Farbkontrast. Das Gras am Boden war kurz geschoren und überall drangen die verschiedensten bunten Blüten aus dem Erdboden hervor. Für jeweils eine Himmelsrichtung wurde auch ein Ausgang im Garten angelegt, wobei der östliche Ausgang in das Innere des Hauses führte.
Die errichteten Spazierwege im Inneren des Gartens wurden aus schneeweißem Marmor erstellt, der so beschlagen war, dass er im Schein der Sonne kräftig glänzte. An den Wegrändern standen in regelmäßigen Abschnitten cremefarbene Säulen, die höchstens einen halben Meter nach oben ragten. Verschiedene Statuen standen auf den Podesten der Säulen. Diese Auflagefläche hatte etwa einen Durchmesser von 30 cm. Die am häufigsten vorhandenen Figuren im Garten waren Engel, wie man sie aus biblischen Erzählungen damals kannte und heute noch kennen sollte. Die meisten Abbildungen zeigten männliche Krieger in Rüstungen.
Engel, die Pfeil und Bogen trugen. Einige der wundersamen Statuen trugen auch Schwerter bei sich. Auffallend waren die gespreizten, mächtigen Federflügel dieser stolzen Gestalten. Geflügelte Krieger des Himmels. Im Verlauf der Erzählungen wurde von einem Krieg zwischen Engel und Dämonen der Unterwelt erzählt. Mein Vater dachte sie würden uns beschützen, vor größerem Übel und genau deswegen hatte er sie in diesen utopischen Garten gesetzt. Ich will mir gar nicht die Kosten für diese Werke vorstellen. Es ist nicht so als hätte Vater es nicht übergehabt.
Mein Vater war ein tiefreligiöser Mensch und hielt an den Erzählungen unseres Herrn fest. Schon in früher Kindheit lehrte er mich die Botschaften der Goldenen Schlange. Mein Vater pflegte gute Beziehungen zum Bischof von Lobdeburg. Er und mein Vater waren gute Freunde. Vater bekam eine von ihm geschriebene Bibel, aus der er mir immer vorgelesen hatte. Dieses Privileg hatten nicht viele Menschen. Lesen ist ein teures Gut, ja.
Ich weiß nicht ob es einen Gott gibt, doch er würde mich für sehr lange Zeit verlassen. Mein eigener Glaube hatte sich bereits vor vielen Monden von mir abgewandt und ich hielt nicht mehr viel von den Überlegungen der Goldenen Schlange.
Stillschweigend in Gedanken schwelgend, genoss ich also den sanften und wohlklingenden Gesang der Vögel, genoss den Geruch der lebenden Blumen um mich herum, genoss die mir in das Gesicht einfallende Wärme der milden Sommerbrise. Das Schicksal würde sich mir als ein unbarmherziges und finsteres erweisen und würde mir in nicht allzu ferner Zukunft all den Genuss dieser wunderschönen Dinge nicht mehr genehmigen.
In letzter Zeit plagte mich dieser tief in mir hausende Schmerz. Die Sehnsucht und das Verlangen nach etwas Unerreichbaren.

Dieses Gefühl der Unerreichbarkeit saß tief in meinem Herzen fest. Der Schmerz, den nur die Liebe verursachen konnte, plagte mich tief in meinem Inneren. Das süße Gift der Liebe schien mich völlig von innen heraus zu vertilgen. Hin und wieder fühlte es sich warm und schön an, als würde ich die Erfüllung bekommen, nach der ich mich so sehr sehnte. Manchmal aber schien es mich einfach nur quälen zu wollen. Egal wo ich hinsah, oder egal was ich auch zu tun vermochte, vor meinem geistigen Augenpaar war nur noch diese wundersame und unberührte Engelsgestalt. Es war wieder einer dieser Momente, in denen ich dieses scheinbare Bild von ihr aus meinem Kopf verdrängen wollte.
Doch die Mühe war vergeblich. In meinem Hinterkopf hatte sich das Bild dieses, blauäugigen Engels von filigraner Gestalt festgesetzt. Es war nahezu so als stünde sie im Moment vor mir. Das samtbraune, bis zur Taille reichende Haar, das sanfte Lächeln, das mir ihr Gemüt verriet. Immerzu musste ich an ihr liebliches und natürliches Lächeln zurückdenken, welches mich innerlich so sehr erwärmte, dass ich selbst nach einem winzigen Gedanken, der ihr gebührte, lächeln musste. Die zierliche Figur und die weiße, makellose Haut dieser jungen Frau – alles an ihr schien so perfekt zu sein.
Dort in meinen Gedanken nagte es Tag für Tag, Stunde um Stunde an mir. Die Zeit verging nur langsam, während ich auf und ab ging, ohne etwas Bestimmtes zu tun. Lediglich diese Gedanken, die mich fortan plagten und die Zeit, welche an mir vorüber ging, ohne mich wirklich zu berühren. Die Liebe ist wundersam, nicht greifbar und doch unbegreifbar. Das Einzige, das mir auf lange Sicht niemand nehmen konnte.
>>Welch bittersüße Ironie<<, dachte ich mir in diesem ratlosen Moment und sah mich ein wenig in meinem prachtvollen Garten um.
>>Du hast alles, ein riesiges Haus, Felder, Knechte und Geld - doch sie bleibt dir verwehrt.<<

Sie war ein einfaches Mädchen, dass zusammen mit ihrer Mutter eine kleine Schneiderei betrieb. Ich hingegen, wurde dank meines Vaters in den Stand des Adels gehoben. Somit waren sie und ich unvereinbare Persönlichkeiten.
Von Zeit zu Zeit kamen die wohlhabenden Familien mit ihren Töchtern im Schlepptau an und wollten Absicherung für sich selbst und ihre Töchter fordern. Immer wieder versprach ich den jungen Frauen ein baldiges Wiedersehen, hielt jedoch nie an meinen Worten fest.

Schließlich endete mein Gedankengang wie sonst auch, auf tragische Art und Weise. Die Liebe kann einem jegliche Sinne rauben und dank ihr lernte ich viel. Ich lernte vor allem aus Fehlern. Doch die Zeit meiner Lehre hatte noch gar nicht begonnen und würde nach ihrem Beginn noch sehr lange andauern. Der Spaziergang an der frischen Luft vor meinem Anwesen baute mich in keiner Weise auf. Ich grübelte sogar noch tiefgründiger als die Stunden zuvor, über diesen in meinem Kopf hausenden Engel und verhedderte mich immer mehr in das Netz dieser mir so aussichtslos scheinenden Situation.
Alles um mich herum wirkte so lebendig, fröhlich und farbenfroh. Nur ich fühlte mich allein, leer und dadurch auch bedeutungslos. So schien ich selbst der einzig graue Fleck in dieser farbenfrohen Fassade zu sein. Ich wusste nicht, wie ich dieser jungen Frau nahetreten konnte, ohne einen Fehler zu begehen. Die Menschen in Goldstadt würden es nicht verstehen, würden es als Frevel ansehen. Dabei waren wir uns schon so oft begegnet, redeten viele Male miteinander. Die Angst irgendetwas Falsches zu tun oder zu sagen war einfach zu groß, als dass ich einfach so mit ihr über die Dinge, die ich tief in meinem Herzen verschlossen hatte, hätte reden können.
Außerdem wusste ich nicht ob, ihre Reaktion denn wirklich meiner Erwartung entsprechen würde. Wäre meine Enttäuschung ein noch größerer Schmerz gewesen und hätte den jetzigen Schmerz vielleicht sogar um einiges übertroffen? Nun ja, ich umschreibe diese Gefühle so, wie ich sie damals empfunden habe. Ich war ein naiver junger Mann, der das erste Mal das Gefühl der Liebe in sich trug. Aber ich bin mir sicher, dass ich dir das nicht erklären brauche und du weißt, was ich meine.
Wenn nicht – sei dir gewiss, du wirst diese Ansammlung, die Überflutung von Gefühlen auch irgendwann dein Eigen nennen dürfen – denn es ist menschlich.
Ich benahm mich wie ein kleiner, verliebter Junge. Ein 24.-jähriger Mann, der noch so wenig Lebenserfahrung hatte. Trotz all dem wollte ich wieder einen klaren Kopf gewinnen und nicht den ganzen Tag über dieses Mädchen nachdenken.
Ich beschloss kurzerhand den Vorgarten zu verlassen, um mich wieder in mein Anwesen zu begeben. Also wandte ich mich langsam um und ging gemächlichen Schrittes wieder in mein Haus zurück.
Das Haus wirkte so leer und trostlos auf mich. Ich mochte diese Stille der Einsamkeit nicht. Seit Vater nicht mehr hier war, fühlte ich mich allein gelassen.
Rote Teppiche schmückten den weit ausgebetteten Marmorboden. Ölgemälde zierten die Wände, die auch aus dem Besitz meines Vaters stammten. Der heilige Garten des Herrn als Kunstwerk. Ein Abbild der Goldenen Schlange in Menschengestalt. Die Gemälde waren chronologisch angeordnet. Es endete mit einem finalen Untergang, welcher durch den Kampf des Namenlosen und dem Herrn des Lichts ausgetragen wurde. Der Kontinent brannte und starb. Im Hintergrund des Gemäldes sah man Engel und Dämonen, die einander bekämpften. Die Eindrücke der Brutalität, des Blutes und des Feuers, die auf dem Bild präsent waren, bildeten eine grauenhafte Vorstellung, wenn sie denn schlussendlich real werden würde – was ich damals für reinen Unsinn hielt. Ich hatte mich an diese Gemälde gewöhnt.

Wenn ich heute so darüber nachdenke, hatten diese himmlischen Engel auf den Gemälden sehr viel mehr mit den dunklen Kreaturen zu tun, als mir lieb war. Aber dies soll nun nicht die Thematik der Erzählung sein. Vielleicht komme ich ein andermal darauf zurück.
Seit dem Verschwinden meines Vaters zweifelte ich an allem Göttlichen. Mit einem Seufzen ging ich den hölzernen Treppengang im Eingangsbereich der Halle hinauf und machte mich auf den Weg in mein Gemach, das im ersten Stockwerk des Anwesens lag. Das Haus bestand aus Nord-, West- und Ostflügel. Das Ende der Treppe erreicht, ging ich durch die vor mir liegende Tür, die zum Nordflügel führte, wo sich auch mein Zimmer befand. Ein langer Gang führte zu verschiedenen Zimmern. Mein Gemach war die zweite Tür auf der linken Seite. Seitdem Vater fort war, fanden viele Räume im Haus keine Verwendung mehr.
Die Bücherei im Nordflügel war ein Ort den ich trotz all dem, immer noch aufsuchte. Ich las meines Vaters Bücher, die Überbleibsel seiner Selbst in diesem Anwesen waren. Auch die anderen Aufenthaltsräume des Anwesens waren seither unbenutzt. Die Gästezimmer wurden nur noch von der Sippschaft des Adels benutzt, wenn denn wieder jemand seine Tochter bei mir lassen wollte.
Vater behandelte Besuch immer wie eigene Familie, war äußerst gastfreundlich und bat ihnen alles, was er an Besitz hatte. Ich wusste zwar dass Vater neben dem Verkauf der Güter, die wir auf dem Feld erwirtschafteten, noch eine andere Arbeit verrichtete, doch darüber wollte er sich mir nie offenbaren. Meistens waren diese Menschen gläubige Diener des Herren, wie mein Vater einer war. Er war sogar einige Male in der Hauptstadt der Goldenen Schlange gewesen, wie die Heiligkeit selbst zu Gegen war.
In meinem Zimmer angekommen, legte ich mich etwas auf mein weiches und gemütliches Bett. Jetzt schnaufte ich tief ein und aus, hörte mich dabei selbst etwas seufzen. Mir schossen alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Ich war der alleinige Erbe dieses Vermögens. Mein Vater starb vor acht Jahren an einem müden Wintertag. Die Reisen, die er oft antrat, gehörten auch zu seiner Arbeit, von der ich nicht viel wusste. Daher sah ich ihn nicht sehr häufig und freute mich über jede Stunde, die ich mit ihm gemeinsam verbringen durfte. Als mein Vater eines Tages loszog, um einen Handel mit einem Geschäftsmann in Kronstadt zu beschließen, kehrte er nicht wieder. Ich weiß noch genau, als wäre es gestern gewesen, was ich damals empfand, als mir unser Hausmädchen Nana die Nachricht überbrachte.
Man fand nur die leere Kutsche und eine mit Blut verschmierte Kabine. Ein Raubmord, wie er des Öfteren zur damaligen Zeit passierte. Vater war auf dem Weg nach Hause, kam jedoch nie an. Er hatte sich bereits seit einigen Tagen verspätet und ich machte mir schon große Sorgen um ihn. In meinem Kopf wurden die schrecklichsten Gedanken zum Leben erweckt. Ich stand am Fenster, schaute in die Ferne, auf Vaters Rückkehr hoffend, und das über mehrere Stunden am Tag hinweg. Am verheißungsvollen Tag näherte sich zur frühen Abendstunde eine Kutsche unserem Anwesen und als sie näherkam, erkannte ich auf der vorderen Seite der Kutsche das Symbol der Schlange, das aus Gold geschaffen war. Das Zeichen der Kirche.
Ein Mann mit langem, grauem Haar stieg aus. Im Gesicht trug er einen grauen, gepflegten Bart und seine Haut wurde von Altersflecken gezeichnet. Er trug einen Waffengurt um seine weiße Robe, an welchem ein Schwert befestigt war. Plötzlich hörte ich wie jemand fest auf die Tür hämmerte.
Ich war mir sicher, dass dieser Mann keine guten Neuigkeiten für uns hatte. Schnell verließ ich mein Gemach und ging nahe zum Geländer der oberen Etage, von wo ich einen guten Überblick über den Eingangsbereich des Anwesens hatte. Die Hände legte ich auf dem Geländer ab und beobachtete das Geschehen in der unteren Etage. Nana öffnete die Tür und ich sah, wie der Mann mit ihr redete und ihr etwas mitteilte. Er schüttelte etwas den Kopf, schloss für einige Sekunden die Augen.
Dann sah ich bereits das Ausbrechen des Tränenmeers und wie Nana plötzlich verzweifelt zusammensackte. Der etwas ältere Mann half, er kniete sich hin, reichte ihr seine Linke und begleitete sie in den Aufenthaltsraum hinein, welcher sich in der unteren Etage befand. Ich ging die Treppe am Hauptgang nach unten und belauschte die beiden. Dann hörte ich, wie der alte Mann mit Nana sprach.
>>Es wird bestimmt nicht leicht, auch nicht für den Jungen. In dieser tragischen Stunde werden der Herr und seine guten Diener eure Begleiter sein und euch helfen.<<
Dann unterhielten sie sich noch über irgendetwas, das ich jedoch nicht verstehen konnte, da sie in ein anderes Nebenzimmer gingen. Ich wollte nicht nach unten gehen und diese schlechte Nachricht hören. In diesem Moment wollte ich einfach nur die Wahrheit verdrängen. Deshalb ließ ich mich seelenruhig auf meinem Bett nieder, als würde ich auf irgendetwas warten.

Wenn die Realität versucht jemanden einzuholen, um einen von der Wahrheit zu erzählen und man diese nicht akzeptieren möchte, dann läuft man. Man möchte dieser trostlosen Wahrheit keine Akzeptanz entgegenbringen. Doch ich durfte in Erfahrung bringen, dass man nur begrenzte Zeit von der Wahrheit fliehen konnte. Am Ende wird sie einen immer einholen.
Schließlich, nach etwa einer halben Stunde, kam Nana in mein Zimmer und die haselnussbraunen Augen der alten Frau waren mit Tränen gefüllt. Sie brachte es nicht über das Herz, mir die Nachricht mitzuteilen. Ich verstand - es brauchte keiner weiteren Worte um zu verstehen, wie die Wirklichkeit aussah und was geschehen war. Die Realität hatte mich eingeholt und auch wenn ich wusste, dass Vater schon einige Male von Banditen auf seinen Geschäftsreisen überfallen worden war.
Dieses Mal war es anders. Langsam erhob ich mich und zögerte einen Moment, während mein Blick die weinende Frau traf. Die Zeit war gekommen. Meine Zeit, erwachsen zu werden. Anschließend ging ich langsam auf sie zu, schloss meine Augen und nahm sie in meine Arme.
Daraufhin folgte ein lautes, weinerliches Schluchzen und sie konnte das Tränenmeer nicht mehr zurückhalten. Auch ich begann leise zu Weinen, nur für mich und Tränen flossen trotz geschlossener Augenlider meine Wangen hinunter. Leise, ohne die Trauer zu zeigen, drang das salzige Wasser hervor. Ich wusste, dass dies der Moment war, an dem sich mein gesamtes Leben wenden würde. Ich dachte immer wieder an meinen Vater zurück und fragte mich auch immer wieder warum mich diese Ungerechtigkeit nur immer zu verfolgte.
Der erste Wendepunkt meines Lebens schrieb sich in blutigen Lettern nieder und veränderte mich das erste Mal. So viel zum längst Vergangenen.
Es war bereits Abend geworden. Während ich in meinem ziemlich großen und weich gepolsterten Himmelsbett lag, überlegte ich auch weiterhin. Diese unerklärlichen Gefühle, die in mir aufkeimten, sie irritierten mich. Wenn ich so darüber nachdenke, hätte ich wohl alles für sie gemacht.
Ja, so dachte ich damals zumindest und als ich diesen Gedankensprung beendet hatte, schnellte plötzlich die Tür des Balkons mit einem Windstoß auf und schlug gegen die innere Backsteinmauer.
Erschrocken sprang ich auf und griff nach meiner Klinge, die auf einer hölzernen Kommode neben dem Bett lag. Da ich fortwährend allein in diesem Haus lebte und nur Nana hier mit mir hauste, hatte ich immer meinen Degen Griffbereit. Natürlich hätte es die Möglichkeit gegeben Wachpersonal einzustellen, doch das wollte ich nicht. Mein Vertrauen gegenüber Fremden war äußerst gering. Ich glaube es hätte meiner Gemütslage eher geschadet.
Es war eine unangenehme, paranoide Eigenschaft, die ich seit Vaters Tod mein Eigen nennen durfte. Schlussfolgernd war dieses Vorhaben jedoch völlig umsonst, da mein rascher Blick niemanden entdecken konnte. Mein forscher Blick fiel langsam auf den Balkon.
>>Merkwürdig<<, dachte ich mir.
Wie konnte diese Tür so urplötzlich auffliegen? Selbst wenn es ein Windstoß gewesen wäre, hätte er nie eine solche Wucht erzeugen können, dass die Tür mit so einem Knall gegen die Mauer prallte. Die Scheiben der Balkontür waren mit Wasserdampf bedeckt, da es in der Nacht draußen doch ziemlich kühl wurde.
In meinem Schlafgemach hingegen war es dank des darin befindlichen Kamins etwas wärmer. Als ich Hand an die Tür anlegen wollte, um diese wieder zu schließen, fiel mir dieser Abdruck auf der Scheibe auf. Etwas Wasserdampf von der Scheibe wurde wohl mit einer Hand abgewischt.
Ja, es hatte ganz so den Anschein, als hätte eine menschliche Hand gegen das Glas gedrückt. Vielleicht war ich es ja selbst, ohne es zu merken oder Nana war zuvor in meinem Gemach? Dann ereilte mich ein eigentümliches Gefühl. Es fühlte sich so an, als würde mich jemand von einem unentdeckten Platz aus beobachten.
Ich war übermüdet und meine Gedanken kreisten wild, ohne Ziel umher. Mein Kopf spielte mir anscheinend einen Streich und mit einem erschöpften Atemzug rieb ich mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, über mein geschlossenes Augenpaar.
Obwohl optisch keine Veränderung festzustellen war, hatten sich meine Gefühle erneut umgeschlagen, ich wurde wieder etwas ruhiger. Draußen vom Flur ertönte das annähernde Knirschen der Holzlatten des Bodens, dass meinem Zimmer immer näherkam. Man hörte jede Bewegung, die jemand in den oberen Etagen des Hauses verrichtete.
Mein Vater mochte diesen klassischen Stil aus Holz. Der Prunk des Eingangsbereiches war für die Gäste geschaffen. Vater lehrte mich, dass es eine glückliche Fügung des Schicksals sei, dass wir ein solches Leben leben konnten. Doch er persönlich hätte auch ein einfaches Leben völlig ausgekostet.
Leise, fast schleichend ging ich zur Tür. Wie erwartet wurde die Türklinke von außen nach unten gedrückt und die Tür öffnete sich langsam. Aufgrund der Aufregung, die in mir tobte, wusste ich nicht was ich tun sollte. Langsam hob ich die Klinge an und erwartete die bald eintretende Person. Laut hörte ich mein Herz pochen. Die Angst blühte erneut in mir auf.
Als ich Nana eintreten sah und sie die auf sich gerichtete Klinge sah, schreckte sie voller Entsetzen zurück und griff sich mit der Rechten an die Brust.
>>Junge, was machst du da?!<<
Auch wenn Nana nun schon seit einigen Sekunden vor mir stand, senkte ich erst nach einem langandauernden und unsicheren Moment des Wartens die Klinge und atmete anschließend erneut fest ein und aus.
>>Verzeih mir Nana, ich dachte du wärst jemand anderes.<< Verdutzt musterte mich die alte Dame.
>>Wer soll hier denn noch sein? Außer uns beiden ist niemand hier. Komm endlich nach unten, etwas Essen, du wirkst etwas erschöpft. Glaub mir, das wird dir gut tun mein Junge.<<
Möglicherweise hatte Nana Recht. Ich hatte seit einigen Tagen nichts mehr gegessen und vielleicht spielten mir meine Gedanken wirklich einen Streich.
Als sie mein Zimmer wieder verließ und sie die Tür hinter sich schließen wollte, öffnete sie diese nochmal einen Spalt weit und meinte.
>>Ach und steck endlich dieses Ding weg. Du trägst es schon seit Jahren mit dir herum und noch nie ist etwas passiert. Goldstadt und die Umgebung ist sicher. Die guten Diener des Herren haben diese Gegend sicher gemacht Lucas.<<

Dann verließ sie den Raum endgültig. Natürlich verstand ich Nanas Bedenken, doch für mich war dieser Zweifel mehr als nur berechtigt. Die paranoide Ader, die erst seit Vaters Verschwinden nach und nach in mir aufgeblüht war, war der wahre Grund für diese übertriebene Vorsicht.
Ich ließ diesen Vorfall hinter mir und dachte nicht mehr weiter darüber nach. Nana zuliebe, wollte ich etwas nach unten gehen und dort ein wenig essen. Sie gab sich immer so viel Mühe mit der Zubereitung des Essens und ich hatte die letzten Tage einfach so gut wie nichts hinunter bekommen. Also legte ich die Klinge wieder neben meinem Bett, auf einer hölzernen Kommode ab, schloss die Tür, die auf den Balkon führte und machte mich auf den Weg nach unten.
Unten im Speisesaal angekommen, kümmerte sich die alte Nana fürsorglich um mich. Sie drängte mich förmlich, mich zu setzten und legte mir eine anschauliche Mahlzeit vor.
Hausgemachter, geräucherter Schweineschinken, Kalbsbraten, gedünstete Karotten, einen Topf Eiersuppe nach ihrer speziellen Zubereitung. Auch Wein war stets ein fester Bestandteil ihrer Mahlzeiten. Ansiloner Rotwein, ein edler Tropfen aus dem fernen Westen.
Mein Appetit war jedoch nur mäßig präsent und normalerweise war ich ein wirklicher Weinliebhaber. Schlussendlich konnte ich dieser alten Dame ein solches Festmahl nicht abschlagen. Das besorgte Gesicht des alten Mütterchens gab mir schließlich den Rest und ich konnte nicht mehr mit ansehen, wie es Nana nur wegen mir schlecht ging.

Sie wusste, dass die Liebe wie ein Rankengewächs mein Herz umfangen hielt und ich mich zudem in letzter Zeit immer schlechter und schwächer fühlte.
Langsam aber sicher aß ich dann etwas von dem Schweineschinken und den gedünsteten Karotten. Nana war immer schon eine sehr fürsorgliche Frau gewesen, wenn ich nicht sogar sagen kann, dass sie mich immer wie einen Sohn behandelt hatte. Während ich einen Bissen nach dem anderen genüsslich aß, lächelte Nana ein wenig und ihre alte, zerbrechliche Stimme bildete die Begleitmusik zu meinem Mahl.
>>Es freut mich, dich wieder Essen zu sehen, mein Junge.<<
Für einen kurzen Augenblick unterbrach ich das Kauen und starrte Nana nur einen Moment an. Sie stand vor dem Tisch und aß nichts. Was war ich nur für ein Tölpel, dass mir das erst im Nachhinein auffiel.
Mein Vater hatte mir beigebracht was es hieß, Anstand zu zeigen. Mit einer Geste deutete ich ihr an sich zu setzen. Sie schüttelte nur verneinend den Kopf und kam erneut zu Wort.
>>Iss du nur, mein Junge, ich werde nach dir speisen.<<
Auch wenn sie eine solch liebe alte Frau war, hatte sie doch einen sturen Kopf, dem man nichts entgegensetzen konnte. Sie war keine wirkliche Dienerin des Hauses, sondern war viel mehr meine Familie geworden. Das wusste sie auch, wollte jedoch nicht mehr Rechte als andere Bedienstete haben.
>>Bitte Nana, ich möchte mit dir zusammen essen. Setz dich.<<

Nach kurzem Zögern kam ein >>Na gut.<< aus ihrer Richtung. Sie saß sich auch zu Tische und begann mit langsamen Bewegungen, sich etwas auf den Teller zu legen, blieb jedoch bei der Menge ziemlich bescheiden.
Dann kam es erneut wie ein Schlag auf mich zu. Dieses eigenartige Gefühl, das mich erst kürzlich im Obergeschoss, in meinem Zimmer verließ und nun bereits wiederkehrte. Das Gefühl im eigenen Haus beobachtet zu werden. Beobachtet zu werden, wenn man weit und breit niemanden sehen oder hören kann, kann ziemlich beängstigend sein.
Es ist die menschliche Intuition, die aus der Tiefe des Bewusstseins zu einem spricht. Ein Blick ist zwar lautlos, sorgt jedoch immer für eine unsichtbare Berührung. Schließlich gibt diese Empfindung einem ein Gefühl der Unsicherheit und Wehrlosigkeit. Man fühlt sich bloßgestellt und kann die Situation, in der man sich befindet, nicht einschätzen.
Allein um mich abzulenken, aß und aß ich, Stück für Stück, doch wanderte mein Blick suchend, ja ich wage sogar zu sagen, immer wieder hektisch durch den Saal. Obwohl ich weit und breit nichts erkennen konnte, wollte dieses Gefühl nicht von mir weichen. Als wäre es ein in mir noch unbekannter Wahrnehmungssinn, der mich einfach vor etwas warnen wollte.
Als ich an dem Weinglas nippte, fuhr mir ein kalter Schauer den Rücken hinunter und für einen Moment war mein gesamter Körper wie gelähmt. Gänsehaut überzog meine Oberarme und ich hatte das Gefühl, als würde mir das Herz in der Brust stehen bleiben. Unerwartet strich mir dann eine gewichtige Kälte über meinen Rücken – so fühlte es sich zumindest an. Ich spürte die kalten Finger einer Hand ganz genau, konnte Nana jedoch auf der anderen Seite des Tisches essen sehen. Ehe ich mich versah, gab der Griff um das Weinglas nach und es zersplitterte auf dem Marmorboden. Als das Glas mit einem Klirren auf dem Boden zerbrach, verschwand der unangenehm kalte Schauer augenblicklich.
Ich schaute mich schnell um und aus dem Augenwinkel erkannte ich Nana, die rasant in meine Richtung hetzte. Ehe ich realisieren konnte, was passiert war, stand Nana vor mir. Sie fing an eindringlich auf mich einzugehen.
>>Ruh dich jetzt aus und ich will keine Widerworte hören.<<
Sofort bückte sie sich hinunter, um die Glasscherben aufzusammeln.
>>Das sage ich dir als deine Nana. Ich räume diese Sauerei schon weg.<<
Wahrlich, sie ist immer wie eine gute Mutter zu mir gewesen. Ich beendete mein Mahl, befolgte den gutherzigen Rat von Nana und ging wieder zurück in mein Gemach.
Eine Mutter zieht jemanden groß, sorgt sich um jemanden, liebt jemanden und würde für jemanden sterben. Nana war zwar nicht meine leibliche Mutter, doch tief im Inneren akzeptierte ich sie in dieser Rolle, in welcher sie schon über 15 Jahre steckte. Immer wenn es mir schlecht ging, hatte Nana einen weiterhelfenden Rat für mich, der mir stets Kummer und Sorgen genommen hatte. In der Kindheit halfen mir ihre Ratschläge immer, doch ob es nun etwas bringen würde?
Oben zurückgekehrt, schloss ich die roten Vorhänge, die sich über dem Terrassendurchgang befanden und entfachte das gedämpfte Licht der Öllampe. Das Licht vertrieb die Dunkelheit im Bereich meines Bettes. Lediglich ein paar wirre Schatten fielen auf die Wände neben dem Spiegel und tanzten dort wild herum. Warum ich den Vorhang verschlossen hatte? Mein Vater schloss die Gardinen jeden Abend, wenn er mich zu Bett brachte und ich übernahm dieses Ritual über die Jahre.
Egal ob Tier oder Mensch – es liegt in unserer Natur, solche wesentlichen Riten zu übernehmen.
Wir übernehmen die Handlungsabläufe unserer Eltern, erfahren und lernen daraus. Selbst die, die klein, unscheinbar und belanglos erscheinen, übernehmen wir ohne größer darüber nachzudenken und es fällt uns auch gar nicht auf.
Im gedämpften Licht stellte ich mich vor den Spiegel, der sich vom Boden etwa zwei Meter in Richtung Decke erhob. Eine dicke, hölzerne Umrandung, welche dem Abbild einer Schlange nachempfunden war, bildete den Rahmen des Spiegels. Am oberen, mittig angesetzten Rand verschlang sie ihr eigenes Hinterteil und schloss somit den Kreis der Umrandung. Die Linke langsam ausstreckend und deren Finger spreizend, berührte ich sachte die sich mir nähernden Finger meines Spiegelbilds. Für einen kurzen Moment sah ich meinem Spiegelbild in die Augen und senkte anschließend den Kopf etwas, während ich ihn gegen den Spiegel stützte.
>>Vater..<<, entkam es mir nur etwas verzweifelt. Natürlich wusste ich tief in meinem Inneren, dass das Mädchen nicht der alleinige Grund für mein Befinden war.
All die Ereignisse der letzten Jahre kamen wieder hoch. Erst Mutter, mein Bruder, dann auch noch Vater. Wenn man alles verliert, was man jemals im Leben das Eigentum seines Herzens nennen durfte, schwindet der Lebensdrang und dann wird einem auch klar vor Augen, warum man der einzig graue Fleck im farbenfrohen Bild ist.
Eigentlich hätte es mich freuen sollen, wieder jemanden in mein Herz gelassen zu haben. Denn zunächst dachte ich, dass sich dieses Gefühl für immer von mir verabschiedet hatte. Doch mit der Ankunft dieses Empfindens, kamen auch das Misstrauen und die Angst gegenüber dem Schicksal. Das ganze Überlegen half nichts, ich musste mich dem Leben stellen und musste dieses Leben noch auf mich zukommen lassen. Diese Gedanken beruhigten mich ein wenig.
Mehr oder weniger beschwichtigt, legte ich mich nun zu Bett. Neben mir, auf einem kleinen Nachtkästchen aus Buchenholz lag wie immer meine Klinge bereit, denn ich wusste nie wann es vielleicht einen Einbrecher oder anderen Gauner in mein Heim verschlagen würde. Vorsicht, oder einfach nur Paranoia? Ich vertraute den Dienern des Herrn schon lange nicht mehr. Sie hatten Vater nicht retten können.
Immer noch ein wenig unruhig, wälzte ich mich hin und her. Die Müdigkeit war nach einiger Zeit jedoch stärker und übermannte die in meinen Kopf tobenden Gedanken. Schließlich schloss ich die Augen und vergaß für den Moment alles um mich herum.
Ich ruhte das erste Mal seit langer Zeit tief und fest. Doch dieser Zustand sollte nicht sonderlich lange andauern.

Ich saß am kleinen See, an dem ich Shirin zu ihren Lebzeiten getroffen hatte – viele Male. Nicht etwa der Nostalgie an Gefühlen wegen – nein. Dem war ich schon lange entschwunden. Ich mochte diesen Ort. Obwohl ich zugeben muss, dass er mir besser gefallen hatte, als noch nicht so viele Menschen ihre Häuser um den See errichtet hatten. Aus dem Augenwinkel erkannte ich das ein oder andere Mal eine Frau. Vielleicht werde ich ihr noch einen Besuch abstatten.
Um auf das kleine Büchlein von Lucas zurückzukommen. Er hatte mich sehr viel früher bemerkt, als ich gedacht hatte. Er war weder paranoid noch verrückt. Ich war vor Ort und hätte mich ihm sehr bald präsentiert. Doch um seinen Gemütszustand wusste ich nicht Bescheid. Tatsächlich dachte ich ursprünglich, das neue Leben hätte ihm diese theatralische Melancholie eingehaucht. Ich täuschte mich wohl. Er hatte Glück. Ich würde ihn von all diesem Schmerz befreien.
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Teana/Juliane/Dariel
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Wachgewordener Alptraum

Beitrag von Teana/Juliane/Dariel »

Wachgewordener Alptraum

Es muss gegen Mitternacht gewesen sein als der Mond in voller Pracht am Himmel schien und ich durch einen lauten Schrei aus meinem Schlaf gerissen wurde. Hastig riss ich mich durch den im Schlaf vernommenen Schrei wach und richtete mich im Bett auf. Meine Rechte griff sofort in Richtung Silberklinge, die auf der Kommode lag.
>>Ein Traum?<<
Doch dieser wehklagende Schrei musste von Nana kommen. Ganz gleich ob Traum oder nicht, ich musste nach ihr sehen.
Inständig erhoffte ich mir eine Bestätigung dafür, dass ich oder Nana nur einen Alptraum hatten oder irgendetwas ähnlich Harmloses oder Vergleichbares passiert war. Forsch und vorsichtig zugleich, schlich ich zur Tür heran, die in Richtung Flur führte und verschaffte mir dort einen Blick auf den in die Länge gezogenen Raum.
Der Flur war gänzlich in Dunkelheit getaucht. Eigenartiger Weise waren die Kerzen an den Wandhalterungen erloschen, was mir sehr zu denken gab. Denn vor dem zu Bett gehen ersetzte Nana die abgebrannten Kerzen stets durch neue und entzündete diese auch. Die Ungewissheit in mir ließ Angst über mich herfallen.
Vorsichtig öffnete ich die Tür und streckte meinen Kopf über die Türschwelle hinaus. Mein Augenmerk traf kein Ziel im endlos, dunkel wirkenden Flur. Ich konnte wirklich wenig sehen und musste mich auf meine Intuition verlassen und den Weg nach unten mit verschlossenen Augen finden. Aber das sollte sich nicht als Problem erweisen, denn schließlich lebte ich hier bereits seit meiner Geburt. Ich musste schleunigst zu Nana. In diesem Moment durchfuhr mich ein stechendes Gefühl, das sich einfach beschreiben lässt.
Vielleicht hast du bereits deine ganz eigenen Erfahrungen damit gemacht. Das unaufhörliche und zudem belastende Gefühl zu haben, es sei etwas passiert und man müsse schnell nach dem Rechtem sehen. Es ergriff mich, ließ nicht mehr ab von mir und verlangte von mir nach Gewissheit.
Langsam lauerte ich mit gezogener Klinge im Dunklen und schlich Richtung Treppengang. Bisher war alles ziemlich ruhig, es war kein einziger Laut mehr zu vernehmen. Dann stellte ich mir die Frage, ob ich wirklich nur geträumt hatte. Doch ich wusste, dass ich das selbst herausfinden musste.
Die schizophrenen Gedankengänge der Realität und der Illusion bekämpften sich gegenseitig in meinem Kopf und ich konnte mir nicht sicher sein, was wirklich passiert war. Langsam gewann ich an Geschwindigkeit, ging die Treppe mit einzelnen und leisen Schritten nach unten.
Als ich etwa auf der Hälfte des Weges, auf der Treppe nach unten im Hauptsaal angekommen war, hörte ich unten kurz einen dumpfen Aufschlag. Ruckartig stockte mir der Atem und ich umklammerte die Klinge krampfhaft mit beiden Händen und schritt nun etwas eiliger, dafür auch etwas lauter in Richtung des Geräusches zu. Ich hörte mein eigenes Herz laut und schnell schlagen. Das Geräusch – der dumpfe Schlag kam aus Nanas Zimmer, welches links, unterhalb der Treppe lag. Dort war die Tür geöffnet und Licht brannte. Wieder schlich ich langsam, aber sicher voran und versuchte mich so unauffällig und leise wie möglich vorzubewegen. Die Zimmertür von Nana war weit geöffnet und Licht brannte dort noch. Ich wusste natürlich ganz genau, dass sich so etwas nicht gehörte, doch ich musste nachsehen was passiert war. Als ich mir einen neugierigen Blick in Nanas Gemach verschaffte, kam die sofortige Ernüchterung. Ich befand mich in der Realität und es war kein Traum. Viel mehr befand ich mich in einem zur Realität übergelaufenem Alptraum.
Dort am Boden lag die alte und zerbrechliche Nana, wehrlos und hilflos, neben ihrem Bett. Sie war ganz bleich und bewegte sich nicht. Vor ihr kniete eine fremde Person. Jemand hatte sich Zutritt in das Anwesen verschafft und Nana war sein Opfer. Er war kein Bediensteter, trug edle Kleidung an sich.

Was ich dort sah, entzündete ein brennendes Wutgetobe in mir und Tränen rannten mir ungewollt die Wangen hinunter. Ich weiß nicht genau warum, doch in diesem Moment musste ich an ein Gemälde meines Vaters denken, das in der Wohnstube, an der Wand hing. Ein gefallener Engel, der neben einem Engel kniete und den Leib in den Armen trug und sich darüber beugte. Hier passierte Ähnliches. Die Gestalt beugte sich über Nana. In diesem Moment war ich mir nicht sicher, doch mir wurde der Anschein vermittelt, dass dieser Fremde sich am Blut von Nana besudelte. Wie auch der Engel auf dem Gemälde, war die Kleidung mit dem roten Lebenselixier befleckt.
Wahrheit und Illusion liegen nahe beieinander und für mich gab es zwischen diesen beiden Dingen eine leicht passierbare Grenze. Ja, ich war mir sicher dass er es genoss, sich am Blut von Nana zu laben.
Es gibt nichts schrecklicheres, als zu sehen wie jemand die eigene Mutter ermordet. Ja Nana eine Mutter die sich um mich seit über 15 Jahren kümmerte. Und nun nahm mir dieser Bastard alles - alles wofür ich noch hier auf Erden verweilte.
Vor dem Schlafengehen hatte ich noch klare Gedanken zusammengefasst und war mir sogar beinahe sicher, dass die Zukunft nur Gutes Verheißen würde. Ich akzeptierte sogar, dass jemand neues in mein Herz eintreten durfte. Mein Traum vom unbefleckten Leben wurde in diesem Moment des Grauens zerstört. Nana wurde mir aus meinem Herzen gerissen, wie der Rest der Menschen, die ich liebte.
Fest die Klinge am Griff haltend und ohne groß zu überlegen, stach ich mit einem gewaltigen Schrei als Begleiter auf den Einbrecher ein.

Bevor meine Klinge ihn durchbohrte, drehte er sich in meine Richtung und starrte mich entsetzt mit seinen grauen, hellen und äußerst unnatürlich wirkenden Augen an. Der Augenblick während der Ausführung des Angriffs schien mir endlos lang. Es schien mir so, als würde die Zeit für einen langen Moment still stehen. Ein endlos langer Moment. Ein Mann. Von seiner Gesichtsform her schätzte ich ihn etwa auf 30 Altersjahre, doch seine blassgrünen Augen repräsentierten mir einen uralten Geist.

Dunkelblondes Haar, das sich seine Schultern hinabwerfen wollte, jedoch durch die Locken im Haar verhindert wurde. Die dicken mit dunkelrotem Blut überzogenen Lippen. Übergossen mit dem Blut der alten Frau und zwei spitze Zähne die aus seinem Munde hervorragten. Als die Klinge ihn durchbohrte, war es als würde das Fleisch um die Einstichstelle verbrennen und das ziemlich schnell. In diesem Moment schien die Zeitverzerrung ein Ende zu nehmen und ich vernahm das laute Stöhnen des Mannes.
Doch wenn du nun den Irrglauben haben solltest, ich hätte auch nur im entferntesten Sinne Mitleid mit ihm verspürt, muss ich dich enttäuschen. Rache ist etwas das uns Menschen in die Wiege gelegt wurde. Für Entscheidungen von anderen, die uns nicht zusagen, nehmen wir Rache. Man sagt Menschen besäßen keine Instinkte mehr. Angeblich sind Menschen von Trieben gesteuerte Wesen, die reaktionsbedingt handeln. Ich sehe diese sogenannten Reaktionen, diese Triebe, als Urinstinkte an. Denn in diesem Moment handelte ich dementsprechend. Um meine Familie vor einem Angreifer zu schützen. Der Preis, den ich in naher Zukunft dafür zahlen sollte, würde hoch sein.
Mehrere Male durchdrang die Klinge seine Brust und mit jedem Stich wurde meine Wut etwas größer. Ich vernahm zwar den Gestank der verbrannten Haut, war jedoch nicht in der Lage es wirklich aktiv zu registrieren. Der Hass in mir verdrängte alle anderen in mir aktiven Sinne und vertrieb die Vernunft.
Jegliche menschlichen Gefühle verblichen für diesen einen Moment in mir. Mit jedem Stich wurde mein Hass größer und daraus ergaben sich immer zu schnellere Stiche. Blut floss aus allen Einstichstellen der Brust. Nicht nur aus seinem Oberkörper, auch aus dem Mund des Mannes kam das Blut zum Vorschein. Bis er nach einer großen Anzahl von Schwertstichen keinen Laut mehr von sich gab und kraftlos zusammensackte. Tränen flossen mir wie im Strom die Wangen herab und selbst jetzt noch, als Nanas Mörder schon lange tot zu sein schien, stach ich weiterhin auf ihn ein.
Während meiner Tat schrie ich verzweifelt auf und konnte es einfach nicht glauben, bis ich plötzlich kraftlos die Klinge fallen ließ und auf dem Mörder zusammensackte. Ich werde nie vergessen wie bitterlich ich damals weinte und die flehenden Schreie, die ich Gott vergeblich entgegenbrachte. Noch nie zuvor verspürte ich einen solchen Hass auf eine Person und solche Trauer um eine andere Person und das im selben Augenblick. Das Blut des Toten klebte nun an meinen Kleidern.
Als mein Blick sich zu Nana wendete, rutschte ich hastig zu ihr und umarmte schließlich die ich leblos wirkende Hülle, drückte ihren kühlen Körper fest an mich heran.
>>Nein. Warum musste es dich treffen? Nein, Nana. Bitte verlass mich nicht. Nana!<<
Jammerte ich weinend vor mich hin. Ich zitterte am ganzen Leib und konnte nicht aufhören zu weinen. Meine Welt brach in diesem Augenblick zusammen. Meine Welt, die ich mir nach dem Tod meiner Familie aufgebaut hatte, brach zusammen. Erneut begann die Realität an mir zu zerren und ich fragte mich allen Ernstes, ob es sich hierbei nicht doch um einen Traum handeln konnte.
Diese Situation ist dir vielleicht auch schon gegenübergetreten. Ein Traum, der so real erscheint. Ein Traum in dem schlimme Dinge passieren. Man wünscht sich, dass diese Ereignisse nie eingetreten wären und möchte aufwachen, kann es jedoch nicht. Dies war so ein Alptraum, aus dem ich jedoch nicht wieder erwachen sollte. Zukünftig würde ich mich als fortwährenden Bestandteil dieses schrecklich illusionären Alptraums behaupten müssen.


Ich hatte Lucas schon seit längerer Zeit beobachtet und sah wie unglücklich dieser Junge war. Er schrie seinen inneren Schmerz in wehklagenden, stummen Schreien in die Welt hinaus. Für mich als göttlicher Erlöser, der ich für ihn war, ein deutliches Zeichen, das ich nicht überhören durfte.
Dieser Junge schuf sich seine Probleme regelgerecht selbst. Das passiert, wenn man mit Gold überhäuft ist und das Leben einem jedwede Annehmlichkeit in die Wiege legt. Probleme müssen nicht mehr bewältigt oder gelöst werden. Nein, sie werden geschaffen.
Dieser scheinheilige Bursche beschäftigte immer noch die alte Frau. Sie hatte ihre besten Jahre bereits hinter sich und lebte scheinbar nur noch für den Burschen.
Zudem roch ich den Schnitter an der Seite dieser Frau. Sehr lange hätte sie nicht mehr zu Leben gehabt. Doch ihre letzte Zeit wäre wohl ein steiniger, langwieriger und schmerzhafter Weg gewesen. Sie wusste dies bereits, erschrak nur kurz und schien ihren Frieden damit gemacht zu haben, dass ich ihr diese Pain ersparen wollte. Sie wirkte nahezu dankbar.
Lucas beschrieb es ziemlich richtig. Das Blut der alten Dame war überall. Es zu trinken verhalf mir nicht zu neuer Stärke, was ich unbedingt gebraucht hätte. Nein, es schmeckte faulig, gar säuerlich und war ungenießbar. Meine Sinne wurden überwältigt von diesem Blut und so konnte ich Lucas nicht die notwendige Aufmerksamkeit schenken, die er dringend benötigt hatte.

Natürlich erzürnte mich sein ignorantes Handeln. Doch ich muss zugeben, dass ich mich für die Dauer eines Herzschlages um mein Leben fürchtete. Diese Gewalt und die Aggressionen, die Lucas an den Tag legten waren äußerst bemerkenswert.
Seine Worte zeugten von seiner sturen und selbstverliebten Ansicht dieser Welt. Jede Person, jedes Lebewesen, ja sogar jedes Objekt musste sich um Lucas drehen. Er war der zentrale Wende- und Angelpunkt in seiner eigenen Geschichte.
Dieser Junge verdiente eine wegweisende Änderung in seinem Dasein. Ich würde ihn wieder auf den rechten Pfad leiten und ihm das Gefühl des Lebens zurückgeben.
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Teana/Juliane/Dariel
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Eichengrab

Beitrag von Teana/Juliane/Dariel »

Eichengrab

Fest drückte ich sie an mich. Ich wollte sie nicht dem Schnitter überlassen, obwohl das Leben zu diesem Zeitpunkt schon längst aus ihrem Körper gewichen war. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht wer oder was Nanas Mörder war.
In der gleichen Nacht noch ging ich nach draußen, in Richtung große Eiche, die etwa 200 Meter von meinem Anwesen entfernt in der grünen Natur lag. Sie befand sich auf einem grünen Hügel. Ein schmaler Fluss umging den mächtigen Baum mit geringem Abstand. Die Sterne so wie der Vollmond schenkten dem unberührten Land unter sich ein mattes Licht. Das Himmelszelt über mir war befreit von der sonst so vorherrschenden Wolkendecke. Die Abendblüte so ruhig und heil, wie ich sie schon lange nicht mehr vernommen hatte. Welch bittersüßer Kontrast sich hier vor mir präsentierte und einfach nicht in das Geschehen passte. Eine Wolkendecke und ein tränendes Himmelszelt hätten wohl eher verkündet was in mir vorging. Doch die Natur und ihre Bewohner unterstreichen oder unterstützen sich nicht gegenseitig. Der Natur und dem naheliegenden Leben war das Passierte egal.

Der sanfte Wind, welcher mir in mein Gesicht viel und das Zirpen der nächtlichen Grillen trugen Kunde von der Ruhe und dem Frieden dieses Ortes. Alles um mich herum schien ein Gegensatz von dem zu sein, was mir gerade eben passiert war. Hier würde Nana sicherlich ihren ewigen Frieden finden dürfen. Niemand würde sie hier noch ein weiteres Mal entehren oder schänden können. Sie sollte die Ruhe bekommen, die sie immer so sehr liebte. Was mich dazu antrieb so schnell aufzubrechen, um wortwörtlich ihr Grab zu schaufeln? Eine Explosion von Gefühlen hatte sich in mir aufgetan. Ich konnte nicht einfach nur dasitzen und auf Hilfe warten. Immer noch wütete der entfesselte Zorn in mir, obwohl ich meinen unnachgiebigen Instinkten bereits freien Lauf gelassen hatte und Nanas Mörder immer noch mit Blut überströmt in meinem Anwesen lag.
Ich packte den Stiel des Spatens und fing an zu graben. Meine Müdigkeit wurde von meinem Zorn verdrängt und daraus schöpfte ich Kraft, wurde angetrieben dieses Grab für sie zu schaufeln. Immer wieder brach ich unter Weinkrämpfen zusammen, pausierte einige Momente und atmete dabei schwerfällig. Doch diese letzte und wohl für mich schwierigste Ehre wollte ich meiner Mutter noch darbieten können und das bevor die Sonne sich wieder auf das Land tun würde. Eine Schockreaktion, die mir keine Ruhe ließ. Darum grub und grub ich und das gut einige Stunden lang. Salziger Schweiß überdeckte meine Haut und kleidete sie und meine Kleider ein.
Während ich grub dachte ich viel nach. Wieso zum Teufel hatte er sie getötet? Es gab einfach keinen triftigen Grund. Wieso hatte er ihren Körper so geschändet? War er vielleicht einfach nur krank?
Auch wenn schluchzend und weinend, grub ich die Ruhestätte für Nana weiter aus. Egal wie sehr das Graben auch an meinen Kräften zerrte, das war ich ihr schuldig.
Die Morgensonne ging langsam auf, als ich das Grab vollendet hatte. Es war bereits zugeschüttet und Nana hatte nun hoffentlich ihren ewigen Frieden gefunden. Mit meinen schwieligen Händen wischte ich mir Schweiß und Tränen aus dem Gesicht, rang etwas nach Luft und versuchte Fassung zu erlangen. Ich faltete die Hände ineinander, senkte meinen Kopf und sprach ein leises Gebet.

>>Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Herr, höre meine Stimme. Wende dein Ohr mir zu. Herr, wer könnte bestehen? Damit man in Ehrfurcht dir dient. Ich hoffe auf den Herrn, es hofft meine Seele. Meine Seele wartet auf den Herrn. Mehr als die Nacht auf den Morgen. Bei ihm ist Erlösung in Fülle von all den Sünden.<<
Vater hatte dieses Gebet bei Mutters Bestattung gesprochen. Wie bereits gesagt, fiel ich bereits vor langer Zeit vom Glauben ab, doch manche Riten kann man sich nicht abgewöhnen. Zudem war Nana sehr gläubig gewesen und ich wusste, dass sie es gewollt hätte, dass ich für sie dieses Gebet spreche. Müde und geschaffen, wollte ich nur noch in mein Anwesen zurückkehren und schlafen. Ich dachte gar nicht daran, dass mich dort noch die Leiche des Mörders erwarten würde.
Angeschlagen und von meinen Kräften verlassen, kehrte ich zurück. Dort würde ich nun aber niemanden mehr erwarten können, da ich nur Nana hatte. Meine Knechte und Diener arbeiteten auf den Feldern in Straußweg. Viel zu weit weg, als das ich auf die Schnelle ein paar Leute hätte zu mir rufen können. Doch im Grunde genommen wollte ich gar niemand anderen außer Nana haben. Man konnte sie nicht einfach so ersetzen.
Mir kam es nicht einmal in den Sinn die Kirche zu rufen, wie es sich gehörte, wenn sich ein Verbrechen ereignet hatte. Ich hatte den Mörder eigenhändig erdolcht und mehr hätte niemand mehr für mich tun können. Ich brauchte keine bemitleidenden Worte eines Priesters. Die Schuld war beglichen und lediglich der Schmerz und die Last dieses grausamen Lebens, das ich fortan allein führen musste, lastetet weiterhin auf mir. Doch die Gewichte der Last hatten zugenommen.

Jetzt erst wurde mir klar wie sehr ich die alte Dame geliebt hatte. Doch begreifen wollte ich es nicht. Vor wenigen Stunden noch bereitete sie mir ein Mahl zu. Keiner erahnte, dass so etwas Schreckliches hätte passieren können. An den jungen dunkelhaarigen Engel aus der Stadt musste ich nun schon eine Weile nicht mehr denken. Auch die Liebe in mir war verdrängt von der blinden Wut, der Trauer und dem Hass.
Meine Kleidung war mit Blut des Getöteten getränkt und voller Schmutz und Erde. Auch Hände und Gesicht von mir waren verschwitzt und schwarz von der Erde des geschaufelten Grabes. Als ich vor meinem Anwesen ankam, musste ich feststellen, dass einige Fenster, so wie das Haupttor im Eingangssaal eingeschlagen oder vollkommen zerstört waren. Ich Narr hatte meine Klinge am Ort des Geschehens zurückgelassen und hätte mich jetzt nicht mal wehren können. Für diese Runde wurden mir schlechte Karten ausgehändigt. Denn wenn ich nun jemanden bewaffneten im Haus gegenübergetreten wäre, wäre ich völlig wehrlos gewesen. Den Spaten hielt ich wie einen Schild schützend vor mich und ging durch die zerstörte Tür. Bevor ich eintrat, warf ich noch mal einen Blick zurück in Richtung Eiche, die von hier aus noch etwas zu erkennen war. Ein betrübter Anblick, dieser blutrote Sonnenaufgang in der Ferne, welcher Nanas Ruhestätte in diesem Augenblick erhellte. Trotz aller Gleichgültigkeit, die mir diese Welt in der vergangenen Nacht entgegengebracht hatte, schien es so als würde der Himmel über die nächtlichen Ereignisse weinen und das über dem Grab von Nana.

In mir aufkeimende Angst veranlasste mich zur Vorsicht. Doch die Wut war nach wie vor da und glaube mir, in diesem Moment, hätte sich die ganze Welt gegen mich stellen können und ich hätte wild um mich geschlagen. Als ich die Eingangshalle betrat überkam mich ein tiefsitzender und anhaltender Schock.
Möbel sowie die Teppiche und Gemälde an den Wänden wurden teilweise zerstört und zu Boden gerissen. Es war ein fürchterlicher Anblick, vor allem diese Kratzspuren im Holz und an den Möbeln, die so aussahen als würden sie von einem riesigen Tier stammen. Das ganze Anwesen war verwüstet. Chaos war eingekehrt. Ich untersuchte auch langsam die anderen Räume und musste erleichtert feststellen, dass sich niemand mehr im Anwesen befand. Doch das Maß der Zerstörung wurde immer brutaler. Umso tiefer ich in mein Anwesen eindrang, umso heftiger wurden die Schäden. Ich konnte mir keinen logischen Reim über den Verlauf dieses Ereignisses machen.
>>Ich habe ihn getötet.<<
Dessen war ich mir absolut sicher. War er vielleicht nicht allein und dies war das Tagwerk seiner Kameraden?
Vielleicht die Rache, weil ich ihren Kameraden getötet hatte? Vielleicht waren sie auf der Suche nach mir. Ich konnte mir keinen klaren Reim daraus machen. Das eigenartigste war die Tatsache, dass sie weder Schmuck noch Gold mit sich nahmen. Nein, sie suchten etwas Bestimmtes.
>>Was wollten diese Leute?<<
Das Ausmaß der Zerstörung ließ mich nachdenklich werden. Meine Sicherheit hier war mir nicht mehr gegeben und ich musste wohl fortan Sorge um mein Leben haben.

Dann rannte ich in Richtung Nanas Zimmer und mit Entsetzen musste ich feststellen, dass der Leichnam des Mörders nicht mehr am Boden lag. Meine Vermutung, dass hier mehrere Personen am Werk waren, bestätigte sich für mich. Sie hatten versucht mich zu finden, als ich Nana bestattete. Wenn das stimmte, dann würden sie wiederkommen, sie würden wiederkommen, um ihre eigene Rache an mir auszuüben. Ich nahm meine am Boden zurückgelassene Klinge an mich und wusste, dass ich nun handeln musste.


Natürlich wissen wir das es sonst niemanden außer mir in diesem Anwesen gab. Ja, ich muss mir wohl eingestehen, dass ich äußerst erbost war nachdem Lucas seinem emotionalen Akt freien Lauf ließ. Als ich wieder zu mir kam und die Wunden dank des kränklichen Blutes der alten Dame verheilt waren, hatte ich Schwierigkeiten Fassung zu wahren. Ich rief nach dem Jungen, erlangte vielleicht sogar für einen Moment die ursprüngliche Form meiner Göttlichkeit wieder - ja, es war unnötig - und ließ das Anwesen teilhaben an meiner einstweiligen Gemütslage.
Es dauerte jedoch nicht äußerst lange an und am Ende waren es nur einige dekorativen Gegenstände, die in Mitleidenschaft gezogen wurden. Über die Jahre hinweg wären diese ohnehin zu Staub verfallen.
Natürlich fand ich Lucas nach wenigen Momenten. Ich hörte sein Schluchzen, Weinen und Betteln und hatte ihm meine Lektion somit erfolgreich beibringen können. Viel zu lange und viel zu oft war der Junge der Tagträumerei und der Faulheit verfallen. Die Realität war nur noch ein Abbild dessen was er selbst für sich zuließ. Der Tod der alten Dame wäre ohnehin eingetreten und doch erreichte er auf diese Art einen Hauch von Selbstständigkeit und ließ von seiner arroganten Selbstgefälligkeit ab.
Nun musste er sich um jemand anderen kümmern. Er musste die Realität, das Chaos dieser Welt mit eigenen Augen erkennen können, um dadurch wachsen zu können.
Ein wenig zu rabiat, mh? Ich befinde es als äußerst passend.
Ich betrachtete den Jungen eine ganze Weile und sah seinen Willen wachsen. Im Chaos setzte er sich selbst ein Ziel und überwand somit am Ende seine menschlichen Grenzen.
Für den Moment würde ich ihm die notwendigen Momente der Ruhe und Einsamkeit zur Verfügung stellen, die er dringlich für sich selbst benötigte. Während meines Weges zur Göttlichkeit strebte ich nach Vollkommenheit, war jedoch nicht herzlos und zeigte somit meine Barmherzigkeit.

Ich würde wiederkehren und den nächsten Schritt vollziehen.
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Die Goldenen Stadt

Beitrag von Teana/Juliane/Dariel »

Ich lag im äußerst gemütlichen Bett meiner kleinen und bescheidenen Stube, die ich mir inmitten von Ansilon angemietet hatte. Die Worte des Jungen offenbarten mir ein gänzlich anderes Bild von ihm. Ich hatte ihn sehr viel schwächer, jedoch genauso leidenschaftlich kennengelernt. Hätte er seinen Weg doch weiter so zielstrebig verfolgt. Dann wären die Dinge wohl ganz anders gekommen. Doch wie so oft, weiß man wohl erst viel zu spät über die Dinge Bescheid, die man besser hätte unternehmen sollen.


Die Goldenen Stadt

Ich durfte nun keine Zeit mehr verlieren und dachte immer wieder daran, dass mich diese Leute erneut aufsuchen würden. Auch wenn das Chaos in meinem Anwesen groß war, ich musste sofort aufbrechen. Schlaf war ein Luxus, den ich mir nicht gönnen konnte.
Das Gefühl, dass sie wiederkommen würden, ließ mich einfach nicht los. Ich vermutete sogar, dass sie heute wieder kommen würden. Vielleicht würden sie genau im nächsten Moment in mein Anwesen spazieren und mich überwältigen?
Besorgnis über meinen eigenen, zukünftigen Verbleib überkam mich, als ich auch nur einen Gedanken an das verschwendete, was mir in nicht allzu weit entfernter Zukunft alles hätte passieren können. Denn allein hätte ich keine Chance gehabt. Was hätte ich als alleinige Kraft schon gegen ein ganzes Pack ausrichten können? Genau deswegen brauchte ich Verstärkung, Verstärkung aus der Stadt. Geld spielte keine Rolle, denn davon hatte ich genug.
Schnellen Schrittes ging ich die Treppen hinauf und folgte dem Nordflügel in mein Gemach. Ich stieß die Tür auf und wandte mich schnell dem Kleiderschrank, gleich rechts neben der Tür zu. Schnell öffnete ich ihn und zog meinen schwarzen Ledermantel heraus, der griffbereit im Schrank hing. Schlampig und in Eile geraten, zog ich mir diesen über und trat wieder den Weg nach unten zur Stallung an. Die Stallung für mein Ross war ein Pavillon aus Holz, welcher sich hinter dem Haus befand.
Während meines eiligen Fußmarsches kämmte ich mein zerwühltes, langes und dunkles Haar mithilfe meiner gespreizten Finger nach hinten. Ich nahm auch einige Goldstücke mit, die ich in einem geheimen Fach hinter einem Gemälde in der Küche aufbewahrte.
Denn mir war bewusst, dass die Menschen in der Stadt nicht umsonst helfen würden.
Damals wie heute war das so. Ich habe gemerkt, dass sich die Menschen im Laufe der letzten Jahre nicht sonderlich viel verändert haben und ihres Glückes Schmied immer noch das Geld ist. Eine Illusion, der viele Menschen nachgehen und dabei das wesentliche aus den Augen verlieren. Wertschätzung ist heutzutage nur noch ein Begriff, der in Reden, Theaterstücken, Bardengesängen oder in den Religionen als illusionärer Besucher vor Ort ist. Doch du siehst, wie viel einem das Geld bei solchen Schicksalsschlägen helfen kann.
Probleme lassen sich leider so oft nur mit Geld bewältigen.
Den Beutel voll Gold und die Klinge am Hüftgürtel verankert betrat ich den Garten, der geradewegs zum Stall führte.
Ich besaß einen schwarzen Hengst. Schwarzgold. Warum er den Namen Schwarzgold trug? Sowohl seine Mähne als auch sein Fell waren pechschwarz und strahlten ein gesundes und starkes Glänzen aus. Die Muskeln an Beinen und Brust waren deutlich sichtbar. Schwarzgold durfte tagesüber auch mit anderen Pferden auf der weiten Weide laufen, was ihm wohl zu so guter Stärke verhalf. Ich hielt nie viel davon irgendwelche Menschen oder Tiere als Sklaven zu halten. Dieser Hengst war für mich mehr wert als alles Gold der Welt, ein solches Geschöpf gab es einfach kein zweites Mal.
Oft ritt ich mit ihm an ferne Orte, um die Ruhe selbst mit ihm zu genießen. Das Pferd war auch ein guter Freund für mich. Daher gab ich ihm den Namen Schwarzgold. Schwarzgold schien an diesem Tag etwas unruhig und wieherte, das bereitete mir eine Sorge mehr. Denn das Wiehern eines Hengstes überbrachte stets schlechte Botschaft. Man konnte es dem Tier einfach ansehen, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Nachdem ich ihn gesattelt hatte, sprang ich auf den Rücken des Tiers und ritt so schnell wie nur möglich in Richtung Goldstadt.

Mein Anwesen hinter mir wurde immer kleiner und wir entfernten uns immer mehr von Zuhause. Rings um das Anwesen herum lag ein Wald und hinter dem südlichen Waldteil lagen meine Felder in Straußweg. Wir mussten jedoch nach Norden reiten, um Goldstadt zu erreichen. Ich hoffte nur irgendjemanden in der Stadt zu finden. Das Areal um das Anwesen herum war mit Leben vollgestopft. Überall Vögel, Wildschweine, die im Geäst nach Nahrung grunzten und Hasen, die über die Felder wanderten. Eine Idylle, die gar nicht zur momentanen Situation passte.


Der Wald strahlte einen totalen Gegensatz zu dem aus, was mir passiert war. Schließlich führte der Weg einen steilen und bergigen Pass nach unten – mein Anwesen lag nämlich in einer kleinen Berganhöhe, über Goldstadt. Luis Schenke – der Zwitschernde Specht - kam mir schließlich in den Sinn. Ich musste diese Schenke aufsuchen und dort würden mir mit großer Sicherheit ein paar Trunkenbolde auffallen, die für eine gewisse Menge an Gold helfen würden. Auch Krieger und andere Reisende hielten sich dort oft auf – das wusste ich noch aus früheren Besuchen in der Kneipe mit meinem Vater. Luis Kneipe war nicht wirklich das, was sie zu sein schien – viel mehr war sie eine Art Kaserne, für Leute die Hilfe von Söldnern oder derartigem benötigten. Natürlich war das nicht publik, da es gegen das Gesetz der Geistlichkeit war. Nur ein bestimmter Kreis von Menschen wusste etwas darüber, so auch mein Vater. Ich wurde zuversichtlicher, dieses Problem mit den Mördern von Nana aus dem Weg schaffen zu können, falls sie denn wirklich diese Nacht wiederkommen würden.
Vater hatte mit so viel Gold übergelassen, ich hätte noch weitere zwei Leben damit auskommen können und doch half es mir nicht dabei, Nana vor den Klauen dieser Monster zu retten. Doch ich sehnte mich nach Rache. Ich ritt weiter durch die Wälder und etwas hatte sich ganz plötzlich verändert. Die Vögel sangen nun nicht mehr und die Sonnenstrahlen drangen nicht mehr durch die Dickichte des Waldes. Ich ritt nicht auf der Straße entlang, nutzte einen kürzeren Weg, der direkt durch geöffnete Passagen des Waldes führte. Nur gebrochen drangen die Sonnenstrahlen durch das Dickicht des Waldgeästs. Das war das Moorgebiet des Waldes vor Goldstadt. Ich kannte diesen Wald wie meinen eigenen Lederbeutel, wusste wo ich Schwarzgold hinführen durfte und wo Gefahr für ihn gelauert hätte. Das sumpfige Gebiet kann trügerisch sein. Anderweitig wäre man im Moor versunken oder hätte sich im Inneren verlaufen.
Wir stoppten das erste Mal, als mein Hengst einen schmalen Bach passierte. Ein kurzer Blick in das Wasser verriet mir, dass eine rote Flüssigkeit das Wasser begleitete.
>>Blut..<<
Kam es leise aus meiner Kehle hinaus. Schnell spornte ich Schwarzgold an zu wenden, das tat ich indem ich kurz etwas an den Zügeln zog und mit der Zunge zwei Mal schnalzte. Schwarzgold kannte viele Kommandos dieser Art. War dort oben jemanden etwas passiert, brauchte er vielleicht Hilfe? Dann schnalzte ich kurz mit der Zunge und ließ Schwarzgold mit einem Mal den Bach stromaufwärts entlang traben. Es dauerte nicht lange und wir bekamen das Übel mit unseren eigenen Augen zu sehen.
Mitten im Fluss lag ein dicker, jedoch gut gekleideter Mann, der seine besten Jahre bereits hinter sich hatte. Von der Kleidung her konnte man erkennen, dass er wohl ein Handelsmann war. Doch das wichtigste, er war tot. Mit großem Entsetzen musste ich feststellen, dass sein Kopf auf einem Felsen im Bach geprellt war. Sein Genick gebrochen und jemand hatte ihm wohl die Kehle aufgeschlitzt, da das Blut aus seinem Hals quoll. Er erlag dieser Wunde und schlug dann mit dem Kopf auf einem Felsen im Bach auf. Ein ekelerregender und grausamer Anblick.
Das Erlebnis der vergangenen Nacht wurde in meinen Erinnerungen wieder hervorgerufen. Zwei Morde, zeitlich unmittelbar zusammenhängend, in derselben Gegend? Handelte es sich hierbei vielleicht um die gleichen Leute, die auch in meinem Anwesen waren? So etwas hatte sich die vergangenen 10 Jahren nicht einmal in der Gegend um Goldstadt herum zugetragen. Obwohl die Handschrift dieser Tat eindeutig auf den Mörder Nanas hinwies, konnte ich nicht viel tun. Wäre ich vor Ort geblieben und irgendwer hätte mich hier mit dem Toten zusammen gesehen, so hätte man die Schuld sofort auf mich gelenkt und so etwas wollte ich zu verhindern wissen. Irgendwer anders würde sich um ihn kümmern, da ich ohnehin nichts tun konnte. Es mag kalt und herzlos erscheinen. Doch genau so waren die Verhaltensregeln.
Taktlos denkst du? Glaub mir, du hättest ebenso gehandelt, wenn du miterlebt hättest, was mir zu Teil wurde. Ich hatte Angst und war mir unsicher und ich denke auch heute noch, dass es die richtige Entscheidung war. Denn ich glaube niemand möchte gerne mit einem Mann gesehen werden, der vor kurzem noch lebte.
Mit einem bedrückenden Gefühl wendete ich die Zügel und Schwarzgold ritt wieder in Richtung Stadt. Dieser Tote eben gab mir mächtig zu denken. Nicht mal bei diesem Handelsmann waren sie auf Gold oder Schmuck aus. Der Händler trug einen goldenen Ring und einige Beutel bei sich, deren Inhalt wohl so manchen Dieb angeregt hätte, Luftsprünge zu machen. Ich wusste mir keinen Reim daraus zu machen, sie töteten einfach ohne guten Grund. Sie stachen oder bissen sie ihre Opfer etwa in den Hals? Aber warum? Ich hatte noch nie zuvor jemanden gesehen, der einem Verbrechen erlag und jetzt sah ich gleich zwei dieser Übeltaten nacheinander und eine der ermordeten Personen gehörte sogar zu meinem engsten Lebenskreis.
Du musst verstehen, dass ich mehr als nur entsetzt über diese Tatsache war. Es war so viel, dass ich nicht verstand oder verstehen wollte. Das klang alles so unlogisch.
Inzwischen war Schwarzgold kurz vor der Stadt angekommen. Hinter mir lagen nun die Wälder. Ziemlich merkwürdig - hinter mir über den Wäldern lagen mehrere Wolken, die den Wäldern darunter das Sonnenlicht raubten.
Ich hielt nicht viel von Aberglauben oder magischen Wesen, doch langsam machte sich eine böse Vorahnung in mir breit. Ja, eine Art Omen. Das Gefühl, als würde bald etwas Schlimmes passieren. Nennen wir es einfach die innere Stimme oder den sechsten Sinn. Diese Stimme möchte uns vor etwas warnen. Solltest du einmal ein solches Gefühl der Vorahnung haben, achte darauf und handle nicht unbedacht. Es gibt noch so viele Dinge, die die Menschen über sich selbst nicht wissen und nur erahnen können. Manche Dinge kann man nicht mit Wissenschaft erklären. Darum akzeptiere es als solches und frage nicht weiter, falls du selbst einmal in eine ähnliche Situation kommen solltest und die Gefahr riechen solltest.
Langsam ritt ich in die Stadt durch einen großen Torbogen hinein, der von Soldaten der Stadt bewacht wurde. Der Weg der Innenstadt war komplett mit Steinen zugepflastert und die Gebäude machten einen äußerst gepflegten Eindruck. In dieser Stadt schien alles in Ordnung zu sein. Armut oder Epidemien hatte ich nie kennen gelernt.
Luis Zwitschernder Specht lag am anderen Eingang der Stadt. Daher musste ich erst den Marktplatz und die restlichen Gassen der Stadt durchqueren, um dort anzukommen. Forschend schlich ich mithilfe von Schwarzgold durch den Marktplatz. Die Leute waren wie immer ziemlich laut. Sie kauften, spielten und soffen hier bis in die Nacht hinein. Der Marktplatz war eine reine Attraktion. Persönlich hielt ich gerade deswegen nicht viel vom Marktplatz.

Eigentlich hielt ich überhaupt nichts von der Stadt. Genauso wie mein Vater. Daher lag unser Anwesen wohl auch etwas abgelegen. Unverhofft und ungewollt, fiel mir gerade wieder der dunkelhaarige Engel ein, diese Schönheit von Mädchen. Sie wohnte mit ihrer Mutter in der Schneiderei, die am Ende des Marktplatzes lag und von ihnen gleichermaßen geführt wurde. So schnell erreichte sie wieder mein Herz und das trotz dieser dunklen Stunden. Es war falsch, das wusste ich.

>>Schwarzgold!<<
Rief ich kurz aus und schnalzte mit der Zunge, das reichte aus und mein treues Reittier wusste ganz genau wohin es seinen Herrn nun bringen sollte.
Die Leute in Goldstadt schienen alle recht zufrieden zu sein. Armut gab es zwar auch, doch zumeist hatten die Menschen Arbeit und wenn sie nur als Tagelöhner arbeiten mussten, so konnte jeder von ihnen über die Runden kommen. Anders als in Kronstadt oder Straußweg, lebten die Menschen hier zumindest meist als einfache Arbeiter.
Auch wohlhabende, ja sogar der Adel war in Goldstadt vertreten. Zumeist unterstützten diese mit finanziellen Mittel die Kirche und hatten auch Beziehungen zu dieser aufgebaut. Dem zu Folge hatten wir in Goldstadt eine sehenswerte und riesige Kathedrale. Der Bau dieses Gebäudes wurde laut Bischof Mathor einzig und allein durch die Spendengelder der Familien Lupin und Vincenti finanziert. Beide waren Adelsgeschlechter, die einen sehr guten Draht zu der Geistlichkeit hatten.

Oh ja, ich erinnere mich gut an diese moderne und geistlose Stadt. Ich muss zugeben, dass ich Georgs handeln - also Lucas' Vater - gut verstehen kann. Ich selbst war früher auch ein Mann, der diese Städte und die Geschäfte darin liebte. Solche Städte brachten mir immer ein äußerst großes Sümmchen. Arm und Reich kamen wegen meiner Waren zu mir. Im Nachhinein muss ich zugeben, dass mich diese Städte anwidern. Der Anblick von stinkenden und zusammengepferchten Menschenmassen ruft ihn mir den Drang hervor mich erbrechen zu lassen. Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit sind diesem Gewürm fremd. Auch sie sollten bisweilen erzogen werden.
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Teana/Juliane/Dariel
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Re: Gottgeschaffene Gottheit

Beitrag von Teana/Juliane/Dariel »

Der Engel und das Narbengesicht

Bei der Schneiderei angekommen stieg ich nun mit einem Schwung vom Sattel meines Tiers hinab. Dann streichelte ich den Hengst kurz etwas über seine prächtige, schwarz glänzende Mähne und bat ihn um etwas.
»Bleib hier und warte auf mich.«
Unter einem Laubbaum vor dem Schneidereibedarf verharrte Schwarzgold anschließend.
Jetzt stand ich also vor dem Gebäude der Schneiderei. Meine bereits schreiende Einfältigkeit und Naivität versprachen mir den gesuchten Trost. Selbst wenn ich hier etwas Derartiges gefunden hätte, meine Probleme hätte es nicht gelöst. Allerdings musste ich ohnehin noch eine Bestellung abholen. Ja, das war meine Ausrede, sich in die Sicherheit einer unbeteiligten Familie flüchten zu dürfen. Die Treppen führten einige Stufen nach oben in die Stube.
Das Haus hatte ein Kellergebäude, das wohl als Lager für Stoffe und andere Materialien diente. Der untere Teil der Mauer des Hauses wurde aus massivem Gestein geschaffen, welches etwa zwei Meter in die Höhe ragte. Die sich darauf befindliche Passage wurde aus Holz errichtet und führte bis zum Dach des Hauses weitere zwei Meter nach oben. Eine Konstruktion, die eher untypisch für die damalige Zeit war. Mithilfe des Türknaufs klopfte ich mit drei aufeinander folgenden Schlägen gegen die massive Holztür. Nach kurzer Zeit des Wartens öffnete ich dann die knarrende Tür.

Als ich den Vorraum betrat sah ich überall die verschiedensten Stoffe hängen. Ein nahezu süßlicher, frischer Geruch nach Seife warf sich mir entgegen. Aufgerollte Baumwollfäden lagen in den Regalen hinter der Theke und im Vorraum lagen einige Kisten mit Schafswolle. Über dem Geländer der ersten Etage hingen lange und feine Stoffe nach unten und das in den verschiedensten Farben vorgefärbt. Links neben der Tür standen ein Spinnrad und ein Hocker, auf dem man das Garn zum Faden aufwickelte. Außerdem stand ein Webstuhl auf der Gegenüberliegenden Seite. Mit diesem vereinigte man den Garn zu Stoff, aus welchem die Kleidung entstünde. Eine aufwändige jedoch auch lohnende Prozedur, um Kleidung herzustellen.
Dort standen auch viele Regale, welche mit verschiedenstem Stiefel bestückt waren. Ich ging in Richtung Tresen, der sich direkt gegenüber vom Eingang befand und lag beide Hände darauf ab. Suchend blickte ich zunächst zur nach oben führenden Treppe, die sich hinter dem Tresen befand. Doch dort oben schien niemand zu sein und ich fragte mich ob überhaupt jemand hier war. Einen Termin hatte ich nicht vereinbart. Ich platzte einfach so hier herein und dachte mir nicht viel dabei.
»Entschuldigt bitte.«
Drang meine Stimme gut hörbar durch den Raum.
Nach einiger Zeit kam sie die Treppe von oben hinunter zum Tresen. Angelockt vom sich mir annähernden Antlitz, welches meinen Geist seit einer unmenschlichen Zeitspanne an sich gezogen hatte. Die Sehnsucht nach den Tiefen des Blaus nun besänftigt, verfing sich mein Blick zielgerichtet in der Endlosigkeit dieses Augenpaars. Zierlich, schlank, nicht zerbrechlich. Sie trug eine beigefarbige Leinenbluse und darüber ein blaues, ärmelloses Kleid. Das dunkle, seidige Haar reichte ihr bis zu den Hüften. Stillschweigend betrachtete ich sie, auch als sie bereits seit einigen Sekunden vor mir stand. Manchmal kann Schweigen mehr als tausend Worte deuten.
Ein freundliches und wohlgesinntes Lächeln. Wut, Hass und Verzweiflung waren für die Dauer eines Moments etwas zurückgedrängt und die erst kürzlich verschwunden geglaubte Wärme, kehrte tief in meine Brust zurück. Sie erwiderte das Lächeln dann nur. Natürlich war mir bewusst, dass sie dieses Lächeln jedem Kunden entgegenbrachte und ich mir dadurch nichts versprechen konnte. Doch der Ausdruck dieser feinen und lieblichen Gesichtszüge verzauberte mein Gemüt. Als brutaler Kontrast versuchten Angst, Wut und Gewissensbisse in den Vordergrund zu drängen, um mich gewalttätig aus dieser Illusion entfernen zu können. Und doch stand ich nahezu gelähmt von der Berührung dieser Anmut und Schönheit an Ort und Stelle. Es fiel es mir schwer die Worte aus mir heraus zu bringen.

»Guten Tag junger Herr, wie kann ich Euch weiterhelfen?«
Die Spannung löste sich allmählich etwas, nachdem sie angefangen hatte zu sprechen. Ich räusperte mich kurz etwas, während ich die Hand vor dem Mund hielt.
»Ich habe vor kurzem eine Bestellung bei Eurer Frau Mutter aufgegeben und wollte fragen, ob ich die Sachen denn mitnehmen könnte?«
»Gerne. Sagt mir lediglich Namen und Nummer der Bestellung. Gegen den vereinbarten Betrag werde ich Euch anschließend die Bestellung aushändigen.«
Doch ich antwortete ihr nicht sofort. Ohren und Lippen waren unfähig irgendwelche Informationen aufzunehmen, da meine Konzentration vollkommen auf ihr Augenpaar übergegangen war. Ich sah sie nur an und das eine ganze Zeit lang. Doch das Gewissen wollte mich hier nicht haben, erlaubte mir die in mir aufkeimende Wärme nicht, präsentierte mir stattdessen das Bild von Nana vor meinem geistigen Auge. Ich war kein Junge mehr, musste mir die derzeitige Situation nochmal vor Augen halten. Das Erreichen dieses Traumes war nun noch weiter entfernt denn zuvor.
»Entschuldigt. Bitte?«
Dann runzelte ich die Stirn ein wenig. Die junge Schneiderstochter begann amüsiert zu lächeln und in einem kichernden Tonfall sprach sie dann wieder zu mir.
»Ihr seid mir ein komischer Kauz, wollt eine Bestellung abholen, wisst aber nicht welche. Habt Ihr meiner Mutter mehrere Bestellungen aufgegeben?«
Sie war zufrieden, das konnte ich ihrem natürlichen Lächeln entnehmen. Meine Wenigkeit würde sie lediglich in den momentanen Strudel ziehen, in welchem ich mich selbst seit letzter Nacht befand.
So gut wie möglich versuchte ich wieder Fassung zu gewinnen
»Die Bestellnummer. Herrje, ich muss sie verlegt haben. Doch Eure Frau Mutter wird sich vielleicht an mein Gesicht erinnern.«
»Ach so ist das, würde der Herr mir seinen Namen mitteilen damit ich nachsehen könnte?«
»Entschuldigt bitte ich vergaß völlig mich Euch vorzustellen. Lucas de … ist mein Name.«
Wieder präsentierte sie ihr liebliches Lächeln, das fast schon wie ein mit Perfektion gezeichnetes Bild glich. Fast durchbohrend fixierte mein Blick sie, bis sie plötzlich weitersprach.
»Herr de … also.«
Als sie diese Phrase verkündete, schüttelte ich kurz den Kopf und korrigierte sie.
»Es reicht, wenn Ihr mich Lucas nennt Fräulein.«
Zögernd nickte sie etwas, behielt das Lächeln dabei aufrecht.
»Fein Lucas. Mein Name ist übrigens Lucilla Carsel.«
Anerkennend nickte ich.
»Es freut mich Eure Bekanntschaft machen zu dürfen Fräulein Carsel.«
Abwehrend hob sie die Hand an und schüttelte den Kopf.
»Nein, diese Anrede ist nun leider nicht mehr angemessen.«
Für einige Herzschläge lastete mein Blick nahezu durchbohrend auf ihr. Was wollte sie mir damit sagen? War sie bereits an jemanden versprochen oder gar schon verheiratet?
»Entschuldigt, ich..«
»Ihr sollt Euch nicht dauernd entschuldigen Lucas. Es ist ganz einfach, horcht auf.«
Irritiert legte ich die Stirn in Falten und tat wie sie von mir wünschte.
»Ihr gebt mir die Möglichkeit Euch mit Eurem Vornamen ansprechen zu dürfen, warum sollte ich also nicht auch ein Anrecht auf diese Bitte haben?«
Erleichtert löste sich die Spannung in meinem Gesicht.
»Ich verstehe.«
Ein schmales Lächeln umgab meine Lippen.
Du wirst bereits bemerkt haben, wie ich von diesem Mädchen die ganze Zeit schreibe. Immer wieder liest du diese schmalzigen Ausdrücke, die es dir leichter machen sollen, sich das Mädchen vorstellen zu können. Doch selbst heute habe ich sie noch genauso in Erinnerung. Ich wüsste nicht, wie ich sie sonst hätte beschreiben können. Sie war einfach der vollkommene Gegensatz der Umwelt, in der ich mich befand. Sie war die einzige Person, die noch ein wenig Licht in die Dunkelheit um mich bringen konnte. Auch wenn sie es selbst nicht wusste.
Auch weiterhin vom vergnügten Lächeln begleitet, das ihre roten und schmalen Lippen begleitete, wandte sie sich um, um in den Regalen der Theke zu stöbern.
»Einen Moment bitte..«
Sie streckte sich dann weit hinauf, um etwas aus dem oberen Regal hervorzukramen. Ich vergaß völlig die Zeit, die mir langsam aber sich davonlief. Und die Schuld in meinem Innersten, plärrte mich förmlich an. Nun musste ich die wesentlichen Dinge wieder in den Vordergrund setzen.

Lucilla würde ich bestimmt wieder antreffen, sofern ich die nächsten Tage überleben würden.
Dann erhob sie sich.
»Herr Lucas de …, richtig? Euer Vater war doch Georg de …, richtig?«
So sehr ich mich auch nach ihr sehnte, so wollte ich nicht, dass sie in meinen von mir vertriebenen Erinnerungen wühlte. Ich atmete kurz tief ein, schloss meine Augen und nickte anschließend.
»Ja.«
Sie bemerkte, dass die Nennung des Namens meines Vaters mir nicht behagte und sah mich daher etwas bedrückt an.
»Entschuldigt, ich wollte Euch nicht...«
Lucilla wollte sich dafür entschuldigen, dass sie diese Erinnerungen in mir hervorgerufen hatte. Sie wusste was geschehen war. Denn jeder in Goldstadt wusste das, doch konnte ich es ihr trotzdem nicht übelnehmen. Sie wusste nicht, dass mich der Tod meines Vaters immer noch plagte. Sie wusste nicht was Nana passiert war, wusste nicht dass ich trotz all dem hier bei ihr war und sollte es auch nicht erfahren.
»Ich… Ich werde kurz nach unten gehen, um..«
Schnell nickte ich ihr zu und meinte nur.
»Danke Lucilla, Ich werde so lange hier auf Euch warten.«
Sie ging die Treppen hinter dem Tresen hinunter in das Lager. Dort bewahrten sie wohl die Bestellungen der Kunden auf. Mit ihrer Abwesenheit kehrten die dunklen Schatten zurück, die mich seit jener schicksalshaften Nacht verfolgten. Die Erinnerungen, die Stimmen und die Bilder. Schuldgefühle plagten mich fortan. Ich musste fort.

Ich war hier bei ihr und das war nicht der rechte Weg. Mein eigentliches Ziel war ein anderes und das hatte ich aus den Augen verloren. Ja, Liebe macht blind und nicht nur die wesentlichsten Dinge vergisst oder vernachlässigt man dadurch.
Ein anschließend langer Seufzer beendete meinen Gedankengang.
»Es tut mir Leid, das ist einfach nicht die Zeit.«
Kam die Entschuldigung leise aus meinem Mund. Dann entfernte ich den Goldbeutel vom Ledergürtel, der mir um die Hüfte geschnallt war. Ich lockerte die Schnur ein wenig, die den Lederbeutel verschloss und öffnete somit das Leder, das sich nun ein wenig öffnete. Dann legte ich ihr zwei Goldstücke hin und wandte mich schließlich um.
Es war schwierig zu gehen und ich konnte nicht auf Anhieb verschwinden.

All dies wurde durch eine erneute, wiederkehrende Erinnerung an die letzte Nacht angetrieben. Ich öffnete die Tür nach draußen, blickte mich nochmal um und sah in Richtung Keller als ich Lucillas Stimme nochmal hörte. »Wie es scheint hat meine Mutter die Handschuhe noch nicht fertig oder ich finde sie einfach nicht! Habt bitte noch einen Moment Geduld Lucas!«
Drang ihre liebliche Stimme, die zu ihrer Gestalt passte, mit dem Versuch kräftig zu klingen, aus dem Keller nach oben.
»Es tut mir Leid.«
Entschuldigte ich mich in der Hoffnung, dass sie mir mein plötzliches Verschwinden verzeihen würde.
Meine Gefühle hatten mich zu lange aufgehalten. Irgendwie war dieser Besuch bei ihr doch eine große Ernüchterung. Ich sah diesen Engel, sprach mit ihr und es besänftigte meine Sehnsucht. Doch für mehr hatte ich jetzt keine Zeit. Nein, die Zeit lief mir davon. Ich musste jemanden finden, der mir eine zusätzliche Kraft sein würde, wenn ich erneut angegriffen werden würde. Auch wenn sich schlussendlich alles als paranoider Schachzug von meiner Seite aus darstellen würde. Fakt war, dass Nana immer noch tot war und dort draußen jemand war, der sie auf dem Gewissen hatte. Egal ob eine, zwei oder drei Personen. Ich wollte gewappnet sein.
Ein kurzes und tiefes Einatmen, bevor ich die Treppen nach unten ging und zurück zu Schwarzgold ging, der immer noch auf mich wartete. Ich nahm die Zügel in die Hand und ging zu Fuß weiter Richtung Stadtende.

Ich folgte dem gepflasterten Pfad. Mein Weg führte mich auch langsam durch den ärmeren Teil von Goldstadt. Ich hatte ihn wirklich vergessen und war mir nicht bewusst, dass es hier in Goldstadt auch Menschen gab, denen es wirklich schlecht ging. Ja ich hatte es mir zu meiner eigenen Wahrheit gemacht, dass sie schlichtweg nicht existent waren. Das Armenviertel der Stadt. Der Weg war nur teilweise mit Pflastersteinen bedeckt und wenn er gepflastert war, war die Qualität der Straße miserabel. Die alten Häuser wurden eines neben dem anderen gebaut, um so viel Platz wie möglich ausnutzen zu können. Wenn ich von Häusern schreibe, meine ich nicht unbedingt die Begebenheit, die man sich unter normalen Umständen darunter vorstellen würde. Viel mehr waren es unterschlüpfe, die nur minder vor Kälte und Nässe schützten.
Bischof Mathor hatte nicht viel Zeit sich mit den Problemen der niederen Bürger zu beschäftigen und ließ daher seine Entscheidungen über das Armenviertel seine Berater erledigen. Das Konzept der Berater lautete – Einsparungen in Raum und Unterstützung. Natürlich konnte man so Kosten sparen und die Menschen hatten auch die letzten Jahrzehnte nach diesem Konzept überleben können. Das Armenviertel war gar nicht so klein, wie ich es in Erinnerung hatte oder war es seit meinem letzten Besuch so stark angewachsen? Der Platz wurde jedoch nicht größer. Die Menschen wurden auf engem Raum zusammengepfercht und hatten zwar eine Unterkunft, doch ich fragte mich, ob die Gesamtsituation eigentlich menschenwürdig gewesen war.
Ich selbst war eine andere Größe gewohnt. Für mich war es nahezu unmöglich, sich auch nur im Geringsten ein Leben hier vorstellen zu können.
So gut wie alle Bewohner des Armenviertels arbeiteten als Tagelöhner auf den Feldern. Solche Armenviertel ließen natürlich die Kriminalität wachsen und pulsieren. Das Gegenmittel dafür waren öffentliche Hinrichtungen. Selbst wenn jemand aus dem Armenviertel einen Beruf erlernt hatte, versprach das noch lange nicht das eigene Überleben. Die Begrifflichkeit Qualität wurde von den Menschen durch anderweitige Wertevorstellungen geprägt.
Ein in ärmlichen Verhältnissen großgewordener Bauer, konnte einfach keine Qualität bringen – so einfach war die Erklärung. Die Wertschätzung von Arbeit war ein objektiv angelegtes Maß, das viel mehr nach situativer Lebensgrundlage festgelegt wurde. Wer reich und schön war und zudem ein Handwerk besaß, war durchaus dazu in der Lage, qualitative Arbeit zu verrichten. Wie gut oder wie schlecht die Waren nun wirklich waren, war eine Belanglosigkeit und spielte somit keine Rolle.
Dieses Armenviertel war von der Unterschicht besetzt. Die Entwicklung einer sozialen Struktur oder der Aufstieg zu Ruhm und Geld waren beinahe nicht zu erreichen – wenn nicht gar undenkbare Vorstellungen, die einzig in Träumen ausgelebt werden konnten.

Daher konnten diejenigen, die ein Handwerk besaßen, über jeden noch so kleinen Auftrag froh sein. Ist das die Art und Weise wie man einem Menschen Würde entgegenbringt? Wie sind diese Zustände in deiner heutigen Welt? Wurden sie überwunden? Wissen die Menschen es besser?
Wahrscheinlich ist es genauso wie zu meinen Zeiten. Der Mensch ist Mensch in seinem Sein und schätzt nur, wenn er vermisst. Würde war eine nicht definierte Illusion und gehörte den einzig und allein der Obrigkeit.

Nana kam auch aus dem Armenviertel der Unterstadt und mein Vater war einer der wenigen barmherzigen Menschen hier und nahm sie als Magd auf. Als er sah wie verwahrlost Nana am Straßenrand saß, sprach er sie an und fragte sie was ihre Fähigkeiten wären. Ohne groß zu überlegen, stellte er sie als Hausmagd ein. Reiche Gutsherren wollte lediglich billiges Arbeitspersonal auf den Feldern haben. Doch im Haus wollten sie selten diese Art von Menschen haben. Im Haus war die Unterschicht nicht gerne gesehen. Man bevorzugte angelerntes Personal aus der Mittelschicht und bezahlte dafür auch gerne. Da war mein Vater eine Ausnahme. Langsam baute sich in mir ein Zweifel auf, ob Nana es überhaupt überlebt hätte, wenn mein Vater sie damals nicht mitgenommen hätte. Fest schüttelte ich den Kopf und versuchte diesen Gedanken von mir zu werfen. Es war abstrakt so zu denken.
Nach dem Verschwinden meines Vaters führte ich den Brauch meines Vaters fort und ließ Nana auch weiterhin im Anwesen arbeiten und leben.
Ich kannte bisher nur meine warme Stube, ständiges Wohlbefinden und dachte das sei eine völlig natürliche Selbstverständlichkeit. Den wahren Begriff des Wortes arm kannte ich nicht. Natürlich war mir bewusst, dass die Menschen nicht so viel an Besitz wie ich hatten. Doch das der Unterschied so enorm war, das gab mir zu denken.
Zwischen den alten und brüchigen Bauten lag ein Gebäude, das im Vergleich zu den anderen Häusern noch recht gut aussah. Lichter strahlten aus den verschmierten und dreckigen Fenstern in den Mauern. Es war bereits Nachmittag, als ich bei Luis Taverne, dem Zwitschernden Specht, ankam.
Nahe der Taverne gab es eine baufällige Stallung, wo ich Schwarzgold abgeben konnte. Ein wirrer und älterer Mann mit grauschwarzem Haar saß vor dem Stall auf einem Stuhl. Vor ihm stand ein alter Holztisch, auf dem eine kleine Schale und ein paar Schnitzfiguren standen. Der alte kümmerte sich um die Pferde vor Luis Laden und schnitzte nebenbei hölzerne Skulpturen. Immer wieder sprach er wirre nicht zusammengehörende Worte aus. Irgendwie tat er mir leid, als ich ihn da so wirr hocken sah. Daher zückte ich schnell eine Goldmünze aus der ledernen Tasche und warf dieses in die auf dem Tisch stehende Schale. Anschließend betrat ich das Lokal.
Nach dem Öffnen der alten und massiven Holztür, kam mir sofort ein Schwall dicker Nebel entgegen. Die Kneipe war verraucht und verqualmt. Ein muffiger Geruch lag in der Luft – ja, es war nahezu stickig. Ich schaute mich ein wenig um, in der Hoffnung irgendjemanden zu finden der mir helfen konnte. Der Raum maß etwa 8 m². Alte und zum Teil äußerst beschädigte Holzlatten bedeckten den Erdboden des Raums. Zwei an der Decke hängende Öllampen erhellten den Raum ein wenig. Zusätzlich wurde die Kneipe von einigen auf den Tischen sitzenden Kerzen beleuchtet. An einem Tisch saßen drei kräftig gebaute Männer, die ein Kartenspiel spielten. Sie schienen mich gar nicht richtig bemerkt zu haben. Dem Bierkonsum entsprechend, lachten, soffen und lärmten sie wild herum.
Dies waren die Trunkenbolde und Söldner, die ich aufsuchen wollte. Hier und da saßen einige Soldaten, die ihr Feierabendbier tranken. Die verschiedensten Typen von Menschen waren hier zu Gegend.

In einer anderen Ecke viel mir eine besondere Gestalt auf. Dort saß ein mit einer sumpfgrünen Haube verschleierter Mann. Dessen Gesicht war völlig vernarbt und zerschnitten. Er inhalierte Rauch aus einem Stück Papier, in dem sich ein mir damals unbekanntes Kraut befand. Sumpfkräuter, die die Menschen als Tabak benutzten. Das Rauchen war nämlich bislang gar nicht auf unserem Kontinent bekannt. Daher fand ich dieses Benehmen auch ziemlich fragwürdig und suspekt. Die Spuren, die auf seinem Gesicht hinterlassen wurden, zeugten von zahlreichen Schnittspuren, scharfkantiger Gegenstände oder Waffen. In einem wichtigen Punkt unterschied er sich von den anderen Gästen der Kneipe, denn er saß völlig allein und ruhig auf seinem Platz. Anders als der Rest der Menschen im Raum, schien er die Ruhe mit sich selbst zu genießen.
Doch ich konnte die Menschen hier nicht einfach so ohne weiteres ansprechen. Lui war derjenige, der seine Gäste am besten kannte und mir beim Aussortieren und der anschließenden Wahl helfen konnte. Daher verschwendete ich nicht viel Zeit und saß mich an den Tresen zu Lui.

Der Wirt Lui, einer der meistgekannten Personen von Goldstadt, befand sich hinter dem Tresen. Er besaß zwei Kneipen in Goldstadt. Er selbst bevorzugte jedoch die Arbeit im ärmlicheren Teil der Stadt. Er hätte andere für sich arbeiten lassen können, tat dies jedoch nicht. Er selbst sagte immer, er wäre genauso wie jeder andere mittelständische Bürger der Stadt auch. Natürlich wussten alle, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Lui war ein besonderer Mensch. Er kam in meine Richtung und sprach mich direkt an.
»Lucas, was machst du hier? Sag bloß irgendwas hat dich dazu veranlasst, das Trinken zu beginnen?«
Dann lächelte er kurz und wusch mit einem alten und dreckigen Lappen über den Tresen.
»Nein, dich führen andere Dinge zu mir.«
Ein ernster und vielsagender Blick zu ihm reichte aus, um erkennen zu können. Doch ich zweifelte stark daran, dass er auch nur im Entferntesten mein Anliegen erwartet hätte.
Mein Vater trank hin und wieder gerne Einen und ab und an war ich sogar mit dabei. Das war auch der Grund warum Lui mich kannte. Doch in diesem Gesichtspunkt, würde ich meinem Vater nicht folgen wollen. »Du hast Recht Lui. Doch ich weiß nicht, ob du mir helfen kannst. Es ist äußerst schwierig, weißt du.«
Lui schien etwas verdutzt und stützte sich mit den Handflächen auf dem Tresen ab.
»So, dann lass mal hören junger …. Ich höre dir gerne zu und werde dir hoffentlich auch einen guten Rat geben können.«
Ich wusste, dass ich mit Lui reden konnte. Er wirkte immer so offen und hilfsbereit in meiner Gegenwart. Vielleicht waren ja auch einige der Burschen, die ich benötigte, in der Kneipe hier Stammkunden, so dass er mir etwas mehr über sie erzählen konnte und ich schlussendlich eine Entscheidung treffen konnte.
»Jetzt, wo ich es mir überlege, schenk mir doch einen Gebrannten ein.«
Mein Entschluss kam völlig aus dem Bauch heraus. Schließlich musste ich Lui die Geschichte erzählen, die mir letzte Nacht passiert war. Der Schenkwirt runzelte etwas die Stirn, tat jedoch wonach ich verlangte.
»Scheint doch eine ernste Angelegenheit zu sein.«
Dann füllte er einen kleinen Porzellanbecher mit einer durchsichtigen Flüssigkeit auf. Sie stank sehr stark nach Alkohol. Doch warum sollte man nicht einfach mal die Lebensgewohnheiten außer Acht lassen? Ich denke ich meiner Situation ist das Abweichen von den eigenen Angewohnheiten und Normen akzeptabel, oder meinst du nicht auch?

»Zum Wohl.«
Meinte ich dann nur, während ich den Becher anhob und den Alkohol mit einem Mal in den Rachen schüttete.
Anschließend verzog ich kurz angewidert das Gesicht.
»Letzte Nacht wurde Nana ermordet.«

Als ich die Augen wieder öffnete, sah mich Lui mit einem ausdruckslosen Gesichtszug an. Es schien fast so, als würde er mir die eben verkündete Nachricht nicht glaube. Der Wirt schüttelte nur den Kopf und schluckte einmal tief. Er schien ziemlich fassungslos und fragte dann nur ruhig und mit großer Vorsicht, die seine Stimmlage begleitete.
»Wie konnte das passieren Lucas?«
Dann viel ich Lui lauter werdend ins Wort und beugte mich etwas zu ihm nach vorne.
»Es war ein blutrünstiger und kranker Kerl Lui!«
Der Wirt kräuselte die Stirn äußerst entsetzt in Falten.
»Er.. Benutzte er eine Waffe?«
Dann klopfte ich auf meinen Waffengurt unter dem Umhang und seufzte ein wenig.
»Ich habe die Klinge verwendet.«
Schließlich lehnte ich mich etwas weiter über den Tresen, und konnte so Lui direkt meine Worte in das Ohr flüstern.

»Er biss sie in den Hals Lui. Es war alles voller Blut.«
Nachdem ich diese abstoßenden Worte ausgesprochen hatte, sah ich wie Angst in Luis Augen erwachte.
Um seine Mimik richtig deuten zu können, zog ich meinen Körper wieder etwas zurück und ließ mich wieder sanft auf dem Hocker nieder. Ich sah die Geburt und den Tod bestimmter Erinnerungen, wusste jedoch nicht welche Erinnerungen das waren. Was war wohl mit ihm geschehen? Mit seiner Linken freien Hand forderte er mich mit einem Heranwinken auf, näher zu kommen. Als ich dies tat, begann er schließlich zu sprechen und dieses Mal mit vorsichtig leiser Stimme, die für alle anderen ungehört bleiben sollte.
»Lucas..«
Er schluchzte etwas und schien wohl nach den passenden Worten zu suchen.
»Was ist mit diesem Kerl passiert?«
Ungläubig traf mein Blick dann Lui. Er hätte sich diese Antwort eigentlich selbst geben können.
Ich schwieg entgegnete nur einen skeptischen und zweifelnden Blick.
»Lucas, ich hab dich etwas gefragt. Bitte gib mir eine Antwort.«
Diese Worte klangen nun mehr wie eine dringliche Aufforderung. Luis blaue Augen sahen mich erwartungsvoll an. Ein Schweigen würde er nicht akzeptieren wollen. Ich schüttelte dann etwas irritiert den Kopf, denn ich wollte wissen, worauf er hinaus wollte.
»Ich hab seinem Treiben ein Ende gesetzt.«

Und man hörte aus dem Klang meiner Stimme die gewisse Unsicherheit, die die Bedeutung meiner Worte drastisch verringerte. Daher hakte er erneut nach.
»Wie Lucas? Sag mir wie.«
Hastiger und intensiver denn zuvor kam es aus Lui heraus. Langsam fühlte ich mich nicht mehr ernst genommen und zweifelte an Luis gutem Willen. Wieso wollte er eine solche Information haben? Reichte es ihm nicht, dass ich sagte, ich hätte ihn umgebracht? Wollte er wirklich die grausame Wahrheit über den Grund seines Ablebens erfahren?
»Ich habe ihn mit dieser Klinge erstochen Lui! Ich habe so lange auf ihn eingestochen, bis er keinen Laut mehr von sich gab. Immer und immer wieder! Hast du gehört? Immer und immer wieder!«
Die ernüchternde Antwort verließ meinen Mund laut und verärgert. Das wilde Treiben in der Kneipe nahm schließlich ein Ende und Luis Blick kreiste einmal durch die eigene Kneipe. Seinem Blick zu urteilen, hatte meine Aussage sämtliche Aufmerksamkeit auf mich gezogen.
»Dann habe ich Nana draußen am Eichenhügel begraben.«
Kam es schließlich wieder ein wenig ruhiger aus mir heraus. Der Schenkwirt nickte dann nur schnell.
»Als du zurückkehrtest - war er fort?«
Mein Blick verengte sich etwas. Die Stille um mich herum war bedrückend und angsterregend. Woher wusste Lui das?
Gab es hier in seiner Kneipe etwa jemanden, der dieser Bande angehörte? Schnell erhob ich mich und schmiss dabei den Hocker rückwärts zu Boden um. Niemand außer mir war dort gewesen, woher wusste er Bescheid?
All die Anwesenden starrten mich mit fragwürdiger Mimik an. Mein Blick raste von einer Person zur anderen und wollte nur einen der Täter erspähen. Ich war mir sicher, dass sich einer von ihnen hier befand.
»Aber Lucas.. So warte doch!«
Rief mir der alte Lui hinterher. Doch ich war fest entschlossen den Raum zu verlassen und wusste nicht, wem ich hier hätte trauen können.
»Es war falsch hier her zu kommen!«
Schlussfolgerte ich nach diesem Geschehnis. Doch die Männer in der Kneipe hatten eine völlig andere Ansicht darüber.
»Sauf einen und setz dich wieder Bursche!«
Ertönte es brummend von einem der Tische, an denen Männer Bier tranken. Nach den Worten des Mannes, kehrte die altgewohnte Kneipenstimmung wieder. Während ich auf dem Weg nach draußen war, passierte etwas völlig Unerwartetes.
Der Vernarbte erhob sich plötzlich und ging langsam in Richtung Ausgangstür und versperrte mir somit den Weg.
»Geht mir aus dem Weg.«
Forderte ich ihn ungeduldig auf. Der Mann verweilte jedoch stillschweigend vor mir.
»Seid Ihr einer von Ihnen? Wart Ihr heute Nacht bei mir?!«
Die Anschuldigung traf ihn mit kräftiger Tonlage und ließ meine Rechte zum Knauf der Klinge gleiten.
Doch er blieb völlig ruhig, inhalierte erneut den Rauch des Glimmstängels und meinte dann nur.
»Du bist dir ja gar nicht bewusst, was du damit heraufbeschworen hast.«
Die Worte des Fremden reichten mir völlig aus, um ihn in Verbindung mit Nanas Mörder zu bringen. Bloß inwiefern, wusste ich nicht. Doch ich musste vorsichtig sein, egal in welcher Beziehung er zum Mörder stand.
Mit einem metallischen Surren zog ich die Klinge aus der Halterung und richtete sie mit einer schnellen Handbewegung gegen den Hals des Mannes.
»Ich habe alles verloren – Mir bedeutet diese Welt hier nichts mehr. Mir bedeuten die Menschen hier nichts mehr und noch weniger interessiert es mich, was für Konsequenzen der Tod dieses Bastardes mit sich zieht. Sagt Ihr mir, was mich daran hindern sollte, Euch zu töten?«
Wieder kehrte eisige Stille ein.
»Du denkst wirklich, dass du alles verloren hättest? Du hast doch nicht den leisesten blassen Schimmer davon, was du da gerade eben sagst. So kurzsichtig und naiv. Wenn du jetzt einfach gehst, wirst du mehr verlieren als dir lieb sein wird.«
Diese Worte sah ich als beleidigende Herausforderung an. Ich hatte bereits alles verloren, was mein Leben lebenswert machte. Meine Familie gab es nicht mehr und der einstige, eiserne Überlebenswille, war kurz davor zu brechen.
Ich wollte die Drohung meines Gegenübers nicht einfach ohne weiteres unbeantwortet lassen. Egal welche Konsequenzen diese Handlung mit sich tragen würde.
Bevor ich zustoßen konnte, machte der Fremde einen eiligen Seitwärtsschritt und wich nach hinten. Meine Klinge steuerte ungebremst ins Leere und bohrte sich in die hölzerne Ausgangstür vor mir. Beide Hände des Fremden schnellten in diesem verwundbaren Moment auf mich zu und stießen mich mit voller Wucht an den Schultern nach hinten.
Der dadurch entstehende Druck war so enorm, dass ich rückwärts, nach hinten, über einen Stuhl zu Boden fiel.
Der Vernarbte handelte schnell, wandte sich um, packte die Klinge an deren Griff und zog sie mit einem Mal aus dem Holz heraus. Zielstrebig wandte er sich um und eilte in meine Richtung. Der dunkelgrüne Umgang an seinem Rücken, tänzelte ihm durch die Luft hinterher. Vor mir verharrte er schließlich stillschweigend und sehr entspannt wirkend.
Eigentlich sah ich bereits in diesem Moment mein eigenes Schicksal als besiegelt an. Er richtete die Klinge auf mich und mit einer äußerst schnellen Handbewegung zwang er die Klinge in die Luft, wo sie sich um die eigene Achse drehte. Er fing die Waffe an der Klingenspitze wieder auf und deutete mit dem Griff der Klinge in meine Richtung.
Mein irritierter Blick lastete äußerst schwerwiegend auf dem Mann. Worauf wollte er hinaus? Wieso gab er mir meine Waffe wieder?
»Wer seid Ihr und was wollt Ihr von mir?«
Der Fremde nahm den Glimmstängel zwischen Daumen und Zeigefinger der Rechten und wendete sich dann wieder in Richtung Ausgang um.
»Wenn du dich beruhigt hast..«
Als er die Rechte wieder zum Mund führte, um erneut einen Zug vom glimmenden Stängel zu nehmen, unterbrach er den Satz für diesen Moment. Tief inhalierte er den Rauch und drückte ihn mit einem weichen Atemstoß wieder aus den Lungen heraus.
»Komm dann vor das Gebäude, dort können wir alles Weitere in Ruhe besprechen. Es bleibt einzig und allein dir überlassen. Ich werde dich nicht zwingen.«
Jetzt öffnete er die Tür und verließ den Raum. Das altgewohnte Treiben der Kneipe nahm wieder seinen Lauf und es schien so, als wäre das Passierte einfach so von der Menge vergessen. Die Klinge immer noch fest in der Hand umklammernd, erhob ich mich wieder und starrte tiefgründig überlegend auf die hölzerne Tür, die nach Draußen führte.
»Du solltest ihm folgen.«
Drang Luis raue Stimme aus dem Hintergrund hervor. Ein kurzer Blick nach hinten verriet mir das Lui es wirklich ernst meinte. Zuversichtlich nickte der Wirt nochmal in Richtung Tür.
Ob ich ihm vertrauen konnte? Mit Sicherheit nicht. Doch was hätte ich schon verlieren können? Also nahm ich am riskantesten Kartenspiel meines Lebens teil.

Denn wenn er ein Begleiter des Mörders vom gestrigen Tage war, würde mein Leben wohl möglich schon bald ein Ende nehmen. Aber was, wenn nicht? Konnte er allein mir wirklich helfen? Ich musste schlussendlich alles auf diese Karte setzten und im nächsten Zug würde sich mir erweisen, ob mein Zug mich zum Sieg führen würde.
Zielstrebig schritt ich voran und öffnete die Tür. Der frische Atem des Tages wehte mir entgegen und brachte den Qualm der grässlichen Gräser des Fremden in meine Atemwege. Ein Blick zur Seite verriet mir, dass das Narbengesicht wirklich auf mich gewartet hatte. Nachdem ich nun Zeit fand sein Erscheinungsbild eindringlich in Augenschein zu nehmen, fiel mir auf, dass er wohl nur einige Jahre älter war als ich es war. Wo konnte sich ein Mann in seinem Alter solche Verletzungen zugezogen haben? Er wirkte sonderbar überlegend auf mich.
Mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, rauchte er genüsslich einen Zug nach dem anderen.
»Hast du dich beruhigt?«
Begann er schließlich mit äußerster Ruhe und einer Spur von Besorgnis.
»Was wollt Ihr von mir?«
Entgegnete ich ihm nur schroff, mit ernstem Gesichtsausdruck.
»An deiner Stelle würde ich diese Gegend jetzt sofort verlassen. Straußberg ist zu nahe und Kronstadt zu weit entfernt.«
Stellte er dann äußerst nüchtern fest.

»Du musst hier verschwinden, ehe er dich finden wird. Denn wenn er dich zwischen seine kalten Finger bekommt, wird er dich töten.«
Er schien wirklich etwas über die vergangene Angelegenheit zu wissen. Doch woher?
»Warum verratet Ihr nun Euren Kameraden?«
Äußerst zweifelnd und die Stirn runzelnd, sah er mich an und schien vom paranoiden Gedankenganz überrascht. Dann stieß er den Glimmstängel zwischen den Fingern der Linken hinfort.
»Du denkst ich sei wie er?«
Der Mann schmunzelte amüsiert.
»Wie er?«
Stillschweigen breitete sich für einige Sekunden aus, ehe er sich von der Mauer stieß und mir schließlich direkt in die Augen sah.

»Du bist nun ein Bestandteil seiner kleinen und grausamen Welt.«
Was auch immer das zu bedeuten hatte, der Fremde war sich ziemlich sicher und wenn er mir damit Angst einjagen wollte, hatte er das mit Erfolg geschafft.
»Ich habe ihn getötet!«
Wieder präsentierte er mir nur das selbstsichere Lächeln.
Die folgenden Worte, die er zum Ausdruck brachte, waren jedoch das genaue Gegenteil. Ernst, überlegt und äußerst direkt.
»Wenn das wahr ist – wo ist sein Körper?«
Schnell trat ich einen großen Schritt auf den Mann zu, packte ihn mit beiden Händen am Kragen und wurde lauter.
»Woher wisst Ihr das?! Gehört Ihr zu diesem Haufen, der Nana umgebracht hat?!«
Nachdem er mir nach einer Weile keine Antwort gab und sein dunkelbraunes Augenpaar mich nur anstarrte, schüttelte ich ihn heftig und forderte ihn abermals mit großer Hartnäckigkeit auf.
»Gebt mir eine Antwort!«
Die Linke des Fremden schnellte zu meiner Rechten hinauf und er drückte mit ungeheuerlicher Kraft zu.
»Ich mag ja vieles sein, aber ein Vampir bin ich nicht.«
Er war wütend, weil ich ihn mit dem Verbrecher in Verbindung ahnte.
Schmerz überkam mich, als er meine Hand quetschte. Er brachte mich so weit, dass ich wieder von ihm abließ.
Dieser Fremde Kerl wies eine unglaubliche Kraft auf und aus irgendeinem für mich unerfindlichen Grund, wusste ich, dass er nicht log.
»Ein Vampir?«
Hakte ich vorsichtig mit berechtigtem Interesse nach, während ich mir über mein gerötetes Handgelenk strich.
»Wesen, die durch das Blut anderer überleben. Parasiten dieser Welt. Sie nehmen das Blut auf, wie du und ich Nahrung und überleben so. Eigentlich stets von Tieren, in manchen Fällen jedoch auch von Menschen.«

Wie oft hast du wohl schon solche Geschichten gehört? Ich bin mir sicher, dass eine jede Generation anders über diese Zeilen empfinden wird. Doch wie ich bald herausfinden würde, was es zu dieser Zeit ein wenig anders. Die wenigsten wussten überhaupt mit dem Begriff Vampir etwas anzufangen. Und wenn doch, wurden sie als blutsaugende Monster präsentiert. Dämonen, schwarze Engel oder einfach nur Untote.
Für mich klang das alles wie eine unschöne Geschichte.
Ich möchte dich nun nicht enttäuschen, doch mehr erfuhr ich nicht über diese Lebensart.
Doch schon bald würde ich mehr an Erfahrung gewinnen und würde das Dasein und die Lebensart dieser Spezies verstehen lernen.
Aber bis ich dir davon erzähle ist noch Zeit.

»Ihr seid verrückt!«
Entgegnete ich ihm dann lauthals. Der alte Stallmeister nebenan schrie meine Worte dann laut nach.
»Verrückt! Verrückt! Ihr seid verrückt.«
Dann geriet mein Blick auf den alten Wirrkopf.
»Das ist nur ein schlechter Witz, nicht wahr?«
Hakte ich tiefgründiger, jedoch ein wenig gefasster und ruhiger geworden nach.
»Ich denke du weißt was er angestellt hat? In solchen Situationen erzählt man keine Witze.«
»Wenn Ihr wirklich die Wahrheit sagt, warum hat sich die Kirche nicht um diesen Verrückten gekümmert?«
»Vielleicht haben sie das ja hin und wieder und versuchen es vielleicht immer noch. Diese Vampire versuchen ungesehen zu bleiben, töten Menschen eigentlich nicht und niemand weiß von ihnen. Wenn man doch mal einen von ihnen sieht und auf frisch Tat ertappt, hat er ein riesiges Problem, wenn es Überlebende geben sollte. Sie versuchen sich im Schatten zu bewegen und wollen keine Aufmerksamkeit. Doch dieser war unvorsichtig und das könnte zweierlei Dinge bedeuten.«
Er pausierte einen Moment. Ich schüttelte mit fragender Mimik den Kopf.

»Er wird vorsichtig sein, denn du hast in der Kneipe bereits von ihm erzählt. Es ist eine Frage der Zeit, bis einer der Soldaten Bischof Mathor Bericht erstatten wird. Dann würde vielleicht auch alles gut ausgehen. Auf der anderen Seite sieht er vielleicht ein, dass er einen Fehler gemacht hat und muss diesen bereinigen. Wenn er dich erledigt, erledigt er gleichzeitig dieses Problem. Er wird mit Zielstrebigkeit, Vorsicht vorgehen. Doch auf die Kirche können wir zunächst nicht bauen. Falls den wirklich Bischof Mathor davon erfährt, könnte es Tage dauern, bis sie eine Genehmigung bekommen, nach dem Vampir zu suchen. Die Kirche hält solche Geheimnisse besser für sich und möchte nicht, dass die Menschheit nachts mit Angst in ihren Häusern verweilen muss. Wie gesagt, es sind Ausnahmen, wie dieser Vampir, die den Menschen Angst machen.«
Ein solches grauenhaftes Geheimnis hielt die Kirche also in ihrer Obhut.

Das erste Mal bauten sich in mir Zweifel über diese Welt, wie ich sie kannte auf. All das, was uns in die Wiege gelegt wird, ist nicht mehr als der Funken der Wahrheit, die uns hier auf diesem Planeten beim Überleben aushelfen soll.
All die Regeln und Gesetze, die Wahrheit, die Lüge, die Realität und die Illusion zu beurteilen, um sich daraus ein komplettes Bild aufzeichnen zu können. Ich sage euch, sie sind so einschränkend.

Ein Fremder Mann, dessen Gesicht mit Narben verziert war, half mir beim Überwinden der Klippen, die meine Sicht so sehr einschränkten. Glaub mir, es ist ein beängstigendes Gefühl. Man fühlt sich klein und unwissend und fragt sich, ob man hier überhaupt richtig ist. Damals wie heute bestimmt auch gab und gibt es immer noch Dinge, die den Menschen vorenthalten werden.
»Das kann doch nicht wahr sein!«
Schrie ich mit verzweifelter Tonlage heraus und schlug mit der geballten gegen die Mauer der Kneipe.
»Das kann nicht wahr sein!«
Wiederholte der alte Stallmeister erneut meine Worte laut und wirkte dabei ziemlich verwirrt. Anschließend war ich einen äußerst zweifelnden Blick auf den Greis.
Mein stummer Blick fixierte den Vernarbten für geraume Zeit, bis er schließlich das Schweigen brach.

»Armer Kerl, mh? Ich habe Lion hier her nach Goldstadt gebracht. Er kommt aus einem Dorf das sich Tilisberg nannte.«
Tilisberg hatte ich noch nie gehört und das dieser alte Stallmeister in direkten Kontakt mit dem Fremden stand, beharrte mir zunächst auch nicht.
»Ich habe noch nie etwas von diesem Tilisberg gehört.«
»Natürlich nicht, dieses Dorf gibt es seit über 15 Jahren nicht mehr.«
Wenn er wirklich die Wahrheit gesprochen hatte - woher wusste er dann über dieses Dorf bescheid?
»Seine Familie, seine Freunde und alle die er kannte, sie wurden alle ausgelöscht.«
»Eine Horde hungriger Vampire erschufen dieses Leid. Der Ärmste musste den Tod seiner eigenen Welt mit ansehen. Schlussendlich verbrannten sie das Dorf und ließen es wie einen großen Raubüberfall aussehen.«
Nach kurzem Schlucken wagte ich es eine Frage zu stellen.
»Warum haben sie das getan? Ich dachte diese Wesen würden sich größten Teils von Tierblut ernähren.«

Der Fremde griff dann in seine Westentasche und zog einen weiteren Glimmstängel hervor, welchen er sich auf die Lippen legte und mit einem Zündholz zum Glühen brachte. Erneut inhalierte er den Rauch tief.
»Wieso so einfaches Denken? Wie auch bei den Menschen, haben sich verschiedene Gruppierungen unter den Vampiren zusammengesetzt. Zusammen fühlen sie sich stark und mächtig und ich möchte auch nicht anzweifeln, dass sie das sind. Es gibt Gruppierungen, die alle paar Monate ein Dorf durchstreifen und den ein oder anderen Menschen mit sich nehmen. Es wirkt dann so als seien sie an der Pest gestorben. Sie sind die Blaublüter der Vampire – der Adel. Für sie ist das Blut von Menschen kostbarer, wertvoller und hochwertiger als das von Tieren. Doch in den Augen der Menschen sind sie einfach Räuber, die Städte plündern und alle dort lebenden töten. Sie sind wie Raubtiere, die ohne Rücksicht ganze Familien auslöschen.«
Schreckliche Worte, die ich da vom Fremden hören musste. Ja, das Vorurteil, dass Vampire Monster sind, bestätigt sich nun auch hier wieder für dich. Wie in all den anderen Geschichten, die du gehört hast. Doch es war die Ausnahme. Auch unter den Menschen gibt es verschiedene Ansichten, Systeme und politische Differenzen. So war es auch in der Welt der Vampire.
Doch es war ein weitaus komplexeres Geflecht von Hierarchien, Politikern und Gruppierungen. Wenn sie wirklich nur die Monster waren, die das Narbengesicht beschrieb, hätte man ihrem Treiben ein schnelles Ende bereitet. Diese Lebensspezies ist äußerst vorsichtig und aufmerksam geworden. Viele unter ihnen haben sich unter Kontrolle, töten Menschen nicht einfach. Wie leise Jäger, pirschen sie sich an, trinken vom Blut. Erinnerungen daran gibt es dann am nächsten Morgen nicht mehr.
Vielleicht bist du eines Morgens aufgestanden und hast dich schwach gefühlt, krank. Ein Schwindelgefühl oder Übelkeit. Nein, keine Versicherung, dass du es mit einem Vampir zu tun hattest, aber es könnte sein.
Vielleicht wachst du aber auch manchmal auf und denkst dir „Es war nur ein Traum?“ Weil du im Unterbewusstsein mitbekommen hast, wie etwas an dir nagte, du unfähig warst zu sprechen oder dich zu bewegen.
Aber ich kann dich beruhigen, denn wie du siehst, lebst du noch.
Doch wie hatte dieser alte Stallmeister es geschafft zu flüchten und war diese geistige Schwäche ein Resultat des Angriffs auf sein Dorf?
»Wie ist er entkommen?«
Hakte ich dann mit großem Interesse nach.
»Einer der Vampire wollte auch ihn haben. Griff ihn an und wollte ihn töten, während er am Boden lag.«
Unglaublich, mit welcher Einfachheit er mir diese Geschichte erzählte und dabei seinen Glimmstängel rauchte.
»Ich war auch vor Ort, konnte den Vampir von Lion zerren und ihn lähmen. Wir sind gerade so aus dem Dorf geflüchtet. Sie jagten uns durch die Wälder.«
»Wie habt Ihr überlebt?«
Man hörte die unstillbare Gier nach einer Antwort aus meinen Worten heraus.
»Glück.«
Meinte er kurz und zog kräftig am Glimmstängel an.
Das Narbengesicht erzählte von einem Massaker, das sich angeblich vor über 10 Jahren zu trug und das er seither mit dem Stallmeister Lion in Goldstadt lebte.
Kurz blinzelte ich einige Male, bevor meine verängstigte Mimik sich wieder verabschiedete.
»Ihr entschuldigt, wenn ich diese Geschichte nicht einfach so naiv Schlucke?«
Schlussendlich wandte ich mich um und wollte in Richtung Stall gehen. Umso tiefer ich mich in das Netz seiner Geschichte verankerte, desto größer wurden meine Zweifel.
Nun ja, du bist wohl auch ziemlich skeptisch, wenn es um die Glaubwürdigkeit meiner Geschichte geht, nicht wahr?
So ist es immer – was man nicht kennt, nimmt man nicht an oder streitet es sogar ab. Schließlich erzählte er mir von Wesen, die Blut trinken würden und mochte mir weismachen, dass es ein und dieselbe Person war, die Nana getötet hatte und in meinem Haus gewütet hatte.
Doch der Fremde sollte es angeblich geschafft haben, einer ganzen Brut dieser Monster entkommen zu sein?

Unerwartet hielt mich eine Hand an meiner rechten Schulter fest.
»Sehnst du dich so sehr nach dem Tod?«
Sein Tonfall ertönte nun kräftiger und eindringlicher auf mich ein. Ich lag jedoch nur meine Linke Handfläche auf die seine und entfernte sie mit Gewalt von meiner Schulter.
Äußerst verärgert ging ich weiter.
»Zweifelslos wird er dich töten und das weißt du auch. Du hast gesehen zu was er fähig ist.«
Sprach der Vernarbte schließlich etwas ruhiger, jedoch äußerst bedacht. Ich stockte etwas und begann zu überlegen. Nanas Hals und dieses Wesen, das sich genüsslich an ihrem Blut labte.
Schließlich noch das Anwesen, völlig zerstört und die Wertgegenstände wurden alle vor Ort im Anwesen zurückgelassen. Zu guter Letzt noch den alten Händler in den Wäldern. Goldringe so wie Wertgegenstände trug er noch bei sich, doch das aus dem Hals fließende Blut.
Langsam schien es so, als käme Licht ins Dunkle und ich konnte die Geschichte des Fremden mit der meinigen in einen zweifelsfreien Zusammenhang miteinander verbinden. Das was sich zunächst so sehr nach einer Geschichte anhörte, machte jetzt auch für mich Sinn.
Ich wusste nun ganz genau womit ich es hier zu tun hatte und ich begann zu glauben.

Für ihn, demjenigen, der für dieses Debakel die Schuld auf sich trug, war Gold nichts wert.

Ich musste diesem Mann vertrauen, denn wenn es wahr war und diese zusammengefügten Puzzelstücken das Bild ergaben, dass ich vor meinen Augen hatte, dann musste ich auf der Hut sein und mich wohl möglich auf einen erbitterten Kampf vorbereiten.
»Kaum verwundbar und beinahe unmöglich zu bezwingen. Sie fürchten das Silber, manche das Feuer. Es ist einzig und allein eine Person. Jemand, dem es wohl jetzt nach deinem Blut dürstet. Die Wunden, die du ihm verabreicht hast, müssen ihn sehr geschwächt haben. Das wird er nicht einfach so ohne Konsequenz über sich ergehen lassen.«
Vielleicht hatte er wirklich Recht, auf so eine Idee war ich noch gar nicht gekommen. Vielleicht verletzte ihn sogar die Silberklinge so stark. Töten konnte ich ihn damit aber wohl nicht.

Der Leichnam von Nanas Mörder war nicht da, weil es nie einen Leichnam gegeben hatte.
»Hätte er dich in deinem Anwesen gefunden, Gott allein weiß, was er mit dir angerichtet hätte.«
Versicherte er mir äußerst nüchtern.

Also unterschätze ich bislang dieses Wesen in allen Punkten. Aber wenn ich es mithilfe des Silbers lähmen konnte, so würde es auch eine Möglichkeit geben, ihn vernichten zu können. Ob allein oder mit der Hilfe dieses Narbengesichts, mein Entschluss stand schon lange fest. Nun wandte ich mich wieder schnell in Richtung Stallung um. Er folgte mir nun auf Schritt und Tritt und fragte mich deutlich.
»Was habt Ihr vor?«
Ziemlich wissbegierig klebte er nun an mir und wieder packte er mich an der Schulter und stellte die Frage erneut.
»Was zum Teufel habt Ihr vor?«
Dieses Mal jedoch in ziemlich ruhigem Tonfall, so dass niemand seine Aufregung mitbekam. Das Narbengesicht hatte sich selbst unter Kontrolle und wusste seinen Tonfall der Situation entsprechend anzupassen. Im Stall angekommen ging ich zielstrebig in Richtung meines Pferdes und gab dem mir folgendem nur eine kurze Antwort.
»Er will Blut? Er soll an seinem eigenen ersticken.«
Sicher waren diese Worte voreilig, übermütig und zeugte einfach nur von meiner sturen Naivität.
Doch die Wut in mir veranlasste mich so zu handeln. Geschwind stieg ich auf Schwarzgold und lenkte ihn mit Hilfe der Zügel aus dem Stall.

Vor mir stand nun das Narbengesicht auf einem prächtigen, hellbraunen Pferd, welches von der Statur her meinem Reittier ziemlich ähnelte.
»Ich werde dich wohl kaum davon abhalten können, ja? Du bist ein Narr und wirst sterben.«
Ich zollte ihm einen flüchtigen Blick und warf ihm dann einen Beutel, gefüllt mit Goldstücken zu.
»Kommt mit und helft mir. Ihr scheint viel über dieses Monster zu wissen. Ich brauche jemanden wie Euch, der mir helfen kann.«
Nachdem er den Beutel gefangen hatte, wiegte er ihn ein wenig in der Linken und sprach erneut zu mir.
»So viel ist dir der Tod dieses Wesens also Wert? Nicht wegen des Goldes werde ich dir helfen. Nein, ich habe noch eine eigene Rechnung mit diesem Vampir offen.«

Ich wollte nicht tiefgründiger nach der Vergangenheit des Fremden graben und akzeptierte lediglich, dass er mir helfen wollte. Er schien dieses Wesen zu kennen und schien auch schon einige Male gegen solche gekämpft zu haben. Meine Entscheidung, in Luis Kneipe nach Hilfe zu suchen, erwies sich schlussendlich doch als richtig.

»Ich bin Marius.«
Der Name dieses merkwürdigen Mannes war also Marius. Wie sehr hoffte ich nur, dass er mir eine Hilfe sein konnte. »Mein Name ist Lucas. Wir müssen zu meinem Anwesen. Es liegt etwas abgelegen von Goldstadt. Wir müssen durch die Wälder.«
»Worauf wartest du dann noch Lucas? Wir haben noch einiges vor, wenn wir die nächste Nacht überleben wollen. Führe mich zu deinem Anwesen!«
Dann spurteten wir die Pferde zum Galopp an und ritten in Windeseile durch die Stadt in Richtung Wald.
Nun hatte ich also einen Begleiter gefunden, der mir beim Kampf gegen diesen Vampir helfen würde.
Anders als ich es mir zunächst vorgestellt hatte, doch ich war mir sicher – er würde mir helfen können.

Ach, mein lieber Lucas. Wie naiv du doch diesem räudigen Hund vertraut hattest. Um eines klarzustellen – ich kannte Marius bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ebenso wenig hatte er mein Antlitz je zu Gesicht bekommen.
Eines sollte man sich immer im Hinterkopf behalten. Freunde sind nicht gleich Freunde, weil sie Zustimmung oder Kooperation vorgaukeln. Das Getier des Menschen auf dieser Welt kann bisweilen ein Lügner werden und das einzig und allein um sich selbst vorteilhafte Resultate aufzubauen. Freunde sollte man sich mit Vorsicht aussuchen.
Marius würde noch für das ein oder andere Problem sorgen. Doch ich wäre nicht ich, wenn ich heute nicht darüber berichten könnte, mh?
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Teana/Juliane/Dariel
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Ruhe vor dem Sturm

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Ruhe vor dem Sturm

Es folgte ein ruhiger Ritt durch das Waldareal hinter Goldstadt. Dank der Pferde kamen wir schnell voran und die Reise würde nur etwas mehr als eine Stunde dauern. Marius vertrieb die eingekehrte Stille erneut und definierte das Sein der Vampire.
»Jeder von ihnen hat individuelle Stärken, aber auch Schwächen. Bei ihm scheinen die körperlichen Kräfte weitaus mehr entwickelt zu sein. Lass dich nie von ihrer optischen Gestalt täuschen, auch der kleinste von ihnen kann große Kräfte entfalten. Andere nisten sich in deine Gedanken ein, manipulieren sie möglicher Weise auch.«
»Wegen dem Blut?«
Hakte ich eifrig nach. Marius nickte heftig.
»Es mag sich ein wenig pervers anhören, doch die Menge und das Alter des Blutes, welches durch ihre Adern fließt, scheint wohl den Grad der Entwicklung ihrer eigenen Kräfte zu bestimmen.«
Also war das Blut die Quelle der Macht. Dieser Vampir hatte Hunger und Nana war seine Nahrung.
Diese Vorstellung war falsch, krank und schlicht nicht und nicht zu akzeptieren.
»Wenn wir Glück haben, werden wir diesen Vampir nur bei Nacht antreffen. Vielleicht liegt es daran, dass sie nachts besser sehen können oder ihre Opfer im Dunklen überraschen können. Vielleicht scheuen sie aber auch nur den Tag.«
»Ihr habt in Eurem bisherigen Leben viel mit diesen Kreaturen zu tun gehabt, nicht wahr?«
Schließlich warf er mir einen mehr als tausend Worte erklärenden Blick zu und als ich sein mit Narben geprägtes Gesicht musterte, wusste ich bereits, dass ich mir diese Frage selbst hätte beantworten können.
»Ein Kampf könnte äußerst schwierig werden.«
»Wie tötet man so ein Wesen?«
Er gab mir schnell eine ernüchternde Antwort.
»Wie man sie tötet? Anders als einen Menschen.«
Seine Worte ließen mir einen kalten Schauder über den Rücken laufen und ich sorgte mich nun mehr als zuvor über die Tatsache, dass dieses Wesen wiederkehren würde.
Einige Zeit ritten wir noch durch die Wälder und das Moor und schwiegen uns gegenseitig an. Plötzlich wurde die Sonne über uns von einer dicken Wolkendecke verdeckt und langsam prasselten Regentropfen auf den Boden nieder. Der Waldboden wurde matschig und nass, so dass wir etwas später als erwartet bei meinem Anwesen ankamen, da die Pferde den feuchten Erdboden nicht so schnell durchqueren konnten.
Als wir jedoch schließlich ankamen überschlugen sich die Ereignisse. Marius stieg geschwind von seinem Reittier ab und versicherte mir.


»Die Pferde können wir in der Stallung lassen, diesem Wesen dürstet es nach deinem Blut und nicht nach dem der Tiere.«
Ich befolgte die Anweisungen von Marius und schloss beide Pferde in den Stall ein.
»Die Sonne geht langsam hinter der Wolkendecke unter.«
Merkte ich dann etwas besorgt an und Marius griff mit seiner Rechten nach meine Schulter und fragte.
»Wenn die Sonne fort ist bleibt nicht mehr viel Zeit. Hast du hier irgendwelche Waffen?«
Im ersten Moment kamen mir Zweifel, bis ich an Vater zurückdenken musste.
Schnell führte ich ihn in das Haus. Unter der Treppe, die in das Obergeschoss des Anwesens führte, war ein abgeschlossener Raum, für den einzig und allein ich den Schlüssel hatte. Dort hatte Vater im Laufe der Zeit eine Art Sammlung von besonderen Raritäten erschaffen. Vater sammelte Waffen aus den Städten die er besucht hatte. Von jeder Reise brachte er ein Exemplar mit nach Hause.
Als ich die Tür zur Kammer öffnete und Marius bat einzutreten, staunte dieser nicht schlecht über die Ansammlung von Waffen, die mein Vater hier über die vergangenen Jahre angesammelt hatte. Sämtliche Sammlungsstücke hatte Vater aus den verschiedenen Ländern mitgebracht, die er während seiner Reisen besucht hatte.
Schwerter aus dem valdarischen Gebirge. Armbrüste aus dem untergegangenen Vesper. Und Krummsäbel aus dem Wüstenreich Nalveroth.
Alle waren sie in gläsernen Vitrinen verstaut oder an der hölzernen Wand des Raums aufgehängt. Zentral positioniert war das Wappen meiner Familie befestigt.
»Das sind Prachtstücke, eigentlich zu schade um einen dieser gottlosen Vampire damit niederzuschlagen.«
Behauptete er mit einem Klang von Spott, während seine Augen sich gar nicht satt sehen konnten.

Dolche und Schwerter aus Gold, Silber und Kupfer hingen an den Wänden und waren eher als Zierde gedacht und waren im Grunde genommen nie für den Kampf bestimmt.

Eine vesperianische Armbrust schien Marius sehr gut zu gefallen. Sie bestand völlig aus Holz und war an den Flügeln mit einem Rand aus dünnem Gold verziert.
»Diese Waffe wollt Ihr benutzen? Ich bin mir nicht sicher ob sie funktioniert.«
Die Waffen waren bereits seit einigen Jahren hier im Raum verschlossen und einige waren wirklich nicht für den Kampf gedacht. Doch Marius schien sich hier besonders gut auszukennen. Zumindest gab er das vor.
»Vertrau mir Lucas.«
Versuchte er mir in einem beruhigendem Tonfall mitzuteilen, während er mit seinen rauen Fingern über das Holz der Armbrust strich und diese prüfend inspizierte.
»Habt Ihr irgendwelche Bolzen für die Armbrust hier?«

Hakte er fragend nach. Dann führte ich ihn zu einer Truhe, die ebenfalls mit Gold verziert war.
Als ich diese öffnete und Marius den Inhalt präsentierte, lächelte er nur ein wenig zufrieden.
»Bolzen aus Silber, das könnte sich als äußerst nützlich erweisen.«
»Sie sind nur mit Silbereisen überzogen, sie bestehen aus Edelstahl.«
Verbesserte ich ihn dann. Marius verzog jedoch keine Mine und meinte zuversichtlich.
»Der Überzug aus Silber sollte mehr als ausreichend sein. Der Stahl sorgt für Stabilität. Ein Bolzen aus reinem Silber wäre nutzlos, da er brechen würde. Woher hast du all diese Waffen Lucas? Du verzeihst meine Unhöflichkeit, aber du scheinst dich ja nicht besonders gut mit diesen Prachtstücken auszukennen.«
Nach kurzem Zögern antwortete ich ihm.
»Sie gehören nicht mir, sie sind eine Sammlung meines Vaters.«
Dann umschloss er einige der Bolzen mit seiner Rechten und legte sie in eine kleine Umhängetasche, die er an der Hüfte trug. Sie erinnerte an einen Köcher für Pfeile, mit dem einzigen Unterschied, dass diese Art von Köcher etwas kleiner war und für Bolzen bestimmt war.
»Das sieht mir stark nach der Ansammlung eines kirchlichen Streiters aus. Als wären sie extra dafür geschaffen worden, Vampire den Tod zu bescheren.«

Urteilte er dem Zustand der Waffenkammer zu Folge. »Vater ein als Jäger dieser Kreaturen?«
Marius nickte nur eifrig. Nein, das konnte nicht sein, Vater war ein Händler der auf Reisen ging und die verschiedenen Städte besuchte, um dort seine Waren zu verkaufen.
»Nein, das ist unmöglich. Vater war ein hochangesehener Händler und kein Jäger.«
Marius Worte klangen für mich wie eine Beleidigung.
»Er handelte wohl mit Vampirleben, mh?«
Kam es nüchtern aus ihm heraus.
»Schweigt jetzt!«
»Lucas es gibt viele Grafschaften in denen sich Vampire herumtreiben. Nicht viele Wissen davon und die Grafen als auch die Kirche versuchen dieses ruhelose Treiben so gut wie möglich geheim zu halten. Die Kirche und die Grafen bezahlen einiges an Gold und sind da ziemlich großzügig.«
Die Worte von Marius klangen so einleuchtend und doch wollte ich ihnen keinen Glauben schenken.
Vater kam stets ziemlich geschwächt von seinen Reisen zurück, hatte jedoch sehr viel Gold bei sich.
Aber das war natürlich auch verständlich, nach so langen Reisen. Meine Zweifel wollten nicht einfach so von mir weichen. Nein, Vater war kein Jäger von irgendwelchen Vampiren gewesen, dessen war ich mir sicher. Während Marius einen Bolzen nach dem anderen im Köcher verstaute, sah ich mich etwas im Raum um und war nun sogar etwas froh darüber das mein Vater diese Sammlung hier errichtet hatte.
Gezielt ging ich auf ein Podest zu, dass in der Mitte des Raumes lag und begutachtete eine Waffe, die sich hinter einer Vitrine aus Glas befand. Die Klinge wurde aus einem Stahl-, Silbergemisch angefertigt. Der Knauf war ebenfalls aus Stahl angefertigt und wurde mit einer roten Bandage umwickelt.

Diese Waffe war der Favorit meines Vaters. Eigentlich nahm er sie immer mit auf seine Reisen. Bei der letzten Reise ließ er sie jedoch hier im Anwesen zurück.
Ich öffnete vorsichtig die Glasvitrine und nahm den Dolch meines Vaters heraus. Er befand sich in einer ledernen Scheide. Langsam und vorsichtig zugleich zog ich die Klinge aus der Scheide und begutachtete die Waffe mit großem Erstaunen.
Eine etwa 20 Zentimeter lange Klinge, die eher an ein Kurzschwert erinnerte. Die Halterung der Waffe war ungewöhnlich schmal und das selbst für einen Dolch. Von der Spitze, bis zum Griff der Klinge wurde eine dünne Goldverzierung angebracht, die sich von der Spitze der Schneide bis nach unten schlängelte. Ich verankerte die Waffe an meinem Gurt und wandte mich anschließend in Marius' Richtung um und richtete ihm aus, wie ich mich nun entschlossen hatte.
»Ich werde Euch helfen diese Bestie zu vernichten. Er hat mir die einzige Person genommen, die mich liebte. Dieser Bastard wird für all das büßen.«
Während er auf dem Boden kniete und die Armbrust vorbereitete, warf er mir einen ernsten Blick zu.
»Lass dich nicht von deinem Hass übermannen Lucas. Du kannst Rache ausüben, aber lass dich nicht von blinder Wut zerfressen. Wir wollen nichts riskieren. Hass trübt die Sinne. Überlege jeden Schritt den du machst. Ein falscher Schritt ins Leere könnte unser beider Ende bedeuten. Halte dir das vor Augen.«
Ich nickte dann nur verständnisvoll, denn Marius hatte wahrscheinlich Recht, obwohl ich meine Wut nicht wirklich bändigen konnte, versuchte ich ruhig zu wirken. Marius wirkte auf mich weise, alt und vorsichtig. Dabei war er wohl nur einige wenige Jahre älter als ich. Mein ganzes Leben war ich in diesem Anwesen, wurde fürsorglich umsorgt und hatte keine Probleme. Ich hatte keinerlei Erfahrungen. Woher sollte ich solche Lebensweisheiten gesammelt haben?
Als die Vorbereitungen in der Kammer vollendet waren, kam Marius erneut auf mich zu sprechen.
»Wir müssen alle Fenster und möglichen Eingänge des Hauses verbarrikadieren, damit er es schwer hat, hier reinzukommen. Viel Zeit bleibt uns nicht. Rücken wir so viele Möbel wie möglich vor die Fenster und Türen. Alles was Gewicht hat, könnte uns behilflich sein.«

Die Verwunderung in mir wuchs stets weiter. Langsam stellte ich mir ernsthaft die Frage, mit was für einem Monster ich es hier zu tun hatte. Natürlich zweifelte ich nicht an Marius Worten, denn ich hatte gesehen was dieses Wesen in meiner Abwesenheit mit dem Anwesen angerichtet hatte. Doch nutzte es Marius oder mir etwas, wenn die Angst in mir aufstieg?

Wir teilten uns auf, verschlossen und verbarrikadierten Fenster, Türen und Kamine des Hauses. Mit einigen Brettern aus dem Hof nagelte ich Schwachstellen von Türen und Fenstern zu. Auch der Dachspeicher, das einstige Arbeitszimmer meines Vaters war zugänglich und musste versperrt werden. Als ich davorstand und hinauf zur Luke sah, kamen mir viele Erinnerungen an vergangen Tage in den Sinn. Wie sehr ich die Zeit mit meinem Vater doch vermisste und wie lange ich brauchte, um das Verschwinden meines Vaters und seinen Tod zu akzeptieren.
»Was ist mit dir Lucas? Steh nicht einfach so da! Hilf mir gefälligst, wenn du diese Nacht überleben willst!«
Dann schüttelte ich etwas mit dem Kopf, um meinen Erinnerungen entgehen zu können und half Marius eine Säule aus schwarzem Marmor unter die Luke zu schieben, die in das Zimmer meines Vaters führte. Schwer, massiv und selten. So diente die Säule als Stütze für die Luke und schlussfolgernd konnte niemand vom Dachgeschoss aus in das Haus kommen.
Für mich und Marius gab es nun keine sichtbare Chance mehr, auf irgendeine Art und Weise in das Haus einzudringen zu können. Nun stand uns der schwierigste Teil bevor. Wir mussten warten.
»All diese Dinge werden ihn nicht davon abhalten, in dieses Anwesen zu kommen. Doch wir werden ihn sehen und er wird uns nicht aus dem Schatten auflauern können. Das verschafft uns einen Vorteil.«
Versicherte er mir, während sein prüfender Blick nochmal durch die Eingangshalle wanderte und er die Barrikaden alle einzeln überprüfte.

»Ihr habt von enormen Kräften gesprochen. Aber das wir gegen ein Monster mit kolossalen Kräften kämpfen müssen, das habt Ihr mir verschwiegen Marius.«
Kam es ziemlich unsicher aus mir heraus.
»Kein Mensch und kein Monster. Ein Dämon, der dich heute noch besuchen wird. Ich verfolge ihn bereits seit Wochen und war kurz davor seine Spur zu verlieren. Mit dem Massaker, das er hier angerichtet hat und dem Fehler, dass er dich am Leben gelassen hat, wurde er wieder sichtbar.«
Offenkundig präsentierte sich Marius als Jäger, als Vampirjäger.

Tatsächlich hatte ich diesen Hund schon lange vorher bemerkt und versuchte immer wieder ihn abzuschütteln. Wohl vergeblich. Nun ja – das zeigte mir, dass man anders mit Verfolgern umzugehen hatte. Lass dir eines gesagt sein. Wenn dich jemand unnachgiebig und rastlos verfolgt, hat diese Person nichts Gutes im Sinn. All sein Handeln beruht allein auf deiner bloßen Existenz und diese ist es, die ihn antreibt. Für mich war der Kampf gegen Marius immer schon unausweichlich gewesen. Er war die Bestie, die mir die Stirn bieten würde und ja, ich hatte ihn unterschätzt. Nur so konnte er mich bis zu Lucas zurückverfolgen.
Ich war auf dem Weg und würde bald zu ihnen stoßen, um sie mit Freude in meiner Welt empfangen zu können.
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Teana/Juliane/Dariel
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Abschied von der Gegenwart

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Abschied von der Gegenwart

Wir lauerten im Fackelschein der Eingangshalle im Obergeschoss. Vor uns ging die Treppe nach unten und führte direkt zur empfangsfreudigen, großen Eingangshalle. Marius und ich lagen angelehnt an der Mauer und warteten die Stunden ab. Es verging eine sehr lange Zeit, in der wir uns lediglich einander anschwiegen und auf das wohl Unausweichliche warteten. Nach einer Weile wurde die immer mehr lärmende Stille beängstigend. Es passierte einfach nichts und langsam zweifelte ich, dass diese Bestie hier nochmal auftauchen würde. Es war nun bereits nach Mitternacht und draußen baute sich ein Unwetter über uns auf. Immer wieder hörte man das alte Holz im Obergeschoss arbeiten. Das signalisierte sich durch ein gelegentliches, hörbares Knacken. Immer wieder schreckte ich kurz auf und sah auffordernd zu Marius. Dieser schüttelte aber immer nur den Kopf und gab Entwarnung.
Man hörte das leise Pfeifen des Windes von Außerhalb und plötzlich ertönte lautes Donnergrollen, welches mich völlig aus der Ruhe riss.
»Sei nicht so verängstigt Lucas. Das ist nur ein Sturm, das Donnern und Blitzen des Himmels.«
Marius war immer noch hellwach und sein Blick fixierte immer wieder die einzelnen Türen des Anwesens. Nach weiterer Zeit des Wartens schien ich den Einklang mit der Umgebung um mich herum gefunden zu haben und nickte ungewollt ein. Doch Marius war solch lange Nächte wohl gewohnt. Bevor ich einschlief, bemerkte ich wie in seiner Rechten die Armbrust verstaut war. Er war kampfbereit und das immer und zu jeder Zeit. Ich schlief wohl einige Stunden.

Plötzlich spürte ich wie mich etwas in die Hüfte drückte. Mit einem kräftigen Schubser in die Seite weckte mich Marius aus meinem Schlaf.
Als ich verstört meine verschlafenen Augen aufriss, wusste ich erst gar nicht wie mir geschah. Ich wollte schon anfangen zu reden und mich bei Marius darüber beschweren, dass er mich aufgeweckt hatte. Doch als ich das Wort ergreifen wollte, presste mir Marius vorsorglich seine rechte Handfläche fest auf den Mund, deutete mit der freien Hand stillschweigend nach oben. Fragend folgte ich dem Deut nach oben und wusste nicht, worauf er hinauswollte. Bis ich schließlich merkte, dass es während meines Schlafes kälter geworden war. Keiner der Kamine brannte mehr und mein Atem trat als Dampf zwischen Marius‘ Fingern hervor.
Dann waren da plötzlich diese leisen, jedoch deutlich vernehmbaren Schritte auf dem Dach, die mit einem Mal schneller und lauter wurden und es erhob sich ein krachendes Lärmen auf dem Schindeln des Hauses. Nein, das war definitiv kein arbeitendes Holz. Für einen kurzen Moment verschlug es mir den Atem und ich rückte etwas zur Mauer heran. Während ich mich gegen den festen Stein stützte und mein Blick hektisch durch den Raum herumschnellte, erhob ich mich. Laut hörte ich mein eigenes Herz schlagen und undefinierbare Angst belagerte mich zunehmend. Hatten wir es hier wirklich mit etwas übermenschlichem zu tun? Danach hörte ich wie etwas an die verbarrikadierten Fenster hämmerte. Kein normales Hämmern. Es war so kraftvoll, dass ich sah wie die Holzbretter, die den Zugang durch Fenster und Türen versperrten, gegen die Attacken ankämpfen mussten und nur schwer widerstehen konnten. Ja – jemand versuchte in das Innere des Anwesens einzudringen.
Schnell und abwechselnd an verschiedenen Fenstern im Haus, zwischen denen einige Meter Entfernung lagen. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich mir nicht erklären, was hier um mich herum geschah. Waren es doch mehrere dieser Bestien?
»Er ist schnell, lass dich nicht von seiner Geschwindigkeit täuschen, mein Freund, er will dir Angst machen, rennt und klopft an. Er weiß bereits, wo wir uns befinden. Er hat uns gewittert.«
Versuchte Marius mir leise und äußerst ruhig mitzuteilen, während sein Blick aufmerksam auf das Eingangstor gerichtet war und er bis zum Rand der letzten Treppenstufe ging. Marius richtete die geladene Armbrust auf das Eingangstor. Jetzt war für einen Moment Stille eingekehrt. Weder Schritte noch das Einschlagen auf die Fenster waren noch zu hören.
Unerwartet und urplötzlich sprang das Eingangstor auf. Die linke Tür wurde durch den heftigen Schlag aus den Angeln gerissen und flog in die Richtung nach oben führender Treppe. Ein heftiger, von draußen kommender Wind fegte die Treppen zu uns hinauf. Schnell ergriff ich den Knauf meines Dolches. Erneut ein lauter und düsterer Donnerschlag und ein mit ihm einhergehender Blitz, der ganz in der Nähe einschlug. Das Gebiet vor dem Anwesen wurde für einen kurzen Moment erhellt. Das Licht drang bis zum Haus heran und präsentierte uns somit die schemenhaften Umrisse einer Gestalt. Langsam kam die durchnässte Gestalt dann über die Türschwelle hinein und das äußerst gemächlich.


Blond, mit nach hinten gekämmtem Haar und die nun mehr hellgrauen Augen, die mich anstarrten, als wollten sie mich vor Ort verschlingen. Nicht sehr viel größer als ich selbst. Ich verlor mich selbst im Blick dieses Mannes und war unfähig mich zu bewegen. Er ging einige langsame Schritte in die Halle hinein und während er das tat, hob Marius die Armbrust an.
»Silbereisenüberzug und simpler, dünner Stahl. Nicht sehr langlebig, aber kunstvoll.«
Kam es aus dem Mund des Neuankömmlings hervor.
»Bemerkenswert geradlinig.«
Er schenkte Marius ein finsteres Lächeln.
Der Bolzen raste mit einer luftzerreisenden Geschwindigkeit auf den Vampir zu. Marius zog schnell einen weiteren Bolzen aus der Tasche und spannte diesen auf die Armbrust. Der Vampir hatte den Bolzen mit der Linken kurz vor sich aufgefangen. Tatsächlich hörte man ein leises Knistern, das von der Hand des Vampirs ausging. Das Silber schien einen Effekt zeigen zu wollen. Der Neuankömmling verzog jedoch keine Mine.
»Aber, aber. Seid ihr beide so sehr von Angst gequält, dass ihr euch hier vor mir verbarrikadieren müsst? Gestern warst du noch ziemlich mutig, mein Freund - Lucas. Ich hätte gedacht du würdest mich heute ein wenig herzlicher empfangen. Sozusagen eine Wiedergutmachung. Wie man sich doch in einem Menschen täuschen kann. Jetzt attackieren sie mich mit Zahnstochern aus Silber.«
Immer noch verweilten die Gesichtszüge in äußerster Ernsthaftigkeit. Er festigte den Griff um den Bolzen ein wenig und zerbrach ihn mit der bloßen Hand. Schlussendlich ließ er ihn auf den Boden fallen.
»Silber kann sie töten.«
Er betonte die Worte sarkastisch und wollte wie Marius vor einige Stunden zuvor klingen, und wedelte mahnend mit dem Zeigefinger in der Luft.

»Ich frage mich wie euer nächster Zug aussehen wird? Aber lasst euch dieses Mal etwas Besseres einfallen.«
Forderte er uns wie in einem Spiel auf, und dieses Spiel schien ihm sogar gefallen zu wollen. Wieder schnellte ein Bolzen auf den Vampir zu und gleichzeitig zog Marius eine Art Wurfmesser aus dem Gurt, welcher um seine Brust gebunden war. Eine schlanke Klinge, ebenfalls mit einer silbernen Legierung überzogen. Jedoch hatte die fliegende Klinge nicht einmal die Hälfte der Geschwindigkeit des Bolzens. Erneut fing der Vampir den Bolzen. Doch zu meinem eigenen Erstaunen konnte er das Wurfmesser nicht mehr rechtzeitig fangen.
Nein, er unterschätzte Marius Zug und nur wegen diesem schlampigen Fehler biss sich das Wurfmesser tief in seine Brust hinein. Der Vampir ließ den Bolzen fallen und blickte nachdenklich und entsetzt auf das zischende Wurfmesser in seinem Fleisch. Er hatte das Unerwartete einfach nicht erwartet. Er hatte nicht mit diesem Objekt gerechnet. Während Marius erneut einen Bolzen auf die Armbrust spannte, stand ich da und konnte dem Ereignis nur tatenlos beiwohnen. So erstaunt, fasziniert und entsetzt zugleich war ich. Ohne die kleinste Regung von Schmerz zu zeigen, zog der Vampir das Stück Metall aus seiner Brust und sah dann äußerst verärgert und wütend zu uns hinauf. Er hielt die Klinge am Knauf, welche wohl nicht aus Silber angefertigt wurde, da man das Zischen nicht vernehmen konnte. Die erste Regung in seinem Gesicht, die ich mitbekommen durfte. Er ging einige Schritte nach vorne und setzte schnell zum Sprint an. Er schien seinen Körper in kürzester Zeit auf höchstes Niveau beschleunigen zu können.
Erschreckend sprintete er die Treppen hinauf und hatte nach etwa zwei Herzschlägen bereits über die Hälfte der nach oben führenden Treppe hinter sich gelassen. Von dieser Position aus warf er das aus dem Fleisch gezogene Wurfmesser auf Marius. Dieser versuchte die Schulter schnell zur Seite zu bewegen, um den Angriff des Vampirs zu entgehen. Sein Handeln war jedoch ohne Erfolg. Das Stück Metall streifte Marius Bauch, durchtrennte das lederne Wams und riss eine Wunde in Marius' Fleisch.
Blut strömte aus der klaffenden Wunde und Marius presste die Linke fest auf die Stelle wo das Blut austrat. Dann stand der Vampir plötzlich nach wenigen, weiteren Herzschlägen vor mir und hauchte mir seinen ungewöhnlichen, kalten Atem ins Gesicht. Das gehörte wohl zu diesen physischen Fähigkeiten die Marius vor kürzester Zeit erläutert hatte. Doch eine Geschwindigkeit in einem solchen Ausmaß hätte ich nie und nimmer erwartet. Er packte mich beim Kinn und flüsterte mir etwas ins Ohr.
»Du hasst den Tod, nicht wahr? Zu oft saß er schon bei dir zu Tisch und speiste gegen deinen Willen in deinem eigenen vier Wänden. Zu oft wurden dir die genommen, die du liebtest.«
Seine Stimme klang beinahe so, als hätte er wirklich Mitleid mit mir gehabt. Und dann hörte ich wie Marius die Armbrust erneut abfeuerte und der silberne Bolzen schoss mit einer gewaltigen Kraft durch den Rücken des Vampirs. Die Spitze des Bolzens schoss aus der Brust hervor. Dem Vampir verschlang es für kurze Zeit den Atem und er rang tief nach Luft. Währenddessen nutzte der verletzte Marius die Möglichkeit und wies mir mit lauter und kräftiger Stimme zu, was nun zu tun war.

»Vernichte ihn Lucas!«
Er hatte Recht, wie sehr wurde mir erst jetzt klar. Ohne länger darüber nachzudenken, holte ich schnell aus und stach mit enormem Kraftaufwand den Dolch durch die Brust des Monsters. Der Vampir stöhnte daraufhin nur ein wenig auf und schenkte mir ein mattes Lächeln. Ich erwiderte den höhnischen Blick mit einem wütenden und wollte nur noch seinen Tod. Darum zog ich die Klinge wieder aus seinem Körper hinaus und genau dieser Fehler würde mich auf einen neuen Weg drängen. Obwohl seiner Wunde, schoss Marius einen weiteren Bolzen durch die linke Schulter des Unwesens, welches jedoch einzig und allein auf mich fixiert war.
»Warum wirkt es nicht?!«
Brüllte ich laut in den Raum und wandte meinen Blick hilfeflehend zu Marius. Der Vampir schlug mich mit gewaltiger Kraft zurück und ich flog mit einem heftigen Rückstoß gegen die Wand. Für einen langen Moment wurde mir der Atem geraubt und ich sank kraftlos zu Boden.
Nun lag ich auf dem Rücken und blickte in Richtung des Vampirs. Dieser wusste genau, dass mich meine Kräfte verlassen hatten, und nahm es nun mit Marius auf.
»Um dich kümmere ich mich im Nachhinein mein Freund.«
Versicherte er mir wie ein Versprechen, während sein Blick anschließend auf Marius landete.
Schnell sprintete er auf Marius zu. Er wollte ihn mit der Rechten am Hals packen.
Marius wich mit einem präzisen Schritt zurück. Der Vampir zog eine breite Klinge aus dem Waffengurt an der Hüfte und schlug sowohl kräftig als auch schnell auf Marius ein. Dieser parierte den Schlag mit der Armbrust, die er nun in beiden Händen trug und sein Gewicht gegen sie drückte, um den Vampir von sich zu stoßen, was ihm auch gelang. Die Armbrust hatte dadurch erheblichen Schaden genommen. Einen weiteren, derartigen Schlag hätte sie wohl nicht ausgehalten.
Die Anstrengungen hatten sich deutlich in Marius' Gesicht gezeichnet. Schweißperlen bildeten sich auf seinem vernarbten Gesicht. Erneut schlug der Vampir auf die Armbrust ein, die mehr als erwartet aushielt. Als Marius mit aller Kraft den Gegner von sich stoßen konnte, schnellte die Armbrust mit voller Kraft in das Gesicht des Vampirs und dieser taumelte für einen Moment benommen umher. Marius zog seine Klinge, ließ die Armbrust auf den Boden fallen und stürmte auf den Vampir los. Dann riss dieser gerade noch so dem Schwert nach oben als Marius seinen Angriff startete. Immer wieder schnellten die Klingen mit höchsten Geschwindigkeiten aufeinander.

Die beiden schienen trotz ihrer Verletzungen einen erbitterten Kampf führen zu wollen. Keiner der beiden wollte sich wirklich geschlagen geben. Langsam, aber sicher wurde mir bewusst, dass Marius die Lage nicht mehr unter Kontrolle hatte, in der wir beide uns befanden. Daher erhob ich mich schnell, nahm den Dolch, das Familienerbstück vom Boden auf und näherte mich langsam dem Vampir. Er war so sehr auf den Kampf mit Marius fixiert, dass er meine langsamen und angestrengten Schritte gar nicht mitbekam. Als ich auf ihn einstechen wollte wirbelte er einmal um und schlug mir mit seinem Schwert den Dolch aus der Hand. Anschließend schlug er mit ausgebetteter Handfläche auf meine Brust ein. Ich spürte und hörte sogar wie einige Rippen in meiner Brust durch den gewalttätigen Aufprall brachen. Schmerz wie ich ihn am Körper noch nie zuvor so intensiv gespürt hatte. Unaufhaltsam und mit großem Schwung flog ich auf das Geländer zu, welches durch den Aufprall zerbrach, so dass ich fast ungebremst in die Etage des Erdgeschosses fallen konnte. Sämtliche Knochen schmerzten höllisch.
Oben sah ich die beiden immer noch Kämpfen. Lange war ich nicht mehr dazu in der Lage, den Kampf der beiden zu verfolgen. Meine Augenlider wurden zunehmend schwerer und ich spürte förmlich wie die Stärke meiner Augen mich verließ. Sie wurden müder, wollten sich zu Ruhe betten. Ich kämpfte dagegen an. Schließlich erreichte Marius einen kleinen Erfolg und landete einen seitlichen Treffer am Bauch des Vampirs und schadete somit Kleidung und Fleisch seines Gegners. Mit Entsetzten musste der Vampirjäger feststellen, dass das Silber keinerlei Auswirkungen auf den Verbleib der Wunde des Vampirs hatte. Die Wunde verschloss sich auf wundersame Art und Weise genauso schnell wieder, wie sie ihm zugefügt wurde. So etwas hatte ich noch nie gesehen.
»Silber? Wer denkst du wer ich bin mein kleiner Freund?«
Dann fing der Vampir beherzt an zu Lachen und setzte den Kampf fort. Nun wirkte es wirklich so als würde der Vampir mit Marius spielen. Amüsiert lachte er immer wieder auf, während das Schwertgerangel weiterging. Daraufhin begann er wie ein Hund zu bellen und lachte über seinen eigenen Spott, den er Marius entgegenbrachte.
»Du elende Ratte!«
Entkam der Fluch aus Marius' Mund. Schließlich packte der Vampir Marius urplötzlich am Hals und hob ihn wie ein Federgewicht in die Luft.
»Deine Gattung wird immer naiver. Nun beobachtest du mich schon so lange – dachtest ich würde es nicht bemerken. Denkst du, dass du mich studieren könntest, wie man eine Tierart studieren kann? Unsere Entwicklung nimmt kein Ende du Narr! Wir entwickeln uns immer weiter. Schwächen werden ausgemerzt und somit nehmen wir langsam, aber sicher die Gestalt von Göttern an. Grenzen sind nur Illusionen, denen ich zu entkommen gewillt bin.«
Gab der stolze Mann mit einem herrschenden Ton von sich. Marius versuchte die ihn greifende Hand zu packen und sie zu quetschen, was ihm auch gelang. Der Vampir war kurz davor den Griff zu lockern, als er plötzlich das eigene Schwert des Vampirjägers umfasste. Die Haut verbrannte, ich war mir absolut sicher. Und doch benutzte der Vampir es gegen Marius und lenkte es mit Kraft in seine Richtung. Blut des Vampirs tröpfelte in Unmengen auf den Boden. Am Ende aber gelang es ihm und er wendete die Klinge gegen seinen Meister – gegen Marius und drückte sie ihm langsam und mit mehreren ruckartigen Hieben durch den Bauch. Dann presste der Vampir Marius am Hals gegen die Mauer vor sich. Kurzzeitig zog er die Klinge aus dem Fleisch des Vampirjägers und sah sich das Metall für einen Moment an.
»Ich weiß das du dir nichts sehnlicher als den Tod wünschst.«
Schweiß rannte Marius' Stirn hinab und er schien von sämtlichen Kräften verlassen zu sein. Erneut stach der Vampir die Klinge durch die Wunde und stach sie dieses Mal sogar durch den Körper in die Mauer hinein.
Erst kniff Marius die Augen fest zusammen, bevor er nach einem kurzen Moment einen lauten und gequälten Schrei von sich gab.
»Wie Musik in meinen Ohren.«
Gab der Vampir mit andauerndem Lächeln noch lauter als Marius‘ Schrei von sich, übertönte ihn und lachte dann äußerst laut und amüsiert auf. Gepeinigt und geschunden hing Marius an der Mauer fest und seine Füße berührten nur leicht den Boden. Der Vampir ging einige Schritte zurück und juckte sein Kinn etwas, während er den an der Mauer hängenden wie ein Bild beobachtete. Blut floss aus dem Mund von Marius, als er plötzlich zu husten begann.
Das konnte doch alles nur ein böser Traum sein, aus dem mich irgendwer wecken musste. Wir hatten so viel geplant und vorbereitet und das alles für Nichts. Dann verließ das Interesse für Marius den Vampir und er widmete seine Aufmerksamkeit wieder nur mir zu. Er ging zu der Stelle wo das Geländer zerbrochen war und sprang in das Erdgeschoss. Leichtfüßig und ohne Schaden zu nehmen, landete er neben mir. Langsam bückte er sich zu mir hinunter und begutachtete meine Verletzungen.

»Denkst du ich wollte dein Leben zerstören? Denkst du das alles lag in meiner Absicht? Du täuschst dich. Die Trugbilder werden mit der Zeit verblassen und du wirst die Wahrheit hinter diesem Schauspiel erkennen können.«
Dann nahm er meinen Dolch vom Boden und schaute ihn sich etwas an.
»Warum das alles? Denkst du das habe ich mich nicht oft genug gefragt?«
Er lenkte seinen Kopf an mein Haupt heran und bewegte die freie Hand zu mein Kinn. Vorsichtig drehte er mit der kalten Hand meinen Kopf in seine Richtung.
»Mein Leben wurde auch zerstört und das vor vielen, vielen Jahren. Ich wollte nie zu dem werden was ich nun bin.«
Dann seufzte der Vampir etwas auf.
»Renessa hat mir eine neue Familie versprochen, ein neues Leben.«
Dann ließ er von meinem Kinn ab und krempelte den Ärmel der freien Hand nach oben.
»Die darauf folgenden 10 Jahre entpuppten sich als Hölle für mich. Ich verstand nicht und versuchte mich aus der Realität selbst zu flüchten. Es brauchte Zeit Lucas. Anders als sie – werde ich dir die notwendige Zeit geben. Du wirst verstehen, glaube mir.«
Die Umgebung um mich herum wirkte schon ziemlich verschwommen und ich verstand nicht was mir diese wahnsinnige Person da erklären wollte.
Unerwartet näherte er sich meinem Hals und ich spürte nur noch ein warmes Gefühl und die Schwäche in mir wurde zunehmend stärker. Es war kein Schmerz. Ich wurde schwächer und unfähig meine Sinne weiterhin zu benutzen. Seine spitzen Zähne durchdrangen die widerstandslose Haut an meinem Hals und das Blut trat als Folge sehr schnell hervor. Er trank und trank und ließ erst nach etwa einer halben Minute von mir ab. Als er sich wieder aufrichtete, strich er mit Zeige- und Mittelfinger mein Blut von seinen Lippen. »Wirklich eine schreckliche Vergangenheit Lucas. Wir beide haben mehr gemeinsam als du denkst.«
Er legte den Dolch an den nackten Arm an und ein leises Zischen war zu hören.
Tatsächlich schnitt er sich direkt in die Pulsschlagader seines Arms und nur wenige Sekunden darauf floss Blut aus der Öffnung.
»Für dich soll das alles anders werden.«
Ich wollte zwar etwas sagen, war jedoch nicht dazu in der Lage, noch einen weiteren Ton aus mir herauszubringen. Die Schwäche war Herr über mich geworden. Eigentlich war ich mir sicher, dass ich in diesem Moment sterben würde. Unfähig weiter zu atmen, krächzte ich nach Luft. Der Vampir beugte sich ruhig zu mir hinunter und flüsterte mir wieder ins Ohr.
»Dein Leid wird vergehen. All die Schmerzen in deinem Körper und in deinem Herzen und in deinem Sein, werden der Vergangenheit angehören mein Sohn.«

Das war der Moment, der alles veränderte. Er tröpfelte mir etwas Blut auf die Lippen. Ich wollte es verhindern, hatte jedoch nicht mehr die nötigen Kräfte dazu. Ruhig meinte er. »Fürchte dich nicht, es wird alles gut werden.«
Einige der Bluttropfen verschafften sich ihren Weg in meine Mundhöhle und schleppten sich langsam, aber sicher meine Kehle hinab. Aus dem eben noch empfundenen Ekel wurde Verlangen. Verlangen nach dem Blut des Vampirs.
Ich öffnete den Mund und trank das Lebenselixier des Mannes der für das ganze Debakel verantwortlich war. Warm und wohltuend fand es seinen Weg meinen Hals hinunter. Mein unbändiges Verlangen nach dem Trunk wurde größer und plötzlich. Obwohl der Schmerzen in meinem Brustkorb und den gebrochenen Knochen, packte ich seinen Arm und stillte meine Gier nach dem Blut. Diese unbändige und unmenschliche Gier sollte im folgenden Moment bestraft werden. Schmerzen und Bilder vergangener Zeiten tauchten plötzlich tief in mir auf. Grausame Schmerzen, die die gebrochenen Knochen an meinem Körper ins lächerliche zogen. Es fühlte sich an als würde mir jemand von innen heraus die Organe zerreißen wollen. Ich brüllte lauthals auf und kauerte mich am Boden zusammen.
»Was hast du getan?!«
Diese ganzen Bilder meiner Vergangenheit und diese fremden Bilder in meinem Kopf – waren sie nur eine Illusion gewesen? Ich sah den Vampir in einer Wüste auf allen Vieren gehend. Dann sah ich plötzlich eine in schwarz gekleidete Gestalt – war es Renessa, die sich Dariel näherte.

Ja sein Name war Dariel. Dann das gleiche Ereignis wie eben gerade. Die Gestalt war eine Frau, die Dariel ihr Blut einflößte. Sie strahlte eine dunkle Aura aus. Es folgten zahllose, wirre andere Bilder, die zusammenhanglos vor meinem geistigen Auge erschienen. Die Schmerzen dauerten weiterhin an und schienen immer schlimmer zu werden.
Nun hieß es von der Gegenwart, wie ich sie kannte Abschied zu nehmen.

Renessa. Wenn ich an sie zurückdenke, erinnere ich mich an meine junge, unschuldige und begrenzte Sicht auf all die Dinge. Sie war diejenige, die mir damals dieses Geschenk gemacht hatte. Sie hatte mich gefunden hatte und all das Leid hinter meinen Augen erkannt hatte. Das Heilmittel dafür trug sie in ihren Venen. Es war ihr kostbar - so kostbar, dass sie mich zukünftig Sohn nennen würde.
Ja - diese Hexe machte mich zu dem was aus mir geworden war. Sie war für den Aufstieg eines Gottes verantwortlich.

Es war mir eine Ehre Renessa.
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