Auf schwarzen Schwingen
Verfasst: 19 Feb 2023, 12:41
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"Das eigne Leid muss klein dir scheinen,
wenn du bedenkst das Weh, die Not,
wodurch viel tausend Augen weinen!
Wenn du von aller Schmerz den deinen
nur kennst, so bist du seelisch tot."
Christian Morgenstern
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Prolog: Die Kindheit
Es gab nicht viele Details, an die sie sich aus ihrer Kindheit erinnerte. Das würde man wohl Kunst der Verdrängung nennen, denn im Grunde waren es “Hunger, Schmerz und Kälte", die sich vorherrschend, wie unliebsame Gäste, in ihrem Gedächtnis festgesaugt hatten. Sie waren arm gewesen, fürchterlich arm, sodass sie froh sein konnten, wenn es am Tag überhaupt eine Mahlzeit gab. So arm, dass ihr Zuhause mehr einem Bretterverschlag glich und es mit zwei zugedrückten Augen wohlwollend noch Hütte genannt werden konnte.
Dieser Umstand hätte vielleicht mit Liebe und Fürsorge der Eltern abgeschwächt oder gar aufgewogen werden können, doch die Eltern waren noch kälter als der Winter und noch verrotteter von innen, als es die alte Hütte war. Der Vater, ein ständig betrunkener, und äußerst grobschlächtige Mann, fand nicht nur im Alkohol sein Ventil für sein klägliches Leben und Versagen in diesem, nein auch die Hand, welche gegen die Kinder erhoben wurde, war ihm offenbar eine willkommene Befriedigung. Die Mutter? Sie sah stets zu. Bis heute ist es ungewiss, ob es ihr leidtat, oder ob sie, wie auch ihr Mann, den Kindern die Schuld an ihrer Situation gab.
Die einzige menschliche Nähe, der einzige Funken an Zuneigung, den Aastha in ihrer Kindheit erfahren konnte, war vermutlich durch ihren größeren Bruder. Lucianus war jedoch nicht der strahlende Held dieser Geschichte, denn Mitleid oder tiefgreifende brüderliche Zuneigung durfte sie von diesem niemals erwarten. Es war eher ein verworrenes Konstrukt, wie sie zueinander standen, denn auf der einen Seite passten sie aufeinander auf, doch auf der anderen Seite war die Kälte deutlich zu spüren. Als sie noch kleiner war, hatte es Aastha unfassbar traurig und verzweifelt gemacht, warum ihr Bruder sich so verhielt, doch je älter sie wurde, desto mehr verstand sie dessen Denkweise. Es war ein Schutz.
Wenn Lucianus sich mal wieder dem Prügel des Vaters gestellt hatte, damit seine kleine Schwester nicht ins Visier kam, tat er das sicherlich mit dem Wissen, dass Aastha es nicht überleben würde. Doch wenn sie es wagte, ihm etwas von ihrem kläglichen Essen anzubieten, wo er als weitere Strafe keines bekommen hatte, konnte sie sich sicher sein, dass sie auch seine Hand oder zumindest scharfe Worte zu spüren bekam. Sie sollte stärker werden, am besten genauso stark wie er. Anders würden sie es nicht überleben. Das war beiden bewusst und doch glaubte Aastha manchmal, dass es Lucianus im Grunde vollkommen egal war. Überlebte sie es, war es gut, tat sie es nicht, schien es ihm auch nicht sonderlich leidzutun. Gerade in jüngeren Jahren hatte sie Schwierigkeiten, aus den Handlungen des großen Bruders schlau zu werden und immerhin war er die einzige Bezugsperson, die sie irgendwie in ihrem Leben zu diesem Zeitpunkt erwarten konnte.
Einen Umschwung in ihrem Leben gab es erst, da musste sie etwa zwölf Jahresläufe alt gewesen sein. Es war recht schwer, denn Geburtstage gab es nicht und irgendwann war ihr Alter so irrelevant geworden, dass sie nicht wirklich darauf geachtet hatte, wie viele Jahre sie in diesem Loch schon lebte.
Dieser Abend jedoch brannte sich in ihr Gedächtnis und niemals würden sie ihn vergessen, dabei fing er an, wie jeder andere auch. Ein schlecht gelaunter, betrunkener Vater, der wütend durch die Hütte polterte, während Aastha sich in einer Ecke des Hauses versteckte, damit sie nicht in sein Visier kam. Lucianus hatte nicht so viel Glück, oder tat er es absichtlich, damit die kleine Schwester nichts abbekam? Während die Schreie und das Poltern das Haus erfüllten, konnte sie nicht anders, als sich die Ohren zuzuhalten und einfach zu hoffen, dass es bald enden würde. Aber plötzlich störte etwas diese so vertraute Geräuschkulisse. Die Schreie wurden panisch, nicht Lucianus seine. Die ihrer Eltern. Durch die zusammengekniffenen Augen sah sie das Flackern von Feuer und der Geruch von eben diesen drang ihre Nase. Hitze bildete sich in der Hütte, drang wie eine beißende Decke in jeden Winkel von dieser.
Vorsichtig hatte sie es gewagt, einen Blick auf die Szenerie zu lenken… und dann war sie vollkommen gefangen davon. Ihre Eltern standen in Flammen, in Panik schreiend, um Hilfe bettelnd und Lucianus stand einfach davor, rührte sich keinen Meter. Das, was sie von seinem Gesicht erblicken konnte, war kalt und ungerührt wie eh und je, als wäre da nicht ein Funken an Mitleid zu erkennen. Wie hatte er das angestellt? Wie hatte er die Eltern in Brand gesteckt?
Das Gefühl, welches sich in Aasthas Brust und Kehle breit machte, war schwer zu identifizieren und resultierte in einem nervösen, mehr erstickten und doch erleichterten Auflachen, als könnte ihr Körper gerade nichts anders darstellen, wie erleichtert sie war, die Fesseln gesprengt zu haben. Panik, Angst und Hoffnung ergaben eine merkwürdige Mischung, die ihr drohte, die Kehle direkt wieder zuzuschnüren und sie für den Moment nicht weniger handlungsunfähig machte, wie ihren Bruder.
So regungslos wie Lucianus die ganze Zeit dem Verenden der Eltern zugesehen hatte, so hektisch wurde er im Anschluss. Er reagierte nicht auf Aasthas Nachfrage und ehe sie es richtig fassen konnte, was er vorhatte, war er verschwunden, nachdem er sie unsanft zur Seite gestoßen hatte. Er verschwand… ging einfach und ließ sie hier zurück. Ihr Bruder ließ sie ernsthaft in diesem Heim aus Moder, Asche und Feuer zurück. Sie war zu fassungslos und verzweifelt, als dass sie für diesen Moment einen klaren Gedanken fassen konnte, doch als der Rauch ihr das Atmen erschwerte und sie endlich an die kalte Nachtluft trat, wurde sie bereits von der Miliz empfangen. Natürlich hatten sie das Feuer bemerkt.
Aber Aastha war das im Moment egal, sie konnte im Grunde nur einen klaren Gedanken fassen:
Ihr Bruder hatte sie ernsthaft zurückgelassen.