Das letzte Abendmahl
Die Tage waren so lang wie nie und die Sonne warf ihre brennend heißen Hitzewellen auf die ländliche Gegend um Goldstadt herab. Eine kleine Stadt im Osten des Kontinents. Gerade so groß, dass die Menschen sich anhand der Gesichter einander erkannten. Überschaubar und doch belebt. Abseits von der Stadt hatte ich ein Anwesen und einige bewirtschaftete Felder, die mir Vater nach seinem Verschwinden hinterließ. Durch den Verkauf der Ernten konnte ich mir ein äußerst sorgenfreies Leben erlauben.
Das Anwesen war von einem dichten, immergrünen Wald umzäunt, der überwiegend aus Tannengewächs bestand. Mein Heim lag auf einem kleinen Hügel, etwas abgeschieden. Ich hieß diese angenehme Ruhe, die damals dort zu Gast war, äußerst willkommen. Doch in den letzten Wochen und Monaten bedrückte sie mich mehr denn je. An diesem Morgen ging ich im Vorgarten Spazieren, der westlich des Hauses errichtet worden war. Umzäunt wurde dieser Garten von einer etwa eineinhalb Meter hohen Hecke. Rote Rosenblüten wuchsen aus dem grünen Heckendickicht und konkurrierten in einem einzigartigen Farbkontrast. Das Gras am Boden war kurz geschoren und überall drangen die verschiedensten bunten Blüten aus dem Erdboden hervor. Für jeweils eine Himmelsrichtung wurde auch ein Ausgang im Garten angelegt, wobei der östliche Ausgang in das Innere des Hauses führte.
Die errichteten Spazierwege im Inneren des Gartens wurden aus schneeweißem Marmor erstellt, der so beschlagen war, dass er im Schein der Sonne kräftig glänzte. An den Wegrändern standen in regelmäßigen Abschnitten cremefarbene Säulen, die höchstens einen halben Meter nach oben ragten. Verschiedene Statuen standen auf den Podesten der Säulen. Diese Auflagefläche hatte etwa einen Durchmesser von 30 cm. Die am häufigsten vorhandenen Figuren im Garten waren Engel, wie man sie aus biblischen Erzählungen damals kannte und heute noch kennen sollte. Die meisten Abbildungen zeigten männliche Krieger in Rüstungen.
Engel, die Pfeil und Bogen trugen. Einige der wundersamen Statuen trugen auch Schwerter bei sich. Auffallend waren die gespreizten, mächtigen Federflügel dieser stolzen Gestalten. Geflügelte Krieger des Himmels. Im Verlauf der Erzählungen wurde von einem Krieg zwischen Engel und Dämonen der Unterwelt erzählt. Mein Vater dachte sie würden uns beschützen, vor größerem Übel und genau deswegen hatte er sie in diesen utopischen Garten gesetzt. Ich will mir gar nicht die Kosten für diese Werke vorstellen. Es ist nicht so als hätte Vater es nicht übergehabt.
Mein Vater war ein tiefreligiöser Mensch und hielt an den Erzählungen unseres Herrn fest. Schon in früher Kindheit lehrte er mich die Botschaften der Goldenen Schlange. Mein Vater pflegte gute Beziehungen zum Bischof von Lobdeburg. Er und mein Vater waren gute Freunde. Vater bekam eine von ihm geschriebene Bibel, aus der er mir immer vorgelesen hatte. Dieses Privileg hatten nicht viele Menschen. Lesen ist ein teures Gut, ja.
Ich weiß nicht ob es einen Gott gibt, doch er würde mich für sehr lange Zeit verlassen. Mein eigener Glaube hatte sich bereits vor vielen Monden von mir abgewandt und ich hielt nicht mehr viel von den Überlegungen der Goldenen Schlange.
Stillschweigend in Gedanken schwelgend, genoss ich also den sanften und wohlklingenden Gesang der Vögel, genoss den Geruch der lebenden Blumen um mich herum, genoss die mir in das Gesicht einfallende Wärme der milden Sommerbrise. Das Schicksal würde sich mir als ein unbarmherziges und finsteres erweisen und würde mir in nicht allzu ferner Zukunft all den Genuss dieser wunderschönen Dinge nicht mehr genehmigen.
In letzter Zeit plagte mich dieser tief in mir hausende Schmerz. Die Sehnsucht und das Verlangen nach etwas Unerreichbaren.
Dieses Gefühl der Unerreichbarkeit saß tief in meinem Herzen fest. Der Schmerz, den nur die Liebe verursachen konnte, plagte mich tief in meinem Inneren. Das süße Gift der Liebe schien mich völlig von innen heraus zu vertilgen. Hin und wieder fühlte es sich warm und schön an, als würde ich die Erfüllung bekommen, nach der ich mich so sehr sehnte. Manchmal aber schien es mich einfach nur quälen zu wollen. Egal wo ich hinsah, oder egal was ich auch zu tun vermochte, vor meinem geistigen Augenpaar war nur noch diese wundersame und unberührte Engelsgestalt. Es war wieder einer dieser Momente, in denen ich dieses scheinbare Bild von ihr aus meinem Kopf verdrängen wollte.
Doch die Mühe war vergeblich. In meinem Hinterkopf hatte sich das Bild dieses, blauäugigen Engels von filigraner Gestalt festgesetzt. Es war nahezu so als stünde sie im Moment vor mir. Das samtbraune, bis zur Taille reichende Haar, das sanfte Lächeln, das mir ihr Gemüt verriet. Immerzu musste ich an ihr liebliches und natürliches Lächeln zurückdenken, welches mich innerlich so sehr erwärmte, dass ich selbst nach einem winzigen Gedanken, der ihr gebührte, lächeln musste. Die zierliche Figur und die weiße, makellose Haut dieser jungen Frau – alles an ihr schien so perfekt zu sein.
Dort in meinen Gedanken nagte es Tag für Tag, Stunde um Stunde an mir. Die Zeit verging nur langsam, während ich auf und ab ging, ohne etwas Bestimmtes zu tun. Lediglich diese Gedanken, die mich fortan plagten und die Zeit, welche an mir vorüber ging, ohne mich wirklich zu berühren. Die Liebe ist wundersam, nicht greifbar und doch unbegreifbar. Das Einzige, das mir auf lange Sicht niemand nehmen konnte.
>>Welch bittersüße Ironie<<, dachte ich mir in diesem ratlosen Moment und sah mich ein wenig in meinem prachtvollen Garten um.
>>Du hast alles, ein riesiges Haus, Felder, Knechte und Geld - doch sie bleibt dir verwehrt.<<
Sie war ein einfaches Mädchen, dass zusammen mit ihrer Mutter eine kleine Schneiderei betrieb. Ich hingegen, wurde dank meines Vaters in den Stand des Adels gehoben. Somit waren sie und ich unvereinbare Persönlichkeiten.
Von Zeit zu Zeit kamen die wohlhabenden Familien mit ihren Töchtern im Schlepptau an und wollten Absicherung für sich selbst und ihre Töchter fordern. Immer wieder versprach ich den jungen Frauen ein baldiges Wiedersehen, hielt jedoch nie an meinen Worten fest.
Schließlich endete mein Gedankengang wie sonst auch, auf tragische Art und Weise. Die Liebe kann einem jegliche Sinne rauben und dank ihr lernte ich viel. Ich lernte vor allem aus Fehlern. Doch die Zeit meiner Lehre hatte noch gar nicht begonnen und würde nach ihrem Beginn noch sehr lange andauern. Der Spaziergang an der frischen Luft vor meinem Anwesen baute mich in keiner Weise auf. Ich grübelte sogar noch tiefgründiger als die Stunden zuvor, über diesen in meinem Kopf hausenden Engel und verhedderte mich immer mehr in das Netz dieser mir so aussichtslos scheinenden Situation.
Alles um mich herum wirkte so lebendig, fröhlich und farbenfroh. Nur ich fühlte mich allein, leer und dadurch auch bedeutungslos. So schien ich selbst der einzig graue Fleck in dieser farbenfrohen Fassade zu sein. Ich wusste nicht, wie ich dieser jungen Frau nahetreten konnte, ohne einen Fehler zu begehen. Die Menschen in Goldstadt würden es nicht verstehen, würden es als Frevel ansehen. Dabei waren wir uns schon so oft begegnet, redeten viele Male miteinander. Die Angst irgendetwas Falsches zu tun oder zu sagen war einfach zu groß, als dass ich einfach so mit ihr über die Dinge, die ich tief in meinem Herzen verschlossen hatte, hätte reden können.
Außerdem wusste ich nicht ob, ihre Reaktion denn wirklich meiner Erwartung entsprechen würde. Wäre meine Enttäuschung ein noch größerer Schmerz gewesen und hätte den jetzigen Schmerz vielleicht sogar um einiges übertroffen? Nun ja, ich umschreibe diese Gefühle so, wie ich sie damals empfunden habe. Ich war ein naiver junger Mann, der das erste Mal das Gefühl der Liebe in sich trug. Aber ich bin mir sicher, dass ich dir das nicht erklären brauche und du weißt, was ich meine.
Wenn nicht – sei dir gewiss, du wirst diese Ansammlung, die Überflutung von Gefühlen auch irgendwann dein Eigen nennen dürfen – denn es ist menschlich.
Ich benahm mich wie ein kleiner, verliebter Junge. Ein 24.-jähriger Mann, der noch so wenig Lebenserfahrung hatte. Trotz all dem wollte ich wieder einen klaren Kopf gewinnen und nicht den ganzen Tag über dieses Mädchen nachdenken.
Ich beschloss kurzerhand den Vorgarten zu verlassen, um mich wieder in mein Anwesen zu begeben. Also wandte ich mich langsam um und ging gemächlichen Schrittes wieder in mein Haus zurück.
Das Haus wirkte so leer und trostlos auf mich. Ich mochte diese Stille der Einsamkeit nicht. Seit Vater nicht mehr hier war, fühlte ich mich allein gelassen.
Rote Teppiche schmückten den weit ausgebetteten Marmorboden. Ölgemälde zierten die Wände, die auch aus dem Besitz meines Vaters stammten. Der heilige Garten des Herrn als Kunstwerk. Ein Abbild der Goldenen Schlange in Menschengestalt. Die Gemälde waren chronologisch angeordnet. Es endete mit einem finalen Untergang, welcher durch den Kampf des Namenlosen und dem Herrn des Lichts ausgetragen wurde. Der Kontinent brannte und starb. Im Hintergrund des Gemäldes sah man Engel und Dämonen, die einander bekämpften. Die Eindrücke der Brutalität, des Blutes und des Feuers, die auf dem Bild präsent waren, bildeten eine grauenhafte Vorstellung, wenn sie denn schlussendlich real werden würde – was ich damals für reinen Unsinn hielt. Ich hatte mich an diese Gemälde gewöhnt.
Wenn ich heute so darüber nachdenke, hatten diese himmlischen Engel auf den Gemälden sehr viel mehr mit den dunklen Kreaturen zu tun, als mir lieb war. Aber dies soll nun nicht die Thematik der Erzählung sein. Vielleicht komme ich ein andermal darauf zurück.
Seit dem Verschwinden meines Vaters zweifelte ich an allem Göttlichen. Mit einem Seufzen ging ich den hölzernen Treppengang im Eingangsbereich der Halle hinauf und machte mich auf den Weg in mein Gemach, das im ersten Stockwerk des Anwesens lag. Das Haus bestand aus Nord-, West- und Ostflügel. Das Ende der Treppe erreicht, ging ich durch die vor mir liegende Tür, die zum Nordflügel führte, wo sich auch mein Zimmer befand. Ein langer Gang führte zu verschiedenen Zimmern. Mein Gemach war die zweite Tür auf der linken Seite. Seitdem Vater fort war, fanden viele Räume im Haus keine Verwendung mehr.
Die Bücherei im Nordflügel war ein Ort den ich trotz all dem, immer noch aufsuchte. Ich las meines Vaters Bücher, die Überbleibsel seiner Selbst in diesem Anwesen waren. Auch die anderen Aufenthaltsräume des Anwesens waren seither unbenutzt. Die Gästezimmer wurden nur noch von der Sippschaft des Adels benutzt, wenn denn wieder jemand seine Tochter bei mir lassen wollte.
Vater behandelte Besuch immer wie eigene Familie, war äußerst gastfreundlich und bat ihnen alles, was er an Besitz hatte. Ich wusste zwar dass Vater neben dem Verkauf der Güter, die wir auf dem Feld erwirtschafteten, noch eine andere Arbeit verrichtete, doch darüber wollte er sich mir nie offenbaren. Meistens waren diese Menschen gläubige Diener des Herren, wie mein Vater einer war. Er war sogar einige Male in der Hauptstadt der Goldenen Schlange gewesen, wie die Heiligkeit selbst zu Gegen war.
In meinem Zimmer angekommen, legte ich mich etwas auf mein weiches und gemütliches Bett. Jetzt schnaufte ich tief ein und aus, hörte mich dabei selbst etwas seufzen. Mir schossen alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Ich war der alleinige Erbe dieses Vermögens. Mein Vater starb vor acht Jahren an einem müden Wintertag. Die Reisen, die er oft antrat, gehörten auch zu seiner Arbeit, von der ich nicht viel wusste. Daher sah ich ihn nicht sehr häufig und freute mich über jede Stunde, die ich mit ihm gemeinsam verbringen durfte. Als mein Vater eines Tages loszog, um einen Handel mit einem Geschäftsmann in Kronstadt zu beschließen, kehrte er nicht wieder. Ich weiß noch genau, als wäre es gestern gewesen, was ich damals empfand, als mir unser Hausmädchen Nana die Nachricht überbrachte.
Man fand nur die leere Kutsche und eine mit Blut verschmierte Kabine. Ein Raubmord, wie er des Öfteren zur damaligen Zeit passierte. Vater war auf dem Weg nach Hause, kam jedoch nie an. Er hatte sich bereits seit einigen Tagen verspätet und ich machte mir schon große Sorgen um ihn. In meinem Kopf wurden die schrecklichsten Gedanken zum Leben erweckt. Ich stand am Fenster, schaute in die Ferne, auf Vaters Rückkehr hoffend, und das über mehrere Stunden am Tag hinweg. Am verheißungsvollen Tag näherte sich zur frühen Abendstunde eine Kutsche unserem Anwesen und als sie näherkam, erkannte ich auf der vorderen Seite der Kutsche das Symbol der Schlange, das aus Gold geschaffen war. Das Zeichen der Kirche.
Ein Mann mit langem, grauem Haar stieg aus. Im Gesicht trug er einen grauen, gepflegten Bart und seine Haut wurde von Altersflecken gezeichnet. Er trug einen Waffengurt um seine weiße Robe, an welchem ein Schwert befestigt war. Plötzlich hörte ich wie jemand fest auf die Tür hämmerte.
Ich war mir sicher, dass dieser Mann keine guten Neuigkeiten für uns hatte. Schnell verließ ich mein Gemach und ging nahe zum Geländer der oberen Etage, von wo ich einen guten Überblick über den Eingangsbereich des Anwesens hatte. Die Hände legte ich auf dem Geländer ab und beobachtete das Geschehen in der unteren Etage. Nana öffnete die Tür und ich sah, wie der Mann mit ihr redete und ihr etwas mitteilte. Er schüttelte etwas den Kopf, schloss für einige Sekunden die Augen.
Dann sah ich bereits das Ausbrechen des Tränenmeers und wie Nana plötzlich verzweifelt zusammensackte. Der etwas ältere Mann half, er kniete sich hin, reichte ihr seine Linke und begleitete sie in den Aufenthaltsraum hinein, welcher sich in der unteren Etage befand. Ich ging die Treppe am Hauptgang nach unten und belauschte die beiden. Dann hörte ich, wie der alte Mann mit Nana sprach.
>>Es wird bestimmt nicht leicht, auch nicht für den Jungen. In dieser tragischen Stunde werden der Herr und seine guten Diener eure Begleiter sein und euch helfen.<<
Dann unterhielten sie sich noch über irgendetwas, das ich jedoch nicht verstehen konnte, da sie in ein anderes Nebenzimmer gingen. Ich wollte nicht nach unten gehen und diese schlechte Nachricht hören. In diesem Moment wollte ich einfach nur die Wahrheit verdrängen. Deshalb ließ ich mich seelenruhig auf meinem Bett nieder, als würde ich auf irgendetwas warten.
Wenn die Realität versucht jemanden einzuholen, um einen von der Wahrheit zu erzählen und man diese nicht akzeptieren möchte, dann läuft man. Man möchte dieser trostlosen Wahrheit keine Akzeptanz entgegenbringen. Doch ich durfte in Erfahrung bringen, dass man nur begrenzte Zeit von der Wahrheit fliehen konnte. Am Ende wird sie einen immer einholen.
Schließlich, nach etwa einer halben Stunde, kam Nana in mein Zimmer und die haselnussbraunen Augen der alten Frau waren mit Tränen gefüllt. Sie brachte es nicht über das Herz, mir die Nachricht mitzuteilen. Ich verstand - es brauchte keiner weiteren Worte um zu verstehen, wie die Wirklichkeit aussah und was geschehen war. Die Realität hatte mich eingeholt und auch wenn ich wusste, dass Vater schon einige Male von Banditen auf seinen Geschäftsreisen überfallen worden war.
Dieses Mal war es anders. Langsam erhob ich mich und zögerte einen Moment, während mein Blick die weinende Frau traf. Die Zeit war gekommen. Meine Zeit, erwachsen zu werden. Anschließend ging ich langsam auf sie zu, schloss meine Augen und nahm sie in meine Arme.
Daraufhin folgte ein lautes, weinerliches Schluchzen und sie konnte das Tränenmeer nicht mehr zurückhalten. Auch ich begann leise zu Weinen, nur für mich und Tränen flossen trotz geschlossener Augenlider meine Wangen hinunter. Leise, ohne die Trauer zu zeigen, drang das salzige Wasser hervor. Ich wusste, dass dies der Moment war, an dem sich mein gesamtes Leben wenden würde. Ich dachte immer wieder an meinen Vater zurück und fragte mich auch immer wieder warum mich diese Ungerechtigkeit nur immer zu verfolgte.
Der erste Wendepunkt meines Lebens schrieb sich in blutigen Lettern nieder und veränderte mich das erste Mal. So viel zum längst Vergangenen.
Es war bereits Abend geworden. Während ich in meinem ziemlich großen und weich gepolsterten Himmelsbett lag, überlegte ich auch weiterhin. Diese unerklärlichen Gefühle, die in mir aufkeimten, sie irritierten mich. Wenn ich so darüber nachdenke, hätte ich wohl alles für sie gemacht.
Ja, so dachte ich damals zumindest und als ich diesen Gedankensprung beendet hatte, schnellte plötzlich die Tür des Balkons mit einem Windstoß auf und schlug gegen die innere Backsteinmauer.
Erschrocken sprang ich auf und griff nach meiner Klinge, die auf einer hölzernen Kommode neben dem Bett lag. Da ich fortwährend allein in diesem Haus lebte und nur Nana hier mit mir hauste, hatte ich immer meinen Degen Griffbereit. Natürlich hätte es die Möglichkeit gegeben Wachpersonal einzustellen, doch das wollte ich nicht. Mein Vertrauen gegenüber Fremden war äußerst gering. Ich glaube es hätte meiner Gemütslage eher geschadet.
Es war eine unangenehme, paranoide Eigenschaft, die ich seit Vaters Tod mein Eigen nennen durfte. Schlussfolgernd war dieses Vorhaben jedoch völlig umsonst, da mein rascher Blick niemanden entdecken konnte. Mein forscher Blick fiel langsam auf den Balkon.
>>Merkwürdig<<, dachte ich mir.
Wie konnte diese Tür so urplötzlich auffliegen? Selbst wenn es ein Windstoß gewesen wäre, hätte er nie eine solche Wucht erzeugen können, dass die Tür mit so einem Knall gegen die Mauer prallte. Die Scheiben der Balkontür waren mit Wasserdampf bedeckt, da es in der Nacht draußen doch ziemlich kühl wurde.
In meinem Schlafgemach hingegen war es dank des darin befindlichen Kamins etwas wärmer. Als ich Hand an die Tür anlegen wollte, um diese wieder zu schließen, fiel mir dieser Abdruck auf der Scheibe auf. Etwas Wasserdampf von der Scheibe wurde wohl mit einer Hand abgewischt.
Ja, es hatte ganz so den Anschein, als hätte eine menschliche Hand gegen das Glas gedrückt. Vielleicht war ich es ja selbst, ohne es zu merken oder Nana war zuvor in meinem Gemach? Dann ereilte mich ein eigentümliches Gefühl. Es fühlte sich so an, als würde mich jemand von einem unentdeckten Platz aus beobachten.
Ich war übermüdet und meine Gedanken kreisten wild, ohne Ziel umher. Mein Kopf spielte mir anscheinend einen Streich und mit einem erschöpften Atemzug rieb ich mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, über mein geschlossenes Augenpaar.
Obwohl optisch keine Veränderung festzustellen war, hatten sich meine Gefühle erneut umgeschlagen, ich wurde wieder etwas ruhiger. Draußen vom Flur ertönte das annähernde Knirschen der Holzlatten des Bodens, dass meinem Zimmer immer näherkam. Man hörte jede Bewegung, die jemand in den oberen Etagen des Hauses verrichtete.
Mein Vater mochte diesen klassischen Stil aus Holz. Der Prunk des Eingangsbereiches war für die Gäste geschaffen. Vater lehrte mich, dass es eine glückliche Fügung des Schicksals sei, dass wir ein solches Leben leben konnten. Doch er persönlich hätte auch ein einfaches Leben völlig ausgekostet.
Leise, fast schleichend ging ich zur Tür. Wie erwartet wurde die Türklinke von außen nach unten gedrückt und die Tür öffnete sich langsam. Aufgrund der Aufregung, die in mir tobte, wusste ich nicht was ich tun sollte. Langsam hob ich die Klinge an und erwartete die bald eintretende Person. Laut hörte ich mein Herz pochen. Die Angst blühte erneut in mir auf.
Als ich Nana eintreten sah und sie die auf sich gerichtete Klinge sah, schreckte sie voller Entsetzen zurück und griff sich mit der Rechten an die Brust.
>>Junge, was machst du da?!<<
Auch wenn Nana nun schon seit einigen Sekunden vor mir stand, senkte ich erst nach einem langandauernden und unsicheren Moment des Wartens die Klinge und atmete anschließend erneut fest ein und aus.
>>Verzeih mir Nana, ich dachte du wärst jemand anderes.<< Verdutzt musterte mich die alte Dame.
>>Wer soll hier denn noch sein? Außer uns beiden ist niemand hier. Komm endlich nach unten, etwas Essen, du wirkst etwas erschöpft. Glaub mir, das wird dir gut tun mein Junge.<<
Möglicherweise hatte Nana Recht. Ich hatte seit einigen Tagen nichts mehr gegessen und vielleicht spielten mir meine Gedanken wirklich einen Streich.
Als sie mein Zimmer wieder verließ und sie die Tür hinter sich schließen wollte, öffnete sie diese nochmal einen Spalt weit und meinte.
>>Ach und steck endlich dieses Ding weg. Du trägst es schon seit Jahren mit dir herum und noch nie ist etwas passiert. Goldstadt und die Umgebung ist sicher. Die guten Diener des Herren haben diese Gegend sicher gemacht Lucas.<<
Dann verließ sie den Raum endgültig. Natürlich verstand ich Nanas Bedenken, doch für mich war dieser Zweifel mehr als nur berechtigt. Die paranoide Ader, die erst seit Vaters Verschwinden nach und nach in mir aufgeblüht war, war der wahre Grund für diese übertriebene Vorsicht.
Ich ließ diesen Vorfall hinter mir und dachte nicht mehr weiter darüber nach. Nana zuliebe, wollte ich etwas nach unten gehen und dort ein wenig essen. Sie gab sich immer so viel Mühe mit der Zubereitung des Essens und ich hatte die letzten Tage einfach so gut wie nichts hinunter bekommen. Also legte ich die Klinge wieder neben meinem Bett, auf einer hölzernen Kommode ab, schloss die Tür, die auf den Balkon führte und machte mich auf den Weg nach unten.
Unten im Speisesaal angekommen, kümmerte sich die alte Nana fürsorglich um mich. Sie drängte mich förmlich, mich zu setzten und legte mir eine anschauliche Mahlzeit vor.
Hausgemachter, geräucherter Schweineschinken, Kalbsbraten, gedünstete Karotten, einen Topf Eiersuppe nach ihrer speziellen Zubereitung. Auch Wein war stets ein fester Bestandteil ihrer Mahlzeiten. Ansiloner Rotwein, ein edler Tropfen aus dem fernen Westen.
Mein Appetit war jedoch nur mäßig präsent und normalerweise war ich ein wirklicher Weinliebhaber. Schlussendlich konnte ich dieser alten Dame ein solches Festmahl nicht abschlagen. Das besorgte Gesicht des alten Mütterchens gab mir schließlich den Rest und ich konnte nicht mehr mit ansehen, wie es Nana nur wegen mir schlecht ging.
Sie wusste, dass die Liebe wie ein Rankengewächs mein Herz umfangen hielt und ich mich zudem in letzter Zeit immer schlechter und schwächer fühlte.
Langsam aber sicher aß ich dann etwas von dem Schweineschinken und den gedünsteten Karotten. Nana war immer schon eine sehr fürsorgliche Frau gewesen, wenn ich nicht sogar sagen kann, dass sie mich immer wie einen Sohn behandelt hatte. Während ich einen Bissen nach dem anderen genüsslich aß, lächelte Nana ein wenig und ihre alte, zerbrechliche Stimme bildete die Begleitmusik zu meinem Mahl.
>>Es freut mich, dich wieder Essen zu sehen, mein Junge.<<
Für einen kurzen Augenblick unterbrach ich das Kauen und starrte Nana nur einen Moment an. Sie stand vor dem Tisch und aß nichts. Was war ich nur für ein Tölpel, dass mir das erst im Nachhinein auffiel.
Mein Vater hatte mir beigebracht was es hieß, Anstand zu zeigen. Mit einer Geste deutete ich ihr an sich zu setzen. Sie schüttelte nur verneinend den Kopf und kam erneut zu Wort.
>>Iss du nur, mein Junge, ich werde nach dir speisen.<<
Auch wenn sie eine solch liebe alte Frau war, hatte sie doch einen sturen Kopf, dem man nichts entgegensetzen konnte. Sie war keine wirkliche Dienerin des Hauses, sondern war viel mehr meine Familie geworden. Das wusste sie auch, wollte jedoch nicht mehr Rechte als andere Bedienstete haben.
>>Bitte Nana, ich möchte mit dir zusammen essen. Setz dich.<<
Nach kurzem Zögern kam ein >>Na gut.<< aus ihrer Richtung. Sie saß sich auch zu Tische und begann mit langsamen Bewegungen, sich etwas auf den Teller zu legen, blieb jedoch bei der Menge ziemlich bescheiden.
Dann kam es erneut wie ein Schlag auf mich zu. Dieses eigenartige Gefühl, das mich erst kürzlich im Obergeschoss, in meinem Zimmer verließ und nun bereits wiederkehrte. Das Gefühl im eigenen Haus beobachtet zu werden. Beobachtet zu werden, wenn man weit und breit niemanden sehen oder hören kann, kann ziemlich beängstigend sein.
Es ist die menschliche Intuition, die aus der Tiefe des Bewusstseins zu einem spricht. Ein Blick ist zwar lautlos, sorgt jedoch immer für eine unsichtbare Berührung. Schließlich gibt diese Empfindung einem ein Gefühl der Unsicherheit und Wehrlosigkeit. Man fühlt sich bloßgestellt und kann die Situation, in der man sich befindet, nicht einschätzen.
Allein um mich abzulenken, aß und aß ich, Stück für Stück, doch wanderte mein Blick suchend, ja ich wage sogar zu sagen, immer wieder hektisch durch den Saal. Obwohl ich weit und breit nichts erkennen konnte, wollte dieses Gefühl nicht von mir weichen. Als wäre es ein in mir noch unbekannter Wahrnehmungssinn, der mich einfach vor etwas warnen wollte.
Als ich an dem Weinglas nippte, fuhr mir ein kalter Schauer den Rücken hinunter und für einen Moment war mein gesamter Körper wie gelähmt. Gänsehaut überzog meine Oberarme und ich hatte das Gefühl, als würde mir das Herz in der Brust stehen bleiben. Unerwartet strich mir dann eine gewichtige Kälte über meinen Rücken – so fühlte es sich zumindest an. Ich spürte die kalten Finger einer Hand ganz genau, konnte Nana jedoch auf der anderen Seite des Tisches essen sehen. Ehe ich mich versah, gab der Griff um das Weinglas nach und es zersplitterte auf dem Marmorboden. Als das Glas mit einem Klirren auf dem Boden zerbrach, verschwand der unangenehm kalte Schauer augenblicklich.
Ich schaute mich schnell um und aus dem Augenwinkel erkannte ich Nana, die rasant in meine Richtung hetzte. Ehe ich realisieren konnte, was passiert war, stand Nana vor mir. Sie fing an eindringlich auf mich einzugehen.
>>Ruh dich jetzt aus und ich will keine Widerworte hören.<<
Sofort bückte sie sich hinunter, um die Glasscherben aufzusammeln.
>>Das sage ich dir als deine Nana. Ich räume diese Sauerei schon weg.<<
Wahrlich, sie ist immer wie eine gute Mutter zu mir gewesen. Ich beendete mein Mahl, befolgte den gutherzigen Rat von Nana und ging wieder zurück in mein Gemach.
Eine Mutter zieht jemanden groß, sorgt sich um jemanden, liebt jemanden und würde für jemanden sterben. Nana war zwar nicht meine leibliche Mutter, doch tief im Inneren akzeptierte ich sie in dieser Rolle, in welcher sie schon über 15 Jahre steckte. Immer wenn es mir schlecht ging, hatte Nana einen weiterhelfenden Rat für mich, der mir stets Kummer und Sorgen genommen hatte. In der Kindheit halfen mir ihre Ratschläge immer, doch ob es nun etwas bringen würde?
Oben zurückgekehrt, schloss ich die roten Vorhänge, die sich über dem Terrassendurchgang befanden und entfachte das gedämpfte Licht der Öllampe. Das Licht vertrieb die Dunkelheit im Bereich meines Bettes. Lediglich ein paar wirre Schatten fielen auf die Wände neben dem Spiegel und tanzten dort wild herum. Warum ich den Vorhang verschlossen hatte? Mein Vater schloss die Gardinen jeden Abend, wenn er mich zu Bett brachte und ich übernahm dieses Ritual über die Jahre.
Egal ob Tier oder Mensch – es liegt in unserer Natur, solche wesentlichen Riten zu übernehmen.
Wir übernehmen die Handlungsabläufe unserer Eltern, erfahren und lernen daraus. Selbst die, die klein, unscheinbar und belanglos erscheinen, übernehmen wir ohne größer darüber nachzudenken und es fällt uns auch gar nicht auf.
Im gedämpften Licht stellte ich mich vor den Spiegel, der sich vom Boden etwa zwei Meter in Richtung Decke erhob. Eine dicke, hölzerne Umrandung, welche dem Abbild einer Schlange nachempfunden war, bildete den Rahmen des Spiegels. Am oberen, mittig angesetzten Rand verschlang sie ihr eigenes Hinterteil und schloss somit den Kreis der Umrandung. Die Linke langsam ausstreckend und deren Finger spreizend, berührte ich sachte die sich mir nähernden Finger meines Spiegelbilds. Für einen kurzen Moment sah ich meinem Spiegelbild in die Augen und senkte anschließend den Kopf etwas, während ich ihn gegen den Spiegel stützte.
>>Vater..<<, entkam es mir nur etwas verzweifelt. Natürlich wusste ich tief in meinem Inneren, dass das Mädchen nicht der alleinige Grund für mein Befinden war.
All die Ereignisse der letzten Jahre kamen wieder hoch. Erst Mutter, mein Bruder, dann auch noch Vater. Wenn man alles verliert, was man jemals im Leben das Eigentum seines Herzens nennen durfte, schwindet der Lebensdrang und dann wird einem auch klar vor Augen, warum man der einzig graue Fleck im farbenfrohen Bild ist.
Eigentlich hätte es mich freuen sollen, wieder jemanden in mein Herz gelassen zu haben. Denn zunächst dachte ich, dass sich dieses Gefühl für immer von mir verabschiedet hatte. Doch mit der Ankunft dieses Empfindens, kamen auch das Misstrauen und die Angst gegenüber dem Schicksal. Das ganze Überlegen half nichts, ich musste mich dem Leben stellen und musste dieses Leben noch auf mich zukommen lassen. Diese Gedanken beruhigten mich ein wenig.
Mehr oder weniger beschwichtigt, legte ich mich nun zu Bett. Neben mir, auf einem kleinen Nachtkästchen aus Buchenholz lag wie immer meine Klinge bereit, denn ich wusste nie wann es vielleicht einen Einbrecher oder anderen Gauner in mein Heim verschlagen würde. Vorsicht, oder einfach nur Paranoia? Ich vertraute den Dienern des Herrn schon lange nicht mehr. Sie hatten Vater nicht retten können.
Immer noch ein wenig unruhig, wälzte ich mich hin und her. Die Müdigkeit war nach einiger Zeit jedoch stärker und übermannte die in meinen Kopf tobenden Gedanken. Schließlich schloss ich die Augen und vergaß für den Moment alles um mich herum.
Ich ruhte das erste Mal seit langer Zeit tief und fest. Doch dieser Zustand sollte nicht sonderlich lange andauern.