Ivy blickte an sich herab und beobachtete ihre grünen Zehen beim Wackeln. Dann reckte sie die ebenso grünen Ärmchen und Beinchen von sich, um erst einmal lang gezogen in ihrem natürlich gewachsenen Moosbettchen zu gähnen und sich zu strecken.
Der Waldelfentag brachte viel Verpflichtungen mit sich: Aufstehen wann immer man möchte, Essen was immer man möchte und einem die Natur anbietet, Tiere beobachten und die ein oder andere sinnfreie Unterhaltung mit ihnen führen, Bäume besingen, Ausruhen, Herumliegen, Wolken anstarren, dem Wind beim Rauschen zuhören und vieles mehr!
Ivys Tag war also völlig mit wichtigen Aufgaben gefüllt. Schon seit vielen Jahrzehnten ging sie dieser Routine nach.
Da die weißhaarige Waldelfe eher zu einer “wilderen” Gattung gehörte, hielt sie sich meist überall in der Wildnis des Kontinents auf und besuchte nur gelegentlich die Sala. Die Sala ist der Ort, an dem sich üblicherweise die Waldelfengemeinschaft aufhielt.
Im Augenblick befand sich Ivy am Zitronenhain, einer ertragreichen Region nahe einer Steppe, die nicht ohne Grund ihren Namen besaß. Nirgendwo sonst gab es so viele Zitronenbäume.
Eine dieser Zitronen schnappte sich die Waldelfe als Frühstück und biss wie bei einem Apfel in diese hinein. Die Mimik der Waldelfe verzog sich nur geringfügig - scheinbar machte sie dies häufiger.
“Sooooo!” sprach Ivy mit sich selbst und spähte in den Süden mit tränenden Augen, aufgrund der Säure der Zitrone.
“Heut’ geh’ ich mal dorthin." " Denk' ich…”
Kaum ausgesprochen marschierten die grünen, baren Füße los. Die Dichte des natürlichen Zitronenhains nahm ab und die offene Steppe ließ mehr der aufsteigenden Sonne auf die Waldelfenhaut scheinen. Aufmerksam schauten sich die großen, exotisch anmutenden Waldelfenaugen um, die ein wenig an die Augen eines Raubtieres erinnerten. Trotz der vielen Dekaden in der Wildnis war es für die Waldelfe unmöglich sich an den Wundern der Natur satt zu sehen. Vermutlich war das der Teil des Wesens der “Lindhel” - so nannten sich die Waldelfen selbst.
“Zeit für eine Pause” dachte sich Ivy und setzte sich einfach auf den nächstbesten Stein. Von diesen gab es -unglaublich- viele in der Steppe.
Die neugierigen Waldelfenaugen spähten in die Ferne und konnten einen Prozess beobachten, der Teil des natürlichen Kreislaufs war.
Dem "Fressen und Gefressen-werden". Eine Löwin hat ein Opfer gefunden: Ein einzelnes Lama wurde über den unebenen, steinigen Boden gehetzt. Das Lama war schnell, aber nicht schnell genug, denn es humpelte an einem Bein. Das war vermutlich der Grund, warum es von der Löwin auserkoren wurde. Denn ein gesundes Lama wäre kein gefundenes Fressen geworden. Ein Satz und ein Biss an die Kehle des Lamas von der Löwin und das Lama-Leben endete. Keine zehn Meter von Ivys Sitzposition entfernt.
Von Ivy gab es keine richtige Bestürzung, als sie diesen Prozess beobachten durfte. Schließlich war er natürlich.
Die Elfe starrte also weiterhin auf dem Stein sitzend zu der Löwin, die sich daran machte, das Lama zu verspeisen. Auch dieser Vorgang wurde mit großen Wundern von den Waldelfenaugen beobachtet.
Haut und Fell wurden aufgerissen, Knochen wurden mit starkem Gebiss gebrochen. Mit blutverschmiertem Maul fraß die Löwin sich satt. Schon wenige Minutenläufe später kreisten schon die ersten Geier über dem Jagdgebiet, auf ihren Zug wartend.
Das wundernde Starren der Elfe endete erst, als die Löwin sich nach einiger Zeit gesättigt vom Kadaver zurückzog.
Direkt landete der Schwarm Geier. Rupfend stürzten sich die Tiere auf das leblose Tier und tauchten die Köpfe in aufgerissene Wunden. Die Neugier der Waldelfe ermutigte sie, sich dem Schauspiel weiter zu nähern. Schließlich saß sie Seite an Seite mit den Geiern, die sich nicht an ihrer Anwesenheit störten. “Alae!” kam höflich über Ivys Lippen - ehe sie ebenfalls mit einer Hand in eine der Wunden griff und etwas Fleisch von den Knochen löste. Sie aß ohne Scheu vom Kadaver. Die Waldelfe aß, was ihr die Natur anbot - das stand schließlich auch auf dem Plan für ihren Waldelfen-Tag.
Viel verputzte die Elfe nicht vom Lama. Sie erhob sich mit blutverschmiertem Mund und Händen und verneigte sich vor den Geiern mit den elfischen Worten: “Man sieht sich!" "Guten Appetit noch!”.
Mit gefülltem Magen spazierte die Elfe da weiter durch die Steppe - weitere Wunder warteten bestimmt darauf, entdeckt zu werden.
Es verging vielleicht ein halbe Stunde, als Ivys grünen, großen und spitzen Waldelfenöhrchen eine quietschig-piepsiges Geräusch hinter sich wahrnehmen konnte. Sie drehte sich zur Quelle der Geräusche. Ein klitzekleines Lama, mit durch und durch weißem Fell, schaute mit großen Augen empor zu dem mit Blut verschmierten Gesicht von Ivy.
“Oh du! Alae!” kam höflich von Ivy, die gleichzeitig dem verwaisten Miniatur-Lama winkte. “Ich muss dann mal weiter!” sprach sie noch und drehte sich wieder um 180 Grad herum. Unbeirrt marschierte die Waldelfe dann einfach voran. Ein rasch aufeinanderfolgendes “Tap tap tap tap”-Geräusch erreichten Ivys grünen Elfenohren.
Ein Schulterblick bestätigte eine Lamaverfolgung. “Hmpf!” machte die Waldelfe und intensivierte ihr Schritttempo. Resultat war nur ein schnelleres “Tap tap tap tap”-Schrittgeräusch.
Was die grüne Elfe schließlich zum Rennen ermutigte. Das stellte für das Lamatier kein Problem dar, mitzuhalten. Um die Waldelfe vorzuführen, flitzte das Lama sogar kurzerhand im rasenden Tempo an ihr vorbei.
Frustriert stoppte Ivy mit den Worten: "Du bist ein schneller Fussel!” und verschnaufte erst einmal. “Ich kann dir leider nicht helfen, du musst alleine klarkommen." “Wenn dir aber der Sinn danach steht, mir zu folgen, kannst du das tun." “Aber Nahrung und so musst du selbst suchen, ja?"
Kaum hatte Ivy ausgesprochen, machte das kleine Lama eine Rückwärts-Schluckbewegung, wie sie für Wiederkäuer typisch ist. Die damit ins Maul beförderte Nahrung wurde dann direkt eifrig erneut gekaut.
Die Elfe lächelte nach dieser Beobachtung und sprach dann: “Ah, ich sehe, du bist gut versorgt.”
So setzte sich die Elfe wieder in Bewegung. Mit Schnellfussel im Schlepptau.