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Die Dosis macht das Gift

Verfasst: 21 Jul 2023, 14:54
von Mayla
Sie hatten die Zeichen der Zeit erkannt. Das war nicht sonderlich schwer, viel zu deutlich konnte jeder Bewohner der Lande diese erkennen, tagtäglich, direkt am eigenen Leib.
Die Detonation der Wettermaschine war fast überall zu hören oder zu spüren gewesen und wenn man morgens vor die Tür trat, konnte einem trotz der Jahreszeit Schnee ins Gesicht wehen, nur um einen Augenblick später von strahlendem Sonnenschein abgelöst zu werden, welcher sich kurz danach in einen ordentlichen Regenguss verwandelte.
Konnten Optimisten nach der Schlacht auf der Augeninsel vielleicht noch hoffen, dass alles wieder gut werden würde, so musste man nun unumwunden feststellen, dass dieser Flecken Erde das große Schlachtfeld zwischen den ewigen Mächten werden würde und die Bewohner nichts weiter als winziges Getier dabei waren. Wer nicht acht gab, würde zerquetscht werden, wie man es mit einem lästigen Krabbeltier tat, dass dann Bekanntschaft mit dem eigenen Stiefelabsatz machte.

Das waren keine rosigen Aussichten, niemand wollte gerne solch ein Krabbeltier sein. Entsprechend wurden überall Pläne geschmiedet.
Auch ihre Gemeinschaft tat dies, heimlich, im Verborgenen, wie immer.
Es wurden Ideen und Vorschläge erörtert, wie man die Lande verlassen konnte, sollte das nötig sein. Leider kam man immer wieder zu dem einen unschönen Punkt, der für die Ihren mehr als nur ein Problemchen darstellte.
Was, wenn die Flucht per Schiff bewerkstelligt werden müsste? Die Idee mit einem Schiff zu fliehen war nicht neu und auch nicht auf ihrem Mist gewachsen. Es gab mehrere Gruppierungen, die mit ihren Gedankengängen zu dem gleichen Schluss kamen, außer vielleicht den Bewohnern des Unterreichs.
Allen war dabei unwohl zu mute. Nicht weil sie wasserscheu waren oder etwas gegen die See hatten. Es war jedoch unklar, wann und wie lange man mit anderen auf solch einer Nussschale zusammengepfercht war. Der Vollmond und ihr Sein würden keine Ausnahme machen, wann und wo sie waren. Es käme unweigerlich dazu, dass sie alle ihrem Sein nachgeben mussten und als reißende Bestie ihren Trieben nachgingen. Auf einem Schiff war das keine schöne Vorstellung. Auch ein eigenes Schiff, nur für die Ihren wäre kein wirklich gangbarer Weg. Zum einen würde es sicherlich Fragen aufwerfen. Warum du mit dem? Warum bist du nicht bei uns? warum bist du in der größten Not nicht bei uns? Zudem würde das Schiff ohne Kurs auf See driften, so lange sie von der Macht des Vollmondes gebunden wurden. Auch das war keine erbauende Aussicht. Das Schiff mochte abtreiben, auflaufen oder gar kentern. All diese Überlegungen führten zu dem Schluss, dass es so nicht gehen mochte.

Einen letzten Weg mochte es allerdings noch geben. Letztlich machte wie so oft im Leben, die Dosis das Gift.
Sie selbst wusste nur zu gut, zu welchen Dingen der Meteor und seine Splitter in der Höhle fähig waren. Einige der Ihren durften das auch schon mit anschauen oder gar selbst erleben.
Somit stand der Beschluss nach kurzer Diskussion rasch fest. Es wurden danach direkt Aufgaben verteil, wer was beschaffen konnte. Alles würde in der Zuflucht gesammelt, damit man dort in Ruhe die Dinge vorbereiten konnte.
Ihre eigene Aufgabe bestach gleichzeitig durch ihre Einfachheit wie Komplexität.Es wurden Splitter des Mondsteins benötigt. Kleine, mittlere, große und für alle der Ihren, ausnahmslos.
So machte sie sich auf, alleine in die Höhle. Mal wieder, sie kannte das schon. Geschichte wiederholte sich bisweilen und die mitunter gewichtigsten Aufgaben gehörten der Ältesten.

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Sie schlug mehrere größere Kristallstrahlen von der Wurzel des Meteors ab, dort, wo man es nicht sehen konnte. Ihre lange Erfahrung mit handwerklichen Dingen ließ sie vorsichtig arbeiten, damit das Gesamtkonstrukt des Meteors keinen Schaden nahm.
Am Ende sammelte sie drei große Strahlen des Meteors ein, die sie in ihrer Werkstatt noch in verschieden große Splitter brechen würde.

Dar Plan war der: Bisher hatten sie einzelne Splitter des Mondsteins zur Bestrafung genutzt. Dazu wurde der Splitter dem Probanden ins Fleisch gebunden, dort entfaltete er seine brachiale Wirkung. Nun wollte man die Splitter anders nutzen. Jeder der Ihren kannte es: in der Gegenwart des Steins spürte man sein Sein wesentlich intensiver und ungefilterter. Man strebte mehr dazu, sich den Trieben der Bestie hinzugeben.
Hier sollte nun die Dosis das Gift machen. Jeder bekam drei Splitter des Mondsteins.
Man trug sie bei sich, am besten direkt auf der Haut, so man sich dann noch beherrschen konnte. Man stählte seinen Geist, seine Widerstandskraft gegen das Verlangen, sich hinzugeben.
Schaffte man dies mit dem kleinen Splitter irgendwann leicht, nahm man den mittleren Splitter und steigerte somit die Dosis. Gleiches dann mit dem großen Splitter und so weiter, bis man alle drei Splitter bei sich trug.
Das klare Ziel: So viel Willens-und Widerstandskraft aufzubauen, um der Macht des vollen Mondes trotzen zu können, zumindest für eine gewisse Zeit. So die Hoffnung.
Das würde jedem viel abverlangen. Aber es wäre ein Weg, den es zu gehen galt. Zumal der mögliche Erfolg dieses Unterfangens eine weitere süße Aussicht versprach.Man könnte künftig noch mehr die Maskerade wahren und wäre nicht mehr so oft unpässlich oder müsste Einladungen ausschlagen, was oft nur schwerlich zu erklären war.
Die Arbeit hatte einige Zeit in Anspruch genommen. Es waren reichlich Splitter entstanden, es sollte für alle genügend vorhanden sein.
Wie man diese dann bei sich trug, war, wie sie nun nach der intensiven Arbeit mit den Fragmenten wusste, recht egal. Schmuckstücke waren als solches nicht wirklich nötig. Man steckte sie schlicht in die Tasche, ins Hemd oder band eine einfache Schnur darum, um sie sich um den Hals zu hängen. Es hatte sie fast mehrmals übermannt, als die drei großen Kristallstrahlen auf ihrer Werkbank gelegen hatten und sie ihnen ganz nahe war über einen längeren Zeitraum. Sie war mitnichten schwach an Willen, sie war nicht umsonst eine der Ältesten. Und dennoch, es war eine neue Erfahrung gewesen und auch sie hatte erst lernen müssen, dieser geballten Macht zu widerstehen. Aber es zeigten sich erfolge bei ihr und so war sie guten Mutes, dass es den Ihren ebenso gelingen mochte. Nicht gleich, nicht sofort und mit reichlich Arbeit und Aufwand verbunden, Leiden und Schmerz waren Teil davon. Doch es mochte sich auszahlen. Das war die Sache wert.
Wenige Tage später war sie erneut in der Höhle, mehr um nach dem rechten zu sehen, denn mit einem wirklichen Grund. Es war ein Gefühl, fast als rief man sie.
Der Meteor sah auf den ersten Blick gleich aus, hatte sich nicht verändert. Auch in der Höhle selbst, war alles beim alten.
Erst, als sie sich der Stelle näherte, an der sie die Kristallstrahlen abgeschlagen hatte, bemerkte sie eine deutliche Veränderung.
Der Kristall hatte feine Risse durchzogen ihn. Aber nicht direkt von dort, wo sie etwas entnommen hatte, mehr von innen heraus.

 
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An einer der Stellen hatte sich zudem etwas getan. Dort war die Struktur zwar noch kristallin, aber sie glich nicht mehr dem gewachsenen Kristall, sondern mehr einem Glasfenster. Als ob man dort in den Stein hineinsehen könnte.

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Sie spähte durch dieses "Fenster" in den Meteor. Erst als sie ohne Handschuhe den Meteor berührte und somit Kontakt zu ihm aufnahm, erkannte sie Bewegungen im Stein. Bewegungen? Im Stein? Sie schaute genauer hin und tatsächlich konnte sie eine Gestalt erblicken. Nur für einen kurzen Augenblick, einen halben Wimpernschlag lang. Und doch deutlich als solche zu erkennen, bis das Bild sich wieder auflöste.

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Nur mit Mühe riss sie sich vom Stein los. Es kam ihr vor, als hätte sie sich daran die Finger verbrannt, doch da war nichts.
Nachdenklich betrachtete sie erst ihre Hände, bevor ihr Blick wieder zum Meteor wanderte. Wollte er ihr etwas mitteilen, mit ihr sprechen, in Form von Bildern?
Dann erschienen ihr Bilder im Kopf. Wirr und unzusammenhängend und aus der Position eines Beobachters heraus, wie Blitze in der Nacht zuckten diese Bilder durch ihren Geist.

Sie sah eine Landschaft und Gebäude, die alt und verwegen aussahen, fremd und unbekannt. Sie sah Schemen und sie sah wie sich eine der Ihren wandelte... zum allerersten mal? Dann wurde es wieder dunkel in ihrem Geist.
Konnte das sein? Hatte sie soeben vor ihrem inneren Auge die erste Wandlung vom Menschen zum Werwolf gesehen, den Ursprung ihres Seins?
 
Darüber würde sie nachdenken müssen. Langsam zog sie sich aus der Höhle zurück, ein letzter Blick galt wie so häufig dem Meteor.
Konnte es sein, dass sie auf dem richtigen Weg waren? Der Meteor hatte noch nie "gesprochen". Weder mit ihr noch war ihr je zu Ohren gekommen, dass es anderen widerfahren war.
Es musste einen Grund haben. Sie entschied für sich, dass sie diesen Weg weitergehen würden, denn in den Bildern konnte sie keine Warnung als solches erkennen. Eher eine erste Kontaktaufnahme, ein erstes Kennenlernen.
Vielleicht war es nur möglich, weil sie die letzten Tage so intensive mit den Kristallsplittern gearbeitet und ihr Geist sich so auf die Splitter eingestellt hatte, dass sie für diesen Kontakt empfänglich war.

Sie würde die Splitter rasch verteilen und womöglich jedem mehr davon geben, damit sie ebenso bereit waren und ihren Geist öffnen konnten. Womöglich konnten sie noch mehr vom Stein erfahren und so einen Weg finden, dem Vollmond zu trotzen und ihre Willenskraft stärken.
 
Letztlich machte die Dosis das Gift..