Mit zunehmender Unruhe wurde dem letzten Tag der Woche regelrecht entgegengefiebert. Seit ihrer Ankunft in Grimlas Hain hatte sie schon einiges erlebt, doch die Ereignisse der letzten Tage hatten alles bisher Dagewesene in den Schatten gestellt. Wer konnte schon von sich behaupten, Zeuge von so etwas Einmaligem geworden zu sein? Zumindest Yndis’legjar kannte niemandem, der etwas Vergleichbares zu berichten gehabt hätte..
Freilich hätte sie es niemals offen zugegeben, doch sie hatte es zu Beginn ein klein wenig mit der Angst zu tun bekommen, als klar wurde, dass es sich nicht um gewöhnliche Gesteinsbrocken handelte, die sich von den Gebirgshängen gelöst hatten und rumpelnd hinabkullerten. Aus der Ferne kündeten Geräusche von aufeinander krachenden Felsen, die aller Wahrscheinlichkeit nach, in der Folge schließlich auch auseinanderbrachen.
Es hätte sie bereits skeptisch machen sollen, dass es ungewöhnlich still im Dorf der Nordmänner- und Frauen gewesen war, doch ihre Aufmerksamkeit hatte zunächst der ihr noch unbekannte Jungsjaman Haraldt auf sich gezogen. Doch spätestens, als die beiden Sjaman von offensichtlicher Schwäche erfasst wurden und ins Taumeln gerieten und zu allem Überfluss dann auch noch die vermeintlich harmlosen, in den Talkessel hinabgerollten, Gesteinsbrocken „zum Leben erwachten“ und auf die kleine Gruppe losgingen, wurde der jungen Soeker dann doch mulmig zumute!
Kurz schauderte sie beim Gedanken daran erneut und fuhr damit fort, die Klinge des Dolches zu schärfen. Diese Steinwesen hatten nur eine kurze Unterbrechung dargestellt – zum Glück war niemand zu Schaden gekommen! – sodass man zügig aufbrechen konnte, um dem Ruf, den die Schamanen offenbar vernahmen, zu folgen.
Kurz hatte sie vermutet, dass die Zwei sich lediglich wichtigmachen wollten, denn sehr hilfreich waren diese beiden Kerle anfangs nämlich nicht gewesen!
Zuerst hatte es auf Yndis gar den Eindruck gemacht, als schliefen die Kerle mit offenen Augen.
Während Sighvardh, der Johtar der Askjeller, und sie selbst, sich damit abmühten, den Weg, der zu einem Plateau im Südwesten führte, von Geröll zu befreien, sodass man zu diesem vorrücken konnte, standen sie ihnen bloß im Weg herum.
Kurzerhand quetschten sie sich an den Beiden vorbei, offensichtlich war es unerlässlich das Plateau zu erreichen, denn von dort vernahmen die Sjaman den Ruf.
Aber letzten Endes musste sie einsehen, dass sie doch von Nutzen waren- wenngleich es auch diese anfänglichen Schwierigkeiten gegeben hatte. Die Erde hatte inzwischen mehrfach gebebt und nach und nach eine Steinstatue freigelegt. Halvard, Sarmatijasch’s Berater, war dort offensichtlich nachgebildet worden.
Ungeduldig hatten Sighvardh und Yndis mitverfolgt, wie die Sjaman die Statue, die links und rechts von Säulen flankiert war, auf denen der Mond und die Sonne abgebildet waren, und an dessen Sockel sich eine Vielzahl Runenzeichen befanden, in Augenschein genommen hatten. Fast schon augenrollend hatte sie mitverfolgt, wie sie eine Anrufung der Ahnen vorgenommen und ihr die genauere Sicht darauf versperrt hatten – doch, natürlich, war dies erfolglos geblieben.
Kurzzeitig war die Anspannung, die das Ganze mit sich brachte, sogar von ihr abgefallen, da Valkar, sich erdreistet hatte, den Johtar loszuschicken, ihm einen der Felsbrocken, die sie soeben mühevollst zur Seite geschafft hatten, zu holen. Mit äußerster Belustigung hatte sie beobachtet, wie der Johtar, zwar brummelnd, aber schließlich der Bitte doch nachgekommen war.
Sighvardhs Einwand, dass die Ahnen keine Steine, sondern Blut wollten, war berechtigt und hatte letztendlich dem Sjaman auf die Sprünge geholfen, denn dieser hatte sich im Anschluss tatsächlich einen tiefen Schnitt in der Handfläche zugefügt und den kostbaren Lebenssaft auf die Statue tropfen lassen. Der Stein hatte das Blut wie ein Schwamm aufgesogen und auf wundersame Weise hatte Leben Einzug in die Statue gehalten.
Der Anblick, der sich ihnen dann geboten hatte, ließ sie zuerst erstarren und, nachdem der erste Schrecken überwunden war, ehrfürchtig das Knie beugen lassen- denn es war nicht nur eine sehr detailgetreue Nachbildung des Steinwächters, sondern der Ahne höchstselbst, der ihnen nun gegenüberstand und winzige Steinchen abhustete und mit tiefer Stimme verkündete, dass dem Nordvolk drei Prüfungen bevorstanden.
Mit gewisser Spannung erwartete sie also die Versammlung am Abend, die Sighvardh einberufen hatte. Wer wohl alles dem Ruf folgen würde? Immerhin betraf es alle Nordmänner- und Frauen gleichermaßen. Es ging schließlich darum, den Ahnen zu zeigen, dass man verdient hatte, in ihrer Gunst zu stehen.
Der Wächter hatte bereits von der ersten Prüfung gesprochen, bevor er wieder ergraute und versteinert war: Die Rede war von einer Prüfung zu Ehren Aeiti‘s, die auf dem Rücken Grimlas über die Welt ritt, gewesen. Eine Prüfung des Kopfes, aber auch eine Prüfung des Quells und der Hände, um der Ahnin zu zeigen, was es den Kindern Sarmatijasch’s bedeutete, geschickt zu sein.
Nun, es würde sich zeigen, was die Zukunft bringen würde, aber - ganz ohne Zweifel - die Kinder Sarmatijasch’s würden sich diesen Prüfungen furchtlos entgegenstellen und sich würdig erweisen, dessen war sie sich ganz sicher.