Vorsichtig betraten Baithan und Nighean das dunkle Gebäude mit dem offenen Eingang. Überall hingen Spinnweben. Ein erdiger, fast modriger Geruch lag in der Luft. An den Wänden standen alte Regale und Glasvitrinen. Bei den Glasvitrinen konnte man nicht sofort erkennen, was sich darin befand, da das Glas bereits milchig geworden war. In den Regalen hingegen befanden sich viele Bücher und Schriftrollen. Auch die Gegenstände, die überall herumlagen, waren Baithan und Nighean nur allzu vertraut. Magisch. Allgemeinposten. Dinge des magischen Alltags. Offenbar war dies ein Händlerraum. Als die Straßen dieser verlassenen Stadt noch belebt waren, konnte man sich hier offensichtlich mit diversen Dingen des magischen Bedarfs eindecken. Beide inspizierten den Raum, aber nichts war von erkennbarer höherem Interesse. Eine morsche Holztreppe führte nach oben.
"Nicht sehr vertrauenerweckend"
kommentierte Baithan trocken.
"Vorsicht, der Boden ist schon vor der Treppe eingestürzt. Man sieht nicht, wie tief es geht..."
Und schon war es passiert, Baithan trat einen Schritt vor und der Boden gab unter seinen Füßen nach. Zum Glück schien es nicht sehr tief zu sein. Baithan stand bis zu den Knien in dem Loch. Ein mürrisches Knurren war von ihm zu hören. Nighean konnte sich nach dem ersten Schrecken ein amüsiertes Kichern nicht verkneifen. Sie kannte Baithan schon so gut, dass sie wusste, dass er innerlich kochen musste. Mit einem hörbar genervten
"Rel Por"
befreite sich Baithan aus der für ihn unangenehmen Situation. Sie grinste ihn nur frech an, als er wieder neben Nighean auftauchte. Schnell sagte sie auch ein
"Rel Por"
und fand sich oben auf der Treppe wieder. Baithan schüttelte nur den Kopf und tat es ihr gleich. Oben angekommen, bot sich ihnen ein ganz anderes Bild als unten im Verkaufsraum. Viele magische Kristalle lagen dort. Die Regale waren buchstäblich vollgestopft mit Büchern und Schriften.
"Das ist schon viel interessanter."
Kam es schon fast euphorisch von Nighean. Sie ging an den Regalen entlang und strich mit den Fingerspitzen über die Dinge, die sich in den Regalen befanden. Der Staub rieselte herab und es war, als ob sich ein Vorhang des Vergessens öffnete. Baithan folgte ihr und ließ seinen Blick stumm durch den Raum gleiten.
"Such, hier bist du richtig"
sagte Nigheans innere Stimme. Es war, als würde eine höhere Macht zu ihr sprechen. Doch es war ihre unstillbare Neugier, die sich in ihrem Kopf zu Wort meldete.
"So viele magische Kristalle. Man kann mit ihnen eine unglaubliche Menge und Intensität an Energie transportieren und übertragen"
sagte sie mit faszinierter Stimme zu Baithan, der sich noch immer einen Überblick zu verschaffen schien. Weiter hinten im Raum stand ein Tisch. Er war übersät mit allerlei magischen Dingen, Schriftrollen und aufgeschlagenen Büchern. Man könnte fast meinen, dass an diesem Tisch gearbeitet wurde, kurz bevor sie hier erschienen. Jeden Moment könnte der Schöpfer dieser geordneten Symphonie des Chaos die Treppe heraufkommen. Verwundert fragend, was die beiden in seinem Labor zu suchen haben. Ein Haufen Zauberstäbe lag auf dem Tisch.
"Drei, nein vier, sechs Stäbe"
lagen da. Vier dieser Stäbe konnten eindeutig den Vier etablierten Magierichtungen zugeordnet werden. Der fünfte schien den beiden etwas komplizierter. Wahrscheinlich der Stab eines Druiden. Es war Baithan, der seine Aufmerksamkeit schließlich auf den sechsten Stab richtete. Fast hypnotisch betrachtete er diesen Stab. Ganz einfach in Form und Beschaffenheit. Ohne großen Schnickschnack. Ein einfacher schwarzer Stab.
"Schau Nighean, dieser Stab ist so anders als die anderen."
Sie war noch dabei, die anderen Stäbe genauer zu betrachten. Ihre Finger glitten über die Stäbe. Für Nighean ist es auch wichtig, die Dinge zu fühlen, die sie untersucht. Ihre haptische Wahrnehmung ist ihr wichtig.Das macht die Dinge in der Welt um sie herum realer, greifbarer. Ihr Blick fielt auf diesen Stab, der so einfach und schlicht erscheint.
"Was genau ist dieser Stab? Er liegt so zwischen den anderen Stäben. Schlicht und einfach und doch scheint er irgendwie über die anderen Stäbe erhaben zu sein"
Nighean blinzelte mehrmals. Ihre Augen waren noch leicht geschwollen, nachdem der Mönch ihr erst vor wenigen Tagen Runen auf die Unterlider tätowiert hatte. Eine schmerzhafte Prozedur. Aber die Heilung war bisher gut verlaufen, und die anfängliche Schwellung bereits stark zurückgegangen:
"Hm, das könnte ein Muster sein, vielleicht eine unvollendete Arbeit. Aber ich muss dir Recht geben. Irgendetwas scheint an diesem Stab anders zu sein."
Vorsichtig streckte Baithan seine Finger nach dem Stab aus und strich über seine Oberfläche.
"Er fühlt sich glatt an. Glatt wie polierter Stein und doch muss es Holz sein, aus dem der Stab gemacht ist."
An beiden Enden des Stabes sind Kappen angebracht. Wieder meldete sich ihre innere Stimme
"Vielleicht ist der Stab innen hohl. Platz für einen geeigneten Ladungsträger. Die beiden Kappen scheinen nicht dem eigentlichen Schutz der jeweiligen Enden zu dienen. Vielleicht sind sie die Emitter"
Sie betrachtete den Stab genauer. Die Oberfläche schien tatsächlich frei von Unebenheiten zu sein. Sie fuhr mit ihren Fingern über den Stab.
"Nein, da ist etwas. Zeichen, Runen, vielleicht Worte"
sagte ihre innere Stimme zu ihr. Nighean blickte ernst zu Baithan auf. Dieser erwiderte ihren ernsten Blick mit dem ihn höchst eigenen ernsten Blick.
"Da ist etwas auf der Oberfläche, du und ich sehen, dass sie flach und ohne Unebenheiten ist, und doch spüre ich etwas."
Wieder legte Baithan seine Hand auf den Stab:
"Eh, da ist wirklich etwas"
Nighean biss kurz die Kiefer zusammen, bevor sie sich wieder an Baithan wandte:
"Du hast wirklich ein sehr gutes Auge, Baithan."
Ein fast schelmisches Lächeln lag auf seinem Mund:
"Eh, ich habe das Auge, aber du hast den richtigen Riecher."
Nighean konnte oder wollte nicht widersprechen:
"Kaiso... Da sind wir uns einig"
antwortete sie in einem amüsierten, fast fröhlichen Ton.
"Wir sollten uns beeilen Nighean, es gibt viele gierige Hände in dieser Stadt. Es wäre eine Schande, wenn dieser Stab in unfähige, oder noch schlimmer, in fähige Hände fallen würde"
Sie nickte Baithan zustimmend zu.
"Du hast wirklich einen guten Scharfsinn entwickelt, bald werden wir im Glauben gleichgestellt sein. Wir, Bruder und Schwester im Glauben geeint. Wir sollten hier auch nach Aufzeichnungen suchen, ein paar Kristalle mitnehmen. Ich will nicht spekulieren, aber es könnte ein Experiment sein. Wie es aussieht, ein sehr interessantes. Deshalb ist es wichtig zu wissen, in welchem Stadium sich dieses Experiment befindet und ob es zu Ende geführt werden muss. Was der Zweck, die Idee dahinter ist. Vielleicht auch das Motiv"
Baithan schüttelte mit einem amüsierten Grinsen den Kopf.
"Du nimmst mir regelrecht die Worte aus dem Mund"
Die beiden suchten in den Regalen nach Aufzeichnungen, Büchern und anderem Materialien, die Aufschluss geben konnten.
"Nimm besser du den Stab Baithan. Pass auf ihn auf und bring ihn zu unserer provisorischen Unterkunft. Bewege dich im Schleier des Belials und sprich mit niemanden ausser Sorsha, über unsere Entdeckung"
Die Taschen gefüllt, der Stab auf Baithans Rücken geschnallt, verließen die beiden das Gebäude auf die gleiche Art wie sie es betreten hatten.