Von Thule über das große Wasser

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Yndis'legjar
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Re: Von Thule über das große Wasser

Beitrag von Yndis'legjar »

-= Yndis'legjar von Brat'ack =-
Auf zu neuen Ufern

Als jüngste von Vieren wuchs das Nesthäkchen im Schatten ihrer älteren Geschwister auf. Eine Nachzüglerin, die fünf Jahre Altersunterschied von der zuletzt Geborenen trennten und die auch sonst mit den übrigen Kindern Tormod‘s und Tyrva‘s so gar nichts gemeinsam zu haben schien.
Während die Söhne – Einar und Fjell - auf dem Weg der Berserker wandelten und ihrem Vater nacheiferten, hatte es sich ergeben, dass der älteren Tochter, Synni, schon früh die Gabe des zweiten Gesichts geschenkt worden war. Die Eltern blickten voller Stolz und Wohlwollen auf die Entwicklung ihrer ersten drei Nachkommen herab, waren sie doch mit ihnen wahrlich gesegnet, doch der jüngste Spross der Familie tanzte gänzlich aus der Reihe und bereitete vor allem Tormod Kopfzerbrechen.

Tyrva, die über ein sonniges Gemüt verfügte und stets mit Hingabe die Aufgaben erledigte, die ihr als Kräuterkundige und Vaertind auferlegt waren, versuchte stets, die schweren Gedanken ihres Gefährten mit einem aufmunternden Lächeln zu zerstreuen. Aber es half nichts, allzu oft schallte der Name Yndis’legjars, die zumeist nur Yndis gerufen wurde, weil es prägnanter und einfacher zu schreien war, durch die Siedlung – und geschrien wurde der Name wirklich sehr oft, da das Mädchen mit dem kastanienbraunen Haar ständig für Verärgerung bei Tormod sorgte!

Die Kleine stahl sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit vom Lager fort und streifte durch die angrenzende Flora und Fauna. Wann immer das störrische Kind dann den Weg zurück ins Lager fand, hatte sie die Taschen voller Federn von Greifvögeln, hübscher Kiesel, Muscheln und – noch viel schlimmer als der übliche Tand – sehr oft schleppte sie auch noch kleine, verletzte Tiere an, was dann jedes Mal dicke Tränen die pausbäckigen, roten Wangen hinabkullern ließ, wenn der Vater beschloss, dass der Hase oder das Kitz wenigstens eine kärgliche Mahlzeit abgeben würde, statt dass die Tochter Zeit damit vergeuden sollte, das gefundene Getier wieder aufzupäppeln.
Wann immer also der Name gebrüllt wurde, konnte man davon ausgehen, das Tormod die gewaltigen Hände direkt im Anschluss an die Stirn führte und leiser die Frage stellte: „Was stimmt bloß neyt mit diesem Kind?
 
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Auch als sie den Kinderschuhen entwachsen war und langsam zu einer jungen, hübschen Frau heranreifte, wurden die Sorgen des Vaters nicht weniger. Wenngleich gerade Tormod es nicht gern sah, dass ausgerechnet seine Tochter einen Bogen oder Wurfspeer als Waffe gewählt hatte, aber immerhin hatte sie überhaupt eingewilligt, sich mit der Jagd zu beschäftigen und ausbilden zu lassen. Es mangelte ihr nicht an Geschick, nein, aber sie war.. ach, so störrisch und ganz einfach anders.

Noch immer war sie viel mehr damit zu begeistern, stundenlang durch die Natur zu wandern, sich das Lesen von Fährten anzueignen, das Vertrauen von Tieren zu gewinnen, diese abzurichten und an ihrer Seite auf die Jagd zu gehen. Wenn er nur an diesen zotteligen, alten Wolf mit dem einen verbliebenen, trüben Auge dachte, den sie gerettet und er schon einige Male bei ihr gesehen hatte, keimte wieder leichter Groll in ihm auf. Eines Tages würde der Wolf sie zum Dank gewiss noch fressen! So ein törichtes Kind.  

Lange Zeit hatte er gehofft, dass sie doch noch zur Vernunft kommen und die überschäumende Liebe zum Kampf entwickeln würde, die ihn stets angetrieben hatte und sich mit Feuereifer ihren Brüdern anschließen würde, doch inzwischen hatte er einsehen müssen, dass diese Hoffnung vergebens war, denn ihre Statur allein schon ließ sie dafür nicht in Frage kommen. Eine gute Handbreite fehlte ihr an Größe, um wenigstens das Mindestmaß zu haben, was es brauchte, um eine gute Berserkerin abgeben zu können – er hatte dafür immerhin ein Auge – nein, sie war zu klein, zu schmächtig.
Er hatte längst schon Rat und Beistand bei den Ahnen suchen wollen, doch der Sjaman hatte nur milde gelächelt und als hätte er geahnt, mit welcher Frage im Kopf er auf seine Hütte zu gestapft kam, gesagt, dass nicht alle Kinder gleich seien, dass er sich aber nicht zu sorgen brauche; auch Yndis würde ihren Weg finden.

Also hatte Tormod kehrt gemacht und sich mit dem Rücken zu seiner Hütte in grüblerischer Stimmung niedergelassen. Ja, wenn er so darüber nachdachte, Yndis hatte nie viel übrig gehabt für das Spiel der Brüder, die sich stets und ständig prügelten, um ihre Kräfte zu messen. Natürlich, auch sie war ein Kind Sarmatijaschs, Kampfgeist und Stolz waren ihr in die Wiege gelegt worden, aber wenn der Kampf nicht ihr Weg war, sie auch nicht mit dem zweiten Gesicht gesegnet worden war – was war dann ihr Weg, wo war ihr Platz?! Sollte sie, wie ihre Mutter das Bestellen von Äckern und die Viehzucht erlernen? Wie wollte sie zu Ruhm und Ehre gelangen, um sich einen Platz im Ahnenreich zu verdienen?

Nun, Yndis war sehr hübsch, inzwischen hatte sie 21 Sommer erlebt. Sie war nun mehr als alt genug, um einen Kerl zu wählen! An Bewerbern hatte es nicht gemangelt, nein, einige junge Kerle hatte es gegeben, die ein Auge auf sie geworfen hatten, doch das sture Mädchen hatte offenbar nichts als Kräutersammeln, das Zusammentragen von Steinen, Perlen und das Aufpäppeln von verletztem Vieh im Kopf! Das war doch nichts, was einen Nordmann oder eine Nordfrau mit Befriedigung erfüllen könnte!
Da ihre Brüder bereits einen Bund eingegangen waren, der Stamm wohl bald mit vielen weiteren Nachkommen gestärkt werden würde, Synni das zweite Gesicht besaß und somit nicht zwangsläufig einen Bund eingehen würde müssen und Yndis der Mutter tatkräftig zur Hand gegangen war, hatte man es in ihrem Falle nicht so eilig gehabt, sie dahingehend zu einer Entscheidung zu drängen und einem der jungen Kerle zu versprechen. Zeit, dies ein für alle Mal zu ändern!
Sollte sich nun ruhig jemand anderes mit ihr herumärgern. Der Erste, der Interesse an seiner Tochter bekunden würde, würde sie bereitwillig hergeschenkt bekommen.

Yndiiiiiis.
Ein weiteres Mal erklang die tiefe, kräftige Stimme Tormods, doch die Gerufene folgte dem Ruf des Vaters nicht, sondern huschte in entgegen gesetzter Richtung davon- wohl beschlich sie die Befürchtung, dass der Vater endgültig die Geduld mit ihr verloren hatte und seine bereits einige Male ausgesprochene Drohung nun wahr machen würde.

Nachdem ihr Schlafplatz auch am nächsten Morgen unberührt geblieben war und dies über das übliche Maß an Ungehorsamkeit hinausging, ließ das nur einen Schluss für ihn zu: Yndis hatte nicht nur die Insel Thule, die bislang ihre Heimat gewesen war, sondern auch den Stamm der Brat’ack verlassen und war aufgebrochen, um an neuen Ufern ihr Glück zu suchen.

Ein letztes Mal verklang der Name der Tochter, doch diesmal schwang darin kein Hauch von Groll mit, eher Wehmut ließ ihm das väterliche Herz schwer werden. Denn in dem Augenblick, in dem er auf die zurückgelassenen Habseligkeiten blickte, verspürte Tormod die Gewissheit, dass er die stets so störrische, wie auch gutmütige, Tochter nicht wiedersehen würde.

Aber diesmal fragte er sich nicht insgeheim, was mit diesem Kind nicht stimmen mochte, vielmehr fragte er sich, was mit ihm selbst nicht stimmte, dass ihm entgangen war, dass Yndis schon immer weitaus mutiger als die Söhne, die sich furchtlos in jeden Kampf warfen, gewesen war, denn sie war es, die zeitlebens den Mut aufgebracht hatte, sich ihm zu widersetzen, ihm zu trotzen - trotz all der Schelte und den Drohungen seinerseits, gleich was es für Konsequenzen nach sich gezogen hatte, und war nun letzten Endes wohl ihrer inneren Stimme in eine ungewisse Zukunft gefolgt.
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Veldys vom Askjell
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Von Thule über das große Wasser

Beitrag von Veldys vom Askjell »

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Veldys von Brat'ack

Auf zu neuen Ufern

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Es sind Monde vergangen seitdem ich meine Geisterweihe bestanden habe und es hatte sich einiges von diesem Moment an geändert. Mir wurden mehr Aufgaben, aber auch mehr Pflichten zuteil und ich hatte kaum einen Tag im Dorf der Brat'ack, an dem ich mal rein gar nichts zu erledigen hatte. Das störte mich weniger, denn die Geister hatten mir das zweite Gesicht geschenkt und somit lebte ich um Ihnen zu dienen, das hatte ich früh akzeptiert und ich war stolz darauf.

Ich hatte gelernt die Zeichen zu deuten und auch gelernt, dass es manchmal gar nicht die Absicht der Geister war, dass sie vollends verstanden wurden. Ihre Absichten und Pläne glichen einem riesigen, wirren Netz aus den verschiedensten Pfaden und Möglichkeiten. Eine Tatsache, die besonders die jüngeren Werager, meist verärgerte. Sie wollten oft alles ganz genau wissen, sie brauchten etwas handfestes, etwas greifbares und das konnte Ich ihnen nur selten geben. Damit mussten sie sich zufrieden geben, denn Hathrans waren nicht dafür bekannt in klaren Worten den Willen der Geister zu veräußern - nein, wenn ich eines gelernt hatte, dann das es manchmal sogar klug war, den Willen zu verbergen. Es gab Geheimnisse, die wurden nur jenen zuteil, die das zweite Gesicht erhalten hatten und auch wenn mein Verhalten dadurch manchmal seltsam anmutete, so gab ich mich damit zufrieden. Die Geister standen über allem.

Es ist nicht lange her, da verweilte ich wieder unter den klimpernden Geisterbäumen meines Dorfes und lauschte dem Wind, der mit all den Gaben und Kleinoden, die sich im Geäst befanden, spielte. Ich mochte den Ort, die Geräusche, die Präsenz der Geister, die für mich immer deutlicher an so einem Baum zu spüren waren. Doch etwas an diesem Tag war anders. War es der Wind, oder war es die Präsenz? Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich eine ganze Weile lauschend verharrte, bis der Wind sich veränderte. Er wirkte drängender, aufmüpfiger und hatte die Richtung geändert. Zum Meer hin, als würde er mich nach dort tragen wollen. Ich folgte dem Drang bis zum steinigen Ufer und blickte hinaus auf das ruhige Meer, doch ich bekam keine Antwort. War das nur ein Spiel gewesen? Die Stirn runzelnd hatte ich mich an diesem Tag wieder zurückgezogen, nur um am nächsten Tag das selbe zu erleben. Diesmal jedoch ließ der Wind am Meer nicht nach und es wirkte so, als würde er mich auf jenes drängen - ich erblickte einen Adler der in der Ferne über das Wasser flog - war das ein zusätzliches Zeichen? Ich beschloss mit meiner Mutter darüber zu reden.

Ich erinnere mich an den nachdenklichen Blick der klaren, frostblauen Augen der alten Frau. Die Augenfarbe die ich von ihr geerbt hatte, auch wenn mittlerweile nur noch eines meiner Augen in dieser eindringlichen Farbe strahlte.

»Vielleicht woll'n sie, dass ich ihn'n über das große Wasser folge, vielleicht hab'n sie mich neyt ohne Grund zu einer Hathran gemacht.«

Für einen kurzen Moment kam ich mir dumm vor, diese Vermutung auszusprechen und zu erwarten, dass die Geister etwas ganz spezielles mit mir vorhätten, wo meine Rufe jahrelang ungehört geblieben waren. Doch meine Mutter lächelte und es war das Lächeln einer Frau, die meinen Worten zustimmte.

»Vielleicht, es lieg'n ferne Welt'n jenseits des groß'n Wassers, die Händler bericht'n immer wieder davon. Aber wirs' du der Vermutung nachgeh'n?«

»Was is' wenn es nur 'ne Vermutung is'... und sie nur mit mir spiel'n oder ich es mir einbilde?«

»Dann kehrs' du zurück.«

»Du meins' also.. jeg soll es neyt ignorier'n?«

»Wir Hathran ingorier'n niemals die Geister, mein Kind. Der Sturm hat dir das zweite Gesicht gebracht... nun will er dich weiter führ'n.«


Das Frostblau meiner Mutter wurde einen Moment eindringlicher, fast schon scheltend und unbewusst musste ich den Kopf ein wenig zurückziehen. Sie hatte jedoch recht und dem konnte ich mich nicht verwehren. Da war innerlich noch ein gewisser Widerstand. Ich wollte Thule nicht verlassen, aber ich konnte die Geister auch nicht ignorieren. Es mussten erst noch drei weitere Tage vergehen, in welchen ich mir den Kopf zerbrach und in denen immer wieder ein drängender Wind mich erfasste, ehe ich schließlich meine Sachen packte, um mit den nächsten Händlerschiff auf die Reise zu gehen. Die Händler sprachen von ihrem Ziel, einem Ziel mit den Namen "Grimlas Hain" und allein der Name schürrte in mir eine gewisse Sicherheit. Solche Orte trugen niemals umsonst solch kräftige Namen. Die Zeit würde also zeigen, was die Geister mit mir geplant hatten und ob "Grimlas Hain" wirklich der Ort war, an dem die Geister mich haben wollten.

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Veldys vom Askjell
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Re: Von Thule über das große Wasser

Beitrag von Veldys vom Askjell »

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Der Stamm von Askjell

Wie alles seinen Anfang nahm

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Die Vision:
“Ein gewaltiger Baum erstreckte sich in der Dunkelheit, dessen Stamm von zwei kräftigen Kerlen des Nordvolkes nicht einmal im Ansatz hätte umfasst werden können. Das knorrige Holz und die grobe Rinde schienen übersät von alten nordischen Runen und die Wurzeln glichen Bärenpranken die sich tief in das Erdreich gruben, als wären sie lebendig - unaufhaltsam und immer tiefer. Die im Wind singende und in der Dunkelheit leuchtende Baumkrone glich einem Kranz aus Gold und Silber, als hätten Sonne und Mond sich vereint, als würden die Spitzen der Äste sich mit den Himmelskörpern vereinen.
Es herrschte Dunkelheit, vollkommene Regungslosigkeit und vor dem gewaltigen Baumstamm, unter dem aschgrauen Banner eines grünen Baumes, standen eine handvoll markanter Kinder des Sarmatijasch.
Die mittlerweile bekannten opalblauen Augen des Eivinds mit den Namen Sighvardh starrten ihr entgegen, während sein Körper geprägt war von Runen, die man nur einem Jothar verleihen würde. An seiner rechten Seite stand der Sjaman Jorulfr und an dessen Seite die Skaldin Eevi, während zu seiner rechten Seite die Hathran Freydis und der Werager Veikr standen. Brat’acks und Eivinds vereint, unter dem Banner eines Baumes… aschgrau wie das Ufer des Vulkans auf Thule, grün wie das fahle Moos auf altem Gestein.
Ein Aufflammen in der Dunkelheit und das alte Symbol der Heimatstadt Askjell brannte sich in die Rinde des Baumes, knapp oberhalb von Sighvards Kopf...”


Mit einem schnappartigen Durchatmen erwachte die Hathran aus ihrem Schlaf, als hätte ihr jemand einen Eimer Eiswasser über den Kopf gegossen. Die Finger waren schwitzig, die Atmung unregelmäßig und sie brauchte einen Moment um sich zu orientieren. Die Augen verfingen sich auf dem nahen Geisterbaum und nur langsam beruhigte ihr Körper sich wieder, bis auch das letzte Zittern gewichen war.
Was für ein Traum war das gewesen?

Verunsichert starrte sie in die Krone des Geisterbaumes in Grimlas Hain hinauf, während sie an das dachte, was der Traum ihr gezeigt hatte. War das ein Blick in die Geisterwelt, eine Botschaft der heiligen Tiere, eine mögliche Zukunft? Träume zu deuten war nie einfach, aber dieser Traum war klarer als ihre anderen. Wie eine Anweisung und doch bereitete er ihr Unwohlsein. Das Verhältnis zwischen den Brat’acks und den Eivinds war nicht das Beste. Zwar wollte man sich nicht mehr so wie auf Thule umbringen und versuchte diesen neuen Kontinent als Neuanfang zu nehmen, aber die Fronten waren verhärtet.

Durch die Monate die sie nun mit dem bärenartigen Berserker der Eivinds auf diesem Kontinent verbracht hatte, hatte sie herausgefunden, das einige Geschichten nicht stimmten, welche die Stämme über den jeweils anderen erzählten und mittlerweile war da auch durchaus Vertrauen, welches sie Sighvardh entgegen brachte. Es war zwar noch ein zartes Band, welches jederzeit reißen könnte, doch als Hathran musste sie auch ihre Aufgabe ernst nehmen. Wenn die Geister ihr einen solchen Traum schickten und sie war der festen Überzeugung, dass jener von diesen stammte, dann war es ihre Pflicht diesen weiter zu geben. Sie war den Geistern verpflichtet. Das war unumstößlich. Sie würde also Sighvardh, den Johtar ihrer Vision, aufsuchen und ihm erläutern… was sie gesehen hatte.

Das Zusammenraufen:
Sighvardh hatte ihren Traum erstaunlich gut aufgenommen, nicht nur das, er gab zu, dass er bereits von etwas Ähnlichem geträumt hatte. Nicht so detailliert, wie die Hathran es gesehen hatte, doch der Eivind hatte von einem neuen Askjell, einer Wiedervereinigung der Blutlinien geträumt und die Worte gaben ihr die Sicherheit, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, die Vision weiter zu tragen.

Beide, Eivind wie Brat’ack, wussten nun, dass es der Wille der Götterwelten war, dass der alte Ruhm Askjells wieder auferstehen sollte. Das kam Ihnen auch durchaus gelegen, denn erst vor wenigen Wochen hatte die Wölfin, der Jothar der Thrymm’tack, ihnen gedroht und ihnen war klar geworden, dass sie nur durch einen Zusammenschluss gegen eine Drohung der Thrymm’tacks bestehen könnten. Ein Weib als Jothar, ein Weib welches einem Berserker drohte? Unvorstellbar.
Keiner der Eivinds oder Brat’acks konnte sich mit den Werten des Stammes von Thrymm’tack identifizieren und so wurden jene mit einer gewissen Skepsis betrachtet. Man wollte gewiss keinen Krieg, aber man würde seinen Anspruch klar und deutlich machen, dass man hier ebenso eine Heimat finden würde, wie der Stamm von Thrymm’tack.

Der Plan war somit klar, aber Sighvardh, wie auch Veldys, wussten, dass sie es den anderen Brat’acks und Eivinds beibringen mussten.

Zu der Überraschung der Hathran nahm Jorulfr die Nachricht wohl eher positiv auf. Überrascht, doch der Sjaman wusste, dass die Zeichen der Götterwelt nicht missachtet werden sollten und er hatte bereits in Vergangenheit damit geglänzt, dass er ein eher ruhigeres Verhalten gegenüber den Brat’acks an den Tag legte. Erstaunlich für einen Eivind, aber Veldys hatte die letzten Monate eh gelernt, dass die Eivinds nicht so waren, wie die Geschichten ihrer Kindheit sie glauben lassen sollten.

Drei stimmten zu… nun hieß es noch Eevi, Veikr und Freydis zu überzeugen, was schwieriger werden würde, denn Veldys wusste noch nicht so recht, ob die Abneigung vom Zeichen der Götterwelt überdeckt werden könnte, dass sie einen Eivind als ihren Jothar akzeptieren würden.

[...]

Wie zu erwarten war Veikr derjenige, der am wenigsten begeistert zu sein schien und vermutlich hätte er sich dagegen noch mehr gesperrt, wenn Eevi und auch Yndis, eine kürzlich angereiste Soeker der Brat’ack, nicht recht offen gegenüber dem Vorschlag waren. Beide schienen skeptisch und entsprechend auch nicht sonderlich begeistert, aber ein Zeichen der Götter durfte niemals ignoriert werden.
Es war besser mit dem Versuch, einen Stamm von Askjell wieder aufleben zu lassen, als sich weiter den Thrymm’tack unterzuordnen oder von diesen als ‘Stammlose’ angesehen zu werden. Sie hatten gewiss nicht die Absicht Thrymm’tack den Krieg zu erklären - ganz im Gegenteil, aber man würde auch nicht auf sich herum treten lassen.

Nach einer Weile der Diskussion und einem schlecht gelaunten Veikr, beschlossen sie also diesen Schritt zu versuchen, auch wenn der Werager der Brat’acks deutlich zu verstehen gab, dass er lieber stammlos wäre, als sich von einem Jothar der Eivinds ungerecht behandeln zu lassen. Veldys konnte das verstehen, doch mittlerweile kannte sie auch Sighvardh und sie wusste, dass er das alles ernst nehmen würde.

Das war also der Anfang. Der Anfang des Stammes Askjell. Ein Name aus vergangenen Zeiten, der wieder auferstehen sollte, in einem neuen Glanz, in einer neuen Stärke, fern von Thule. Unter dem Banner des Baumes, der Geister und der Ahnen. Askjell.

[...]

Es verlief gut. Nach und nach hatte der Stamm von Askjell sich in Grimlas Hain etabliert. Sie waren führend beim Ausbau des Hains gewesen, hatten tatkräftig dabei geholfen die neuen Höfe zu bauen - nein nicht nur das, die Brat'acks des Stammes lieferten auch das nötige Wissen, wie man die traditionellen Hütten des Nordvolkes baute. Sicherlich waren die Bergkinder und Goldweiber dabei nicht unnötig gewesen - ganz im Gegenteil. Jede helfende Hand war gut gewesen.
Veldys jedoch hatte vor allem das Handeln ihres Johtars im Auge, denn sie wollte, dass jener die Präsenz der Askjeller deutlich machte und vor allem wollte sie, dass der Stamm seinen Anspruch kundtat, nachdem die Bauarbeiten beendet wurden. Sicherlich keine Absichten oder Gedankengänge die einer Hathran in der Regel zustanden, aber sie glaubte, dass das genau das war, was die Geister wollten. Die Träume hatten es ihr gezeigt.

Und letztendlich war es auch soweit.


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Veldys vom Askjell
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Re: Von Thule über das große Wasser

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Der Stamm von Askjell

Die Wurzeln und die Saat

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In den letzten Mondläufen war vieles passiert, was ich so nicht erwartet hatte. Das wirre Netz aus verschlungenen Wegen und Hinweisen der Geister lichtete sich zwar ein wenig für mich, doch nicht in den Ausmaß, das ich von mir behaupten könnte, ich wüsste jederzeit, was in diesen vorgeht. Die Geisterwelt kommunizierte nicht direkt und nur selten schickten sie einen Traum, der wirklich frei von verschiedenen Deutungen war. Meistens waren ihre Hinweise nicht mehr als ein drückendes Gefühl im Magen, mal in der Brust, dann mal im Kopf, mal war es aber auch nur ein Wispern im Wind oder ein Rauschen der Blätter. Unzählige Hinweise, unzählige Geschichten und es war meine Aufgabe das daraus zu lesen, was für das Nordvolk am Wichtigsten erschien.

Die Entstehung des Stammes von Askjell war jedoch eine Deutung, bei der ich mir sicher war, dass sie kein Fehlschlag meinerseits sein sollte und die darauffolgenden Nächte und Sonnen ließen in mir die Gewissheit hinauf keimen, dass ich recht behalten sollte. Das Fundament des Stammes war gelegt, der Eivind zeigte sich als erstaunlich brauchbarer Johtar, etwas an das ich ohne die Geister niemals geglaubt hätte.

Die Gespräche mit der Wölfin verliefen, wie vermutet, mit einer feinen Nuance an Widerwillen, einen weiteren Stamm auf dem Kontinent verharren zu lassen, doch besaß Hir'da offenbar die Weisheit zu erkennen, dass das Nordvolk nur geeint überdauern würde. Keiner der Askjeller hatte das Verlangen die Thrymm'tacks auszulöschen, man wollte ein Zusammenleben was auf Unterstützung und Rückhalt aufbaute. Wie Sarmatijasch damals als Fjellrin die Stämme unter sich einte, denn auch der große Krieger wusste um diese Wichtigkeit des Zusammenhalts.
Wir überließen den Thrymm'tack die Aufgabe des Schutzes über Grimlas Hain, etwas, was sie offenbar geschworen hatten und so war es nicht unsere Aufgabe sich dort einzumischen – es sei denn unsere Hilfe wäre von Nöten und würde gewollt werden. Im Gegenzug dessen beanspruchten wir erfolgreich den Mooswald, Grimlas Geschenk an das Nordvolk, beseelt von allerlei wilden Naturgeistern, die es zu schützen galt. Nachdem wir unsere Wurzeln dort geschlagen hatten, war es jedoch an der Zeit einer der Aufgaben nachzukommen, für welchen Zweck sich der Stamm geformt hatte.

Den Stamm der Eivind und den Stamm der Brat'ack galt es nun zu vereinigen, der Bruderkrieg auf Thule zu beenden und all die festgefahrenen Ansichten, den Aberglauben und das Misstrauen zwischen den Stämmen zu beenden. Wir segelten deswegen ein weiteres Mal über das große Salzwasser, verließen die Wurzeln des neuen Stammes um in der alten Heimat die Saat des Neuanfangs zu säen. Wir teilen uns auf, Sighvardh und Jorulfr gingen zu den Eivinds, dort wo sie damals hervorgegangen waren und Freydis, Eevi und ich machten uns auf dem Weg zum Dorf der Brat'acks – unserer alten Heimat.

Ich hatte nicht erwartet, dass es einfach werden würde und obwohl ich von meinem Traum und den Geschehnissen auf dieser neuen Welt berichtete, schenkte man meinen Worten kaum Beachtung. Tief saß das Misstrauen und die Vorurteile die sich über Jahrhunderte fest im Wesen des Stammes verankert hatten, dazu kam, dass ich eine junge Hathran war, eine, die ihre Geisterprüfung noch nicht abgeschlossen hatte. Mir wurde vorgeworfen es falsch gedeutet zu haben, manche behaupteten die Eivinds hätten einen dunklen Geist über uns kommen lassen und wieder andere sagten, ich hätte das Auge vor der Wahrheit verschlossen. Auch die Hilfe von Freydis und Eevi war kaum mehr als ein Tropfen auf einem heißen Stein und es dauerte Monde bis ein paar wenige in ihrer Meinung zu Schwanken kamen. Man forderte von mir die Geisterprüfung abzulegen, doch ich weigerte mich jene in der alten Heimat zu vollziehen. Wenn, dann würde ich den Schritt zu einer vollwertigen Hathran dort vollziehen, wo mein Stamm Zuhause war und mein Stamm war nicht mehr jener der Brat'ack, sondern Askjell. Vermutlich auch ein Punkt der den Ärger in Vielen schürte.

Nach all der Zeit entschlossen sich ganze zwei Brat'acks sich uns anschließen. Runar, ein Jungsjaman, gerade erst im Anfang seiner Ausbildung und Vibeke, eine fleißige und doch noch junge Skape, die viel zu lernen hatte.
Viel zu lange waren wir nun schon auf Thule und ich sah nicht, dass sich der nächste Erfolg so schnell noch einmal herauskristallisieren würde. Ich hoffte das Sighvardh und Jorulfr mehr Erfolg bei den Eivinds hatten, doch irgendwie bezweifelte ich es. Die anderen beiden beschlossen auf Thule zu bleiben, sie wollten versuchen durch steten Tropfen weitere Erfolge zu erzielen, doch ich machte mich mit den beiden neuen Mitgliedern auf zu unserem Schiff. Wir warteten dort einen knappen Wochenlauf, bis Sighvardh in Begleitung eines neuen Gesichtes zurückkehrte. Njalsten, ein Werager der Eivinds, konnte wohl überzeugt werden, mehr aber auch nicht... und auch Jorulfr hatte beschlossen noch auf Thule zu bleiben.
Ich weiß nicht, warum ich in diesem Moment die Enttäuschung gefühlt hatte, wo ich doch eigentlich nichts anderes erwartet hatte?

Nachdem wir das große Salzmeer erneut überquert hatten, um wieder in Grimlas Hain anzukommen, wurden wir mit neuen Herausforderungen begrüßt. Dinge hatten sich geändert, die Geister waren unruhig und ich wusste, dass es Zeit war mich auch der Prüfung der Geister zu stellen. Es schien nun dringender als zuvor, nicht nur für meinen Stamm und auch um meine Selbstzweifel zu beseitigen, sondern auch um die Unruhe der Geister besser handhaben zu können. Der Krieg der auf diesem Kontinent wütete war besorgniserregend und ich beschloss somit meinen Fokus gänzlich darauf zu legen, näher an die Geisterwelt und ihren wirren Zeichen zu kommen.

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Veldys vom Askjell
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Re: Von Thule über das große Wasser

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Der Abschluss eines Weges

Die Geisterprüfung

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Etwas mehr als einen Mondlauf war vergangen, seitdem ich mich wieder auf den Weg über das große Salzwasser gemacht hatte, um zu den Wurzeln des Stammes zurückzukehren. Jetzt, wo ich wieder dort war, wo ich meine Wurzeln geschlagen hatte, gab es jedoch einiges anzugehen und zu erledigen. Die Geisterprüfung, zu welcher ich auf Thule gedrängt wurde, musste nun absolviert werden und doch hatte ich noch nicht so wirklich eine Ahnung, was das bedeuten würde. Natürlich war ich schon oft dabei gewesen, wenn andere sich aufgemacht hatten um diese Prüfung hinter sich zu bringen und auch hatte ich von ein paar wenigen eine Geschichte darüber gehört – aber jede Hathran musste letztendlich diesen Weg selber gehen.

Ich verbrachte also viel Zeit damit allein an Geisterorten zu verweilen um zu lauschen,... allem was ich mitbekam. Ich suchte nach Antworten im Rauschen des Windes, lauschte nach einem Flüstern im Rascheln der Sträucher und brachte regelmäßige Opfer dar. Ich hielt mich weitestgehend vom Stamm fern, um mich vollends auf die Geisterwelt zu konzentrieren und mied bis auf wenige Ausnahmen jeglichen Kontakt, um mich nicht ablenken zu lassen. Ich suchte im ewigen Eis nach Anzeichen, kletterte die steinigen Gipfel hinauf um dort zu sein, wo der Adler in seiner Präsenz am stärksten war – nur um nichts zu erkennen oder nichts zu hören.

Frustrierend.

Ich wusste jedoch, das Zweifel nicht angebracht waren und wenn ich noch immer keine Zeichen geschenkt bekommen hatte, dann lag es entweder daran, dass ich noch nicht so weit war, oder aber daran, dass der Adler meine Beharrlichkeit prüfte. Der Adler, das wusste ich, war auf seine Art härter als die anderen Drei. Während Grimla für Fruchtbarkeit und Leben stand, Asagard für Jagd und Zerstörung und Kovakarhu für das Gleichgewicht der Dinge, war der Adler der Bote des Todes und der eisigen Kälte. Ein Weltenwanderer, ein Fährmann, ein stiller Beobachter. Wie konnte ich mich dem Weltenwanderer als würdig erweisen? Was wollte er von mir?

Über einen Wochenlauf behielt ich meine Routine aufrecht, allein verharrend, nach Zeichen suchend, an den verschiedensten Kraftorten kleine Opfer bringend. Mal verbrachte ich Stunden damit einen Geisterfänger zu basteln, der mit den schönsten und kunstvollsten Adlerfedern verziert war, um ihn in die höchsten Spitzen der Baumkronen zu hängen, mal war es mein eigenes Blut, welches ich unter leisen Murmeln und Anrufungen an die Geister zwischen die Wurzeln der Geisterbäume gab.

Dann war es endlich soweit.

Es war in der Nacht, nachdem ich die Geister, insbesondere Asagard, um einen Segen für unseren Johtar geben hatte, auf dass er die Berserkerweihe überstehen würde, um nicht nur noch stärker aus jener hervor zu gehen, sondern auch um ihm die Weisheit und Willensstärke zu verleihen ein guter Rudelanführer zu sein.

Sighvardh hatte einen speziellen Dolch gefertigt, dessen Griff aus dem Knochen eines selbst erlegten, riesigen Wolfes stammte und der grobschlächtige Kerl hatte sich die Zeit und Mühe gemacht diesen zu verzieren. Erstaunlich fein für die Pranken des Johtars, wenn auch noch lang kein Kunstwerk. Das musste es aber auch nicht sein. Für die Geister zählte der Wille, die Geste und die Aufopferung. Ich nutzte den Dolch um erst mein, dann sein Blut über den Geisterbaum in das Geisterreich zu schicken, während ich nach Asagards Anwesenheit rief. Zwei Stücke der blutigen Rinde des Baumes wurden schließlich mit den leisen Runenwörtern „Algiz Fehu“ zu Asche verwandelt, damit die Asche Teil des farbigen Pflanzensafts werden konnte. Sorgsam nutzte ich die nachtblaue und die blutrote Farbe um neben einer Wolfstatze auch drei alte Runen – Isa, Uruz, Nauthiz - auf den Leib des Johtars zu zeichnen. Jede der Runen sollte eine Bitte in das Geisterreich darstellen um den Johtar die Kraft und den Willen für die kommenden Prüfungen zu geben.
Ich spürte, wie so oft in diesen kleinen Ritualen, die Anwesenheit der Geister und ich wusste, dass sie mir wohlgesonnen waren. Nicht umsonst hatten sie mir diese Fähigkeiten verliehen und nicht umsonst, hatte Grimla selber mir einst die Ehre erwiesen.

In dieser Nacht hatte ich einen Traum und jede Hathran wusste, dass ein Traum nicht einfach nur ein Traum war. Es waren Hinweise der Geister.

» Ich war ein Adler und spürte die Winde unter meinen ausgebreiteten Flügeln, ich fühlte die Kälte über das Federkleid streichen und doch konnte sie mir nichts anhaben. Ein Gebirgskette zog sich unter mir entlang und doch war ich auf einem Auge blind. Ich konnte nur die Hälfte von dem sehen, was sich vor meinen Augen abspielte. Ich setzte schließlich zur Landung an und nahm Platz auf einem vereisten Gipfel, von dem aus ich über eine schneeweiße Landschaft blicken konnte – in der Ferne ein grüner Hauch, vielleicht Grimlas Hain? Es war schwer mit einem Auge zu sehen.«

Als ich aufwachte blieb der Traum wie in einer schummrigen Sicht erhalten und ich fühlte mein Herz wie wild in der Brust klopfen. Es war klar, dass ich diesen Gipfel finden müsste, denn offenbar wollte der Adler mich dort haben. Die darauf folgenden Tage verbrachte ich damit, mir Gedanken zu machen, wo genau dieser Gipfel sein würde, denn die Gebirgskette war immerhin gigantisch. Viel Zeit verbrachte ich damit durch das ewige Eis und die Gebirgszüge zu wandern, bis ich irgendwann auf halber Höhe eines Berges einen Gipfel mit schneeweißer Spitze erblickte. Mein Herz machte ein Rumpler und instinktiv wusste ich, dass dies der Berg sein musste. Ich fühlte förmlich wie die Geister mich dort hin zogen.
Ich begann unverzüglich mit dem Aufstieg. Je höher ich kam, je mehr fraß die Kälte sich durch meine Glieder. Irgendwann war ein normales Vorankommen nicht mehr möglich und so kletterte und kletterte ich. Immer höher. An manchen Stellen war der Stein so scharf, dass er mir in die Handflächen schnitt – doch die Kälte betäubte den größten Teil des Schmerzes. Es war viel mehr die Erschöpfung die sich zügig in meinem Körper breit machte. Jeder Atemzug der eisigen Luft brannte in den Lungen, jeder Muskel schmerzte und eigentlich wollte ich nur noch schlafen.

Ich weiß nicht, ob es Einbildung war, oder ob ich zwischen dem kalten Wind etwas hörte, was wie ein Flügelschlag klang, was mich dazu brachte weiter zu klettern. Der Wind, in welchem sich Eiskristalle vermehrt verwirbelten, wurde immer stärker und letztendlich, als ich den Gipfel erreichte, konnte ich durch diesen kaum in die Ferne blicken. Meine Hände waren blutig und blass, jeder Atemzug schmerzte und die Anstrengung hatte sich mittlerweile in einer starken Übelkeit manifestiert. Der Gipfel war vollständig mit Eis und Schnee überzogen und doch ruhte dort auf einem Stein die schneeweiße, zum größten Teil vereiste Statue eines Adlers. Es verwirrte mich. Wie der Steinwächter Halvard, der lange Zeit unter dem Fels vergraben gewesen sein musste, so musste diese Statue hier schon eine Ewigkeit, vergessen durch die Zeit, stehen. Ein Platz an welchem die Ahnen zum Adler gefunden hatten? Meine Knie zitterten und doch ging ich langsam weiter auf die Statue zu, befreite sie mit steifen Händen vom Schnee und dann war da etwas, was durch meine Gedanken zuckte. Kein Traum, immerhin war ich wach. Mehr eine Eingebung, ein Bild, eine Forderung?

» Ein schneeweißer Adler starrte mich direkt vor meinem inneren Auge an. Kein einäugiger, wie aus meinem Traum, sondern der Adler besaß zwei klare, frostblaue Augen. Mein Frostblau... und wie bei mir, war das linke Auge von einer Narbe geschmückt. «

Ich starrte die Statue des Adlers an und blickte zum Himmel, von dem ich ob des eisigen Schneewindes noch immer nichts sehen konnte. Da keimte eine Befürchtung tief in meinem Inneren herauf, von der ich auch hoffte, dass sie nicht wahr sein würde, allerdings kannte ich den Adler, ich kannte seine Art, wusste um die Bedeutung und doch haderte ich. Wie sollte ich ohne Augen leben?

„Das kann neyt dey ernst sein...“

Flüsterte ich im Wind und die einzige Antwort die ich bekam war das Heulen von diesem... und vielleicht wieder ein Flügelschlag? Oder es war Einbildung ob der Erschöpfung.

„Erst nimmst dey mir das eine... um mir das zweite Gesicht zu geben und nun willst dey mir das zweite auch noch nehmen...wofür? Damit jeg dey beweise, dass jeg es würdig ist dey zu dienen? Damit dey meine Seele an dich reißen kannst, ehe meine Zeit gekommen ist?“

Stille. Ich wusste, ich würde keine Antwort bekommen. Das war Teil dieser Prüfung. Eine Entscheidung würde mir nicht abgenommen und die Lösung nicht wie bei einem Welpen kleingekaut vorgeworfen werden. Hier Oben könnte ich es jedoch auch nicht vollziehen, ich würde ohne mein Augenlicht den Weg niemals wieder hinunter finden. Mit einer aufkeimenden Verzweiflung macht ich mich daran den Weg wieder hinunter zu klettern. Ich hatte das Gefühl, der Wind würde mich begleiten, als würde er mich hinab schieben wollen und doch schenkte ich dem keine große Beachtung. Meine Gedanken kreisten. Was würde es bedeuten blind zu sein? Was würde es bedeuten die Geisterprüfung nicht zu bestehen? Eigentlich wusste ich die Antworten darauf, ich hatte mein Leben den Geistern verpflichtet, ich hatte Verbindungen und Führungspositionen abgelehnt, verweigerte großen persönlichen Erfolg oder Besitz– denn mein Leben galt den Geistern und genau das wollte der Adler nun von mir. Ein Teil meines Lebens. Mein Augenlicht. Vollständig. Was er damit wollte? Das wusste ich nicht, aber an den Augen hafteten auch die Seele, vielleicht hatte es damit etwas zu tun, aber das wusste ich nicht.

So sehr mit meinen Gedanken beschäftigt, hatte ich gar nicht mitbekommen wie zügig der Abstieg vorangegangen war und als ich wieder sicheren und standfesten Boden unter den Füßen hatte, lenkte ich den Blick hinauf zum Gipfel. Noch immer schwirrte der eisigen Wind, mit seinen verwirbelten Eiskristallen, um mich herum und noch immer bildete ich mir ein, ab und an das Flügelschlagen zu hören.

„Bra Adler... dey bekommst, was dey haben willst. Jeg bin dey Dienerin und jeg glaub' an dey, wenn dey es für wichtig und richtig hälst. Soll das meine Prüfung sein, dann nehm dey auch mein zweites Auge.“

Ich starrte hinauf zum Gipfel, während ich spürte wie der Eissturm um mich herum wieder stärker wurde, an den Fellen an meinen Leib zerrte, als würde er mich mit sich reißen wollen. Die schmerzenden, aufgeschnittenen Hände spürte ich weiterhin nur taub und träge, meine Knie fühlten sich noch immer schwach und weich an und jeder Atemzug kostete mich Kraft. Aber ich war entschlossen.

Mein Leben für die Geister.
Mein Leben für den Adler.
Ich würde eine gute Hathran, eine gute Dienerin der Geisterwelt sein.


Immer stärker wurde der Wind, immer schärfer die Eiskristalle in diesem, die dort, wo meine Haut frei war, unsanft an jener vorbei schrammten. Es erinnerte mich an Thule, an dem Tag und dem Sturm, an dem ich mein erstes Auge verlor und ich hatte somit eine Ahnung, was passieren würde. Es dauerte auch nicht lange, bis diese Ahnung bestätigt wurde, während ich auffordernd zum Gipfel hinauf starrte. Wie tausend kleine, spitze Nadeln bohrten sich die Eiskristalle in die rechte Seite meines Gesichts, trafen das Auge, hinterließen ein brennenden und warmes Gefühl von Blut im Winter. Ich hielt dem Schmerz stand, war mein Körper ohnehin taub und ausgelaugt und es dauerte nicht lang, da war ich gänzlich in Schwärze getaucht und dann... vernahm ich den Schrei eines Adlers.

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Sighvardh vom Askjell
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Re: Von Thule über das große Wasser

Beitrag von Sighvardh vom Askjell »

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Der Pfad des Berserkers

Die Geistersegnung

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Die Ungewissheit, ob ein Opfer vor den Augen der Ahnen und Geister als ausreichend empfunden wurde, entlockte meinem Inneren immer schon eine Unruhe, die nur sehr langsam schwand. Mir war es stets wichtig, beide Aspekte in mich zu vereinen und keine der beiden geistlichen Parteien zu verärgern.

»Die Geister stecken überall und wenn wir was nehmen, dann müssen wir auch etwas zurückgeben, denn nichts ist umsonst.«

So oder so ähnlich hallten die Worte der Geisterfrau in meinem Kopf und erinnerten mich daran, dass ein Opfer nichts war, dass man nur von Zeit zu Zeit erbrachte, sondern regelmässig getan werden musste. Eine Ermahnung, die ich mir zu Herzen nahm und erfüllte, indem ich das Blut meiner Gegner oder Erjagtem sammelte und mithilfe von Veldys den Geistern opferte. Doch jenes mal sollte es kein einfaches Tierblut sein oder solches von Wesen, die ich geschlachtet habe. Nein, an jenem Abend bat ich die älteste Hathran darum, mich mit dem Segen der Geister zu belegen, damit sie mir bei der bevorstehenden Berserkerprüfung beistehen würden.
Für diesen Zweck schuf ich einen Dolch aus dem reinsten Silber, das ich fand. Auf der flachen Klinge stanzte ich, so gut es mir aus meinem Gedächtnis heraus und den grossen Pranken möglich war, das Abbild des Fjords ein, der sich am Fusse der Ruinenstadt Askjell auf Thule bis hin zum Meer erstreckte. Den Griff des Dolches wiederum fertigte ich aus den gelagerten Knochen eines Wolfes, den wir vor geraumer Zeit geschlachtet haben, damit ich sichergehen konnte, dass kein Stück dieses heiligen Tieres verschwendet wurde.
Der Dolch stand im Grunde symbolisch für die Zeit, die ich den Geistern widmete und sollte gleichzeitig dazu dienen, mit einem Schnitt in die Handinnenfläche, mein eigenes Blut als Opfer darzubringen.

Veldys Frage, welchen Segen der Tiertotem ich mir wünsche, brachten mich zuerst ins Grübeln. Meine Wahl fiel auf den goldenen Bären Kohakarhu. Bewahrer des Gleichgewichts. Er symbolisiert den Ausgleich, nimmt niemals mehr als er braucht und lebt im Einklang mit der Natur. Ruhig und friedlich soll er sein, doch auch stark und mächtig, wenn er es sein muss. In meinen Augen war es eine passende Eigenschaft für einen Johtar, der im Laufe seines Lebens seinen Stamm mit Strenge und Güte gleichermassen führen müsste. Doch es kam anders. Denn die Hathran wusste um meine Geschichte. Wusste, dass mein Inneres nach Asagard verlangte. Dass das Blut der Eivinds in mir floss, das mit dem Vater der Wölf in Verbindung gebracht wurde. So konnte ich nicht anders, als ihr zuzustimmen und erkannte einmal wieder, dass das Geisterweib besser als ich wusste, was ich brauchte.

Während das Gespräch zwischen uns stattfand, holte die Hathran zwei Schalen hervor und gab in beide verschiedene Farbpigmente hinein. In eines dunkelrotes, wie Blut, in das andere ein nachtblaues, wie der Abendhimmel. Durch die Zugabe von Wasser und unter stetigem Rühren mithilfe eines kleinen Astes, brachte sie die Substanz in einen cremig-flüssigen Zustand. Sie sagte mir dann, ich solle tun, was sie mir sagt, was ich als eine indirekte Aufforderung nahm, zu schweigen.

Was sich daraufhin abspielte war etwas, dass ich mein Leben lang nicht vergessen würde. Das Geisterweib rief Asagards Namen laut, deutlich und fordernd, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Sie gab ihr Blut, legte die Hand an den Baum und forderte mich dann auf, gleiches zu tun. Sie nutzte die mir so fremden Worte der Macht, um den Segen des grossen Wolfes einzufordern, seine Aufmerksamkeit auf mich und meine bevorstehende Prüfung zu verlagern. Im ersten Moment geschah nichts, doch dann begann das Feuer zu schrumpfen, schwächer zu werden als legte sich eine Dunkelheit über den Platz. Ich nahm es gerade erst wahr, da brachte der nächste Windzug ein Heulen mit sich. Eine Gänsehaut breitete sich über meinen Körper aus, während ich Veldys dabei zusah, wie sie die Farbpaste mit weiteren Zutaten, mitunter auch der Zugabe ihres Blutes, präparierte.

Als sie schliesslich ihr Werk vollendet hatte, drückte sie sich in den Stand auf und begann damit ihre Finger in die Schüssel zu geben, damit sie die Farbe auf meinem Körper auftragen konnte. Sie begann mit dem Abdruck einer Wolfspfote auf der linken Brust, die vermutlich für Asagard stand und fuhr dann damit fort, weitere Runen auf meinen Leib aufzutragen und im gleichen Zuge den Segen des Wolfes zu erbitten. Jeder dieser Symbole hatte eine Bedeutung, Eigenschaften, um die sie bat, die Asagard mir schenken sollte, um mich bei der bevorstehenden Prüfung und darüber hinaus zu unterstützen.

Ich fühlte eine gewisse Faszination für Veldys Werk und Wissen in diesem Moment und bewunderte es, dass sie die Anrufung so selbstsicher durchführte. Umso mehr stieg die Freude und Erleichterung, dass unser Stamm eine Hathran besass, die wusste, was sie tut.
Ehrfurcht vor dem anwesenden Kind Grimlas mischte sich dazu, aber auch eine gewisse Neugier, die damit einher kam selbst kennenzulernen, wie es sich anfühlen musste in der spürbaren Präsenz eines der Totemtiere zu sein.

Ein letztes Grollen war zu hören, dann schien alles wieder wie vor der Anrufung. Nach dem kleinen Ritual fühlte ich mich selbstsicher und erwähnte dies auch wiederholt gegenüber des Geisterweibes. Sie mahnte mich davor, zu selbstsicher zu sein und nachdem ich ihr zunächst widersprach, weil ich dachte, dass ich mit einem Segen des grossen Wolfes nicht scheitern könnte, ermahnte sie mich durch eine Backenpfeife, die bevorstehende Prüfung nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Wieder einmal schluckte ich meinen Stolz herunter und versicherte ihr, dies nicht zu tun – denn wie sich herausstelle, würde die Prüfung ein ganz anderes Ausmass annehmen, wie auf Thule.

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