Die Erforschung des Chaos

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Sidon Kitio
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Die Erforschung des Chaos

Beitrag von Sidon Kitio »

"In Jux Sanct"

Mit Bedacht konstruierte der alte Magier den Schutzzauber, formte das arkane Gewebe in gewohnter Manier geduldig und mit Aufmerksamkeit auch für die kleinsten Details zu dem gewünschten Spruch. Nichts wurde dem Zufall überlassen, jeder Aspekt des Spruchs vorsichtig kontrolliert. Sorgsamkeit war für ihn nie eine Kür, sie war die Grundlage seines Handelns.

Sobald der Spruch gewirkt war, spürte Sidon den Einfluss der magischen Anomalie vor ihm auf den Schutzzauber, der nun mit dem alten Magier verbunden war. Sidon beobachtete die Anomalie mit voller Konzentration. Ihre Form zuckte unvorhersehbar. Mal änderte sie sich schnell, dann wieder langsam. Mal wechselte ihr Aussehen die Farbe, dann blieb sie wieder konstant. Mal blieb sie an einem Ort, dann bewegte sie sich für einen Augenblick und sprang zurück zur Ausgangsposition. Mit jeder Veränderung verzerrte die Anomalie das arkane Gewebe in ihrer Nähe, ebenso unvorhersehbar wie die Veränderung der Anomalie selbst. Mit jeder Änderung der Anomalie, mit jedem Zucken des astralen Gewebes, zuckte auch der Schutzzauber auf dem alten Magier. Sidon näherte sich der Anomalie vorsichtig, immer darauf bedacht einen ausreichenden Abstand zu halten, doch neugierig und wissbegierig, wie sich die Anomalie auswirken würde.

Für viele waren die Anomalien Boten des kommenden Untergangs des Kontinents - Sidons Ansicht nach sicher keine falsche Interpretation.
Für viele andere waren die Anomalien eine physische Bedrohung - auch das empfand der alte Magier nicht als unbegründet.
Für Sidon aber waren die Anomalien zu allererst eine Einladung zur Untersuchung. Eine offene Frage, die darauf wartete, eine Antwort zu finden. Wie das Licht eine Motte zogen die Anomalien die Aufmerksamkeit des Alten auf sich. So stand Sidon nun vor der Anomalie mit voller Konzentration und studierte, wie sich die Anomalie veränderte: Regellos, unvorhersehbar, chaotisch.

Chaotisch - das Wort war für Sidon eine Mangelerscheinung. Chaotisch ist immer das, dessen innere Struktur wir nicht verstehen. Das Wort an sich war für ihn der blanke Ausdruck einer Wissenslücke. Einer Wissenslücke, die er zu füllen suchte. Selbst wenn das bedeutete, dem puren Chaos das Wissen zu entreißen, das notwendig war, das Chaos selbst zu erklären.
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Sidon Kitio
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Re: Die Erforschung des Chaos

Beitrag von Sidon Kitio »

Es blieb nicht mehr viel Zeit, bevor Sidon den alten Kontinent auf dem letzten Schiff würde verlassen müssen. Also intensivierte er seine Analyse der magischen Anomalien und des scheinbaren Zufalls, der sie antrieb.

Er hatte nun schon einige Tage damit verbracht, die Anomalien zu untersuchen. Er zeichnete Formen, Farben, Helligkeiten, Töne, Gerüche, Frequenzen, Amplituden und vieles mehr auf, verglich Anomalien an unterschiedlichen Orten und zu verschiedenen Zeiten, berechnete Korrelationen mit geografischen Begebenheiten und verglich seine Messungen mit astronomischen Tabellen. Mit stoischer Entschlossenheit suchte er zu Ergründen, welche Faktoren die scheinbar zufälligen Phänomene beeinflussten, um ihn so näher zu einer Erklärung zu bringen.

Sidon war langatmige Forschung gewohnt und verhoffte sich keine schnellen Erfolge. Er war sich bewusst, dass Ungeduld in der Forschung zu voreiligen Schlüssen führen würde. Er wäre stolz auf seine scheinbar unerschöpfliche Geduld gewesen, wenn er Stolz nicht für eine Variante des Hochmuts gehalten hätte und ihn deswegen ebenso ausmerzte wie jeden anderen Affekt.

So unterdrückte er auch nach Tagen der ergebnislosen Arbeit jeden Anflug von Frustration und tröstete sich damit, dass seine Aufzeichnungen über die Anomalien es möglich machen würden, diese Phänomene zu beschreiben und eines Tages zu ergründen. Denn in ihnen musste eine Ursache, ein Wirkprinzip, eine Erklärung liegen, darin war er sich sicher.
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Sidon Kitio
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Re: Die Erforschung des Chaos

Beitrag von Sidon Kitio »

Die Abreise war nun schon einige Tage her und Sidon saß erneut lange nach Sonnenuntergang an einem kleinen Schreibtisch unter Deck, unter einer schummrigen Öllampe, die an einem Metallhaken an der Wand hing und mit jedem Wogen des Schiffs leise qietschte. Nur sein Nachtsichtzauber ermöglichte es dem Alten, unter diesen Bedindungen an seinen Aufzeichnungen zu arbeiten.

Seit der Abreise hatte er die Kajüte nur selten verlassen und arbeitete den Großteil der Tage an den Aufzeichnungen zu den Anomalien. Um die Seekrankheit zu vermindern hatte er auf Essen verzichtet und er befand, dass die Askese ihm dabei half, die Konzentration bei seiner mühsamen Arbeit aufrecht zu erhalten.

Während das Greifenschiff mit gnadenloser Unendlichkeit im nachtschwarzen Seegang wogte, fügte Sidon seine Aufzeichnungen zu einem Gesamtbild zusammen, das in haarspaltender Kleinlichkeit darlegte, welche Erklärungsversuche und Faktoren er getestet hatte und dass nicht ein einziger seiner Ansätze geeignet war, die Beobachtungen auch nur in geringster Weise zu erklären. Also würde er weitere Ansätze verfolgen, bis er eine Erklärung gefunden hätte. Die Beobachtungen, die er gesammelt hatte, würden ihn noch lange beschäftigen.

Mitternacht musste schon lange vorbei gewesen sein, als Sidon in einem Moment der Konzentrationsschwäche die Schreibfeder bei Seite legte und sich das Gesicht rieb um seine müden Augen für einen kurzen Moment auszuruhen. Als er die Augen wieder öffnete und erneut auf seine Aufzeichnungen der ergebnislosen Erklärungsversuche blickte, kam ihm für einen kurzen Moment ein simpler Gedanke:

Und wenn es doch echter Zufall wäre?

Beide Hände fest um das wogende Schreibpult geschlossen starrte Sidon durch seine Aufzeichnungen in die Unendlichkeit während er nachdachte. Wahrer Zufall. Eine Ursache, die selbst keinen Ursache hat. Der Zusammenbruch des Determinismus, eine Grenze für die Kausalität. Pures, elementares Chaos als fundamentaler Bestandteil des ewigen Kosmos. Nichts weniger als der Zusammenbruch eines lange gepflegten Weltbilds.

So wie das Schiff im Seegang wankte, wankte auch der alte Magier an dem engen Schreibtisch unter Deck des Greifenschiffs. Doch genauso wie die Wellen der See es nicht vermochten, das Schiff zum Kentern zu bringen, so war auch Sidons alter Verstand unbeschadet von der monumentalen Tragweite dieses für schwächere Geister vielleicht furchteinflösenden Gedankens. Noch war nichts bewiesen, und selbst wenn er das reine Chaos als wahr anerkennen würde, dann würde er diese neue Ressource eben für sich nutzbar machen.

Damit nahm Sidon erneut seine Schreibfeder zur Hand, schlug ein weiteres Blatt auf und begann mit stoischer Miene damit, den nächsten Erklärungsversuch für die magischen Anomalien zu beschreiben.
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