Wenn der Winter weicht.

Rollenspielforum für Geschichten.
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Aedan Vinter
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Wenn der Winter weicht.

Beitrag von Aedan Vinter »

I. Was uns bleibt.

Als die Welt den Morgen an den Horizont ziehen ließ, hatte sich ein leichter Beschlag am Fenster eines lange verwaisten Turmzimmers inmitten der längst vergessenen Stadt, nahe der Landungszone der Echidna, gebildet. Ein Ofen, der lange nicht mehr betrieben worden war und nun, plötzlich und unerwartet, mit etwas Feuerholz in die vergangene Nacht hinein heizen musste, passte sich weiterhin der Umgebungsfrische des neuen und noch jungen Tages an. Unfähig, dem Raub an seiner Restwärme Einhalt zu gebieten, gab er, im Trotze seiner Existenz, ab und an ein metallisches Knacken von sich.

Das Licht des neuen Tages, noch unfähig, die Kühle der Nacht gänzlich zu vertreiben, jedoch durchaus kräftig genug, den Halbschatten aus dem einsamen Zimmer wie einen ungebetenen Kobold fliehen zu lassen, brachte den Leib des Mannes dazu, sich aus dem Fell zu schälen, mit dem er sich über die Nacht bedeckt hatte. Mit der Vernichtung der Harpyiennester hatte sich etwas Frieden über die einstmals verwaiste Stadt gelegt. Die Menschen hatten sich getraut, den Schutz der Barrikaden der Landungszone zu verlassen und diejenigen, die der Enge der Echidna überdrüssig geworden waren und den Truppen der Truchsess vertrauten, was ihren Schutz anging, hatten die verfallenen Behausungen provisorisch bezogen. Keine dauerhaften Wohnstätten - natürlich nicht. Der Drang der Menschen, Orte für sich zu beanspruchen, würde bald den herrschaftlichen Strukturen Platz machen und ein System der Ordnung würde regeln, wie das Leben in dieser neuen, namenlosen Stadt ablaufen würde.

Aedan Vinter hoffte, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits einen Ort für sich, fernab der Mauern und fernab jener Ansammlungen gefunden haben würde, die den Befreiuungsschlag aus den Stadttoren führten. Es war nicht etwa so, dass der den Menschen nichts abgewinnen konnte - er zog schlicht, wie er es schon immer getan hatte, das Leben in der Natur fort. Unter Kreaturen, die dem Leben keine komplizierten Regeln auferlegen mussten, sondern in ihrer Art einfach und ehrlich beschaffen waren. Wo es keine Worte brauchte, um einander zu verstehen.

Mit ihrer überwucherten Art und umringt von Bäumen, Sträuchern und Ranken, war die Stadt derzeit nichts weiter als ein Schatten einer alten Zivilisation, längst vergangen, vergessen und der Unerbittlichkeit des Kreislaufes des Lebens überantwortet. Die Natur hatte sich diesen Ort zurückgeholt, ohne Groll darüber, dass sich hier ein Volk einstmals eine Nische für ihresgleichen geschaffen hatte. Der Gleichmut der Natur hatte es hingenommen, ebenso wie die Tatsache, dass die Bewohner irgendwann fort waren, nachdem ihr Leben, gleich einem Wimpernschlag zwischen den Zeitaltern, geendet hatte. Diese Erkenntnis war umso klarer, als Aedan von dem Turm aus, die überwucherte Stadt betrachtete. Er würde irgendwann selbst, in einem hoffentlich hohen Alter, seinen letzten Wimpernschlag tun und selbst in dieses Leben und Sterben zurückkehren, in diese Balance, die nicht urteilte und die den Tieren die unglaubliche Gabe geschenkt hatte, jeden Moment zu leben und keinen Gedanken an Zukunft oder Vergangenheit zu verschenken. Ein Luxus, über den er bislang nicht verfügte.

Nachdem er gänzlich seinem Fell entstiegen war und an einem Steinpfeiler lehnend über die begrünten Schindeln blickte, wanderten seine Augen unwillkürlich in die Ferne und er ließ seine Gedanken zu den tierischen Begleitern zurückwandern, die er in der nunmehr alten Welt zurücklassen musste. Die ihr finales Opfer gegeben hatten, damit er leben konnte - eine Loyalität, die niemand erkaufen oder verstehen konnte. Diese Loyalität und das Blut von Kreaturen, die mehr als nur Familie oder Freunde waren, die über die Bedeutung dieser schnöden Worte weit hinausgewachsen waren, bezahlte Aedan Vinter mit einer Trauer, von der er hoffte, dass er sie nicht mehr häufig in seinem Leben empfinden musste.

Ihre Namen waren brennende Fackeln, zurückgelassen in der Dunkelheit, die hinter den Überlebenden lag und an die sich nur er erinnern und die Geschichte ihrer gemeinsamen Leben im stillen ehrte. Aedan beschloss, selbst den Moment zu leben - zu genießen, wie dieser Ort noch weitgehend unberührt vor ihm lag, war er doch genauso vergänglich wie alles Leben. Und wenn die Menschen der Echidna ihn für sich beansprucht, die Bäume gefällt, die Pflanzen entfernt und die vielen kleinen Bewohner, Nager wie Insekten, verscheucht hatten, wäre es, als hätte das Leben der Menschen hier nie aufgehört. Sie würden sich irgendwann gebaren, als hätten sie schon immer hier gelebt. Sie hatten der Selbsterhaltung den Vorzug gegeben und auch für sie hatten andere ihr Leben gelassen. Andere Menschen. Andere, die sich - größtenteils - dazu entscheiden konnten. Die in der Lage waren, sich gegen dieses untrennbare Brand der Brüderlichkeit zu entscheiden.

Aedan fasste den Entschluss, dass er, selbst wenn ihr Schicksal ungewiss war, ihre Namen in irgendeiner Form verewigen würde. Nicht um der Unsterblichkeit Willen, die eine Perversion angesichts dessen war, was die Natur uns lehrte, sondern um ihre Erinnerung und ihre Geschichten zu erhalten. Damit man sie eben nicht vergaß, damit kein gefällter Baum und kein gerodetes Unkraut die Erinnerung daran überlagern konnte, was und wen er zurückgelassen hatte und wie die, unter denen er gelebt hatte, ihm das größte Geschenk gemacht hatten.

Was uns bleibt, ist oft nur die Erinnerung. Sie ist die letzte Bastion, das letzte Tor, das es uns ermöglicht in den stillsten aller Momente zurückzukehren. An heitere Orte, an bessere Orte und an Erinnerungen in denen vieles leichter war und wir nicht schwer vom Verlust vergangener Freunde in eine Zukunft blicken, die uns fragen lässt, ob uns ein besserer Abschied von dieser Welt gegeben ist, in der wir nichts weiter sind als ein Sandkorn, das von der nächsten Böh’ ins Nichts geweht werden kann.

Ein Nichts das, als er die Augen schloss, noch in weiter ferne lag. Denn der einzige Weg, die Schuld seines Überlebens zu tilgen, war es, den Kreislauf so intensiv und so lange auszukosten, wie es ihm möglich war, zu Ehren jener, die dazu nicht mehr in der Lage waren.

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Aedan Vinter
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Re: Wenn der Winter weicht.

Beitrag von Aedan Vinter »

II. Der Wahn im Stundenglas
Die Welt ächzte unter den vielen Stiefeln, die Waren vom Schiff ins Innere der Stadt schafften. Der Friede der alten Welt - für die Siedler: Eher der neuen Welt - war gefallen, nachdem ein beherzter Tross rechtschaffener Streiter einen Befreiungsschlag gewagt und dabei einen Nistplatz von Harpyien dem Erdboden gleich gemacht hatte. Diese wilden Kreaturen, gackernde, gefiederte Besatzer einer Stadt, die ihnen nicht gehörte und Torwächter zu einer Welt, die sich nun die nehmen würden, die an die Küste der Verzweiflung getrieben worden waren, wurden an nur einem Abend besiegt und der Name des Herrn erschallte überall. Worte des Sieges und der Heiligkeit wurden gesprochen und erfüllten die zuvor leeren Gassen mit Stimmen, die das nächste Kapitel dieses Bodens schreiben sollten, der schon so viele Menschen, so viel Regen und so viel Blut gesehen hatte.

Einmal mehr hatte Aedan Vinter sich eines der hohen Zimmer gesucht, um von oben zu betrachten, wie die Menschen begannen, die Natur zu ihren Gunsten zu vertreiben. Krachend fielen Bäume zu Boden, Vogelschwärme brachen durch die Blätterdächer und krächzten voller Empörung um den Verlust ihrer Heimat und würden sich bald auf die Suche nach einem neuen Ort begeben, an dem der Teppich aus Menschen das Land noch nicht zu ersticken suchte. Er empfand Mitgefühl für die Vertriebenen und waren es noch so kleine Krabbeltiere: Denn sie verstanden die Motive der Menschen nicht, kannte nicht ihre Verzweiflung und - vor allem - konnten ihnen nichts entgegensetzen.

Auf einem alten Schreibtisch, an einem der Fenster des kleinen Raumes, befand sich eine Sammlung verschiedener Vasen, Töpfe und sonstiger Behältnisse, die Aedan mit Erde befüllt und zur Nachzucht von Setzlingen nutzte. Zweifelsohne würde er damit der zum Wiederaufbau genutzten Rodung nicht entgegentreten können, aber sein Gewissen gemahnte ihn, bereits jetzt alles zu tun, was nötig war, um den Verlust von Pflanz’ und Tier zu gering wie möglich zu halten - und irgendwann, so wusste Aedan, würde der Tag kommen, an dem man jenseits der Wüste neues Grünland suchen und - so besagten Gerüchte - finden würde. Es wäre der Tag, an dem Aedan, sich langfristig nicht mehr um den Bestand in der Stadt kümmern konnte. Und obschon völlig irrational, hatte der Mann sich bereits begonnen, an diesen Ort zu gewöhnen - natürlich in seiner jetzigen Form, in der jedes Gebäude nach Moos und Erde roch und durch jede noch so kleine Ritze eine Pflanze kroch und wo man immer wieder das Kratzen und Tapsen von Insekten oder Nagern hören, sie aber nicht sehen konnte. Er hatte sich bei der Frage ertappt, ob es eine Aussicht darauf gab, einen Teil der Bepflanzung zu erhalten. Sich hier dafür einzusetzen, dass diese Stadt nicht gegen, sondern mit der Natur arbeiten konnte. Während er einige der Gefäße mit etwas Wasser befeuchtete, wanderte der Blick des Mannes auf ein verlassenes Stofftier, welches am Rande des Tisches liegen gelassen und die Jahre bis zur Ankunft der Echidna überdauert hatte. Kurz wanderte der Blick Aedans durch den Raum und er stellte sich vor, dass hier irgendwann wieder Kinder leben und aufwachsen würden.

Zweifelsohne musste es den Siedlern ein Anliegen sein, alleine schon aufgrund der Wüstenlage, einen Teil des Forstes zu er- oder zu unterhalten. Nachdem die verschiedenen Gefäße befeuchtet und die Setzlinge versorgt waren, lehnte sich der Mann des Waldes an die Wand, die zur Fassung des Sprossenfensters überging und spähte auf die Straße. Die geschäftigen Personen beobachtend, sog er den grasig-moosigen Duft ein und schloss die Augen. Obschon er inmitten eines von Menschen erbauten Ortes stand, roch es noch immer nach der Natur, die sich durch Pflaster und Mauerwerk gegraben und sich den Ort zurückgeholt hatte. Diese Momente der Stille, in denen dieser Ort nach der Heimat roch, die er in weiter Ferne verloren hatte, gab ihm den Frieden, den die Menschen sich untereinander nicht gönnten. 

Er hatte mehrere Ansammlungen in den Straßen beobachtet und allesamt stritten sie um das Holz - die knappeste Ressource dieses verlassenen Ortes. Dass die Menschen die Pflanzen und Tiere der namenlosen Stadt als ihr Eigentum beanspruchten, war schneller gegangen, als Aedan es erwartet hatte und einige Waldelfen - verständlich im Zorn - verschärften die Probleme noch. Zugegeben, auch Aedan empfand Wut, Enttäuschung und Traurigkeit darüber, wie achtlos die Siedler mit dem Wenigen umgingen, was sie hatten. Aber er kannte die Menschen ebenso gut genug, um zu wissen, dass die Momente aus Chaos und Verzweiflung es waren, die sie alle Manieren und alles Miteinander vergessen ließen.

Selbsterhaltung war ein starker Trieb und jene, die bis zum Zusammenbruch der alten Welt nie wahre Existenzangst empfunden hatten, waren nun schlichtweg überfordert von der Situation die sich ihnen bot. Sie waren so verschreckt wie das Reh, das einen Räuber im Gebüsch zu wittern glaubt und sich ob überhasteter Flucht ein Bein an einer Wurzel bricht. Sie waren so hektisch wie die Vogelmutter, die im Begriff ist, ihre Nachkommen an einen Eierdieb zu verlieren. Das all’ das Straucheln und all’ das Krächzen sinnlos ist und ein kühler Kopf und Vorraussicht die besten Verbündeten sind, sahen die meisten Menschen nicht.

Den Blick starr vor sich gerichtet, ließen sich die meisten von der Nacht ihrer Gefühle überraschen, da sie vergaßen, den Blick zum Horizont zu richten. Und wie so oft, würden die Menschen dem Chaos mit Regeln begegnen. Regeln, in die man sich kleiden und in die man sich zurückziehen konnte, um sich nicht mit dem eigenen Gewissen auseinandersetzen zu müssen.

Aedans Blick pendelte vom Treiben in den Straßen zu den Gefäßen mit den Setzlingen. Zu den werdenden Pflanzen, die er seinen Regeln unterworfen hatte, bis sie in der Lage waren, ihre eigenen zu schaffen. Eine gewisse Traurigkeit umfing den Mann, der wusste, dass sie vermutlich, selbst bei aller Hingebung, im Getrampel der Siedler, kaum eine Möglichkeit hatten, zu überleben.  Und doch musste er - mussten sie es versuchen. Denn würde auch diese Welt untergehen, so würden diese fragilen Pflänzchen das einzige sein, was er der Welt zurückgegeben haben würde und der mögliche Neuanfang, den diese Stadt erneut durchlaufen würde, wenn das Rad der Zeit sich ein weiteres Mal weiterdrehen und der letzte Mensch in dieser namenlosen Stadt seinen letzten Atemzug tun würde.

Bis dahin würden die Sprößlinge seiner Setzlinge sich fortgepflanzt und ihrerseits neue Pflanzen ausgetrieben haben. Als der Mann den Blick wieder gen Straße richtete, empfand er den Gedanken als tröstlich, dass das einzige, was wir der Welt vererben können, die Auswirkungen unseres Tuns sind.

Ein einzelner Stein, geworfen in einen stillen Weiher, dessen Wellen sich kreisförmig verteilten, vermochte die Ufergräser noch lange zu bewegen, wenn er selbst schon längst am Grund des Sees zur Vergangenheit einer fernen Welt geworden war.

 
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Aedan Vinter
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III. Das Rad zwischen Leben und Vergehen

Beitrag von Aedan Vinter »

III. Das Rad zwischen Leben und Vergehen
Aedan Vinter konnte sich an den Tag seiner Geburt erinnern. Natürlich war damit nicht der Tag gemeint, an dem er dem Leib seiner Mutter entnommen und als neues Leben auf die Welt gekommen war, sondern der Tag, an dem der Waldläufer sich entschied, zu gehen. Es mochte auf Familie, Freunde und Bekannte gewirkt haben, als habe der Mann einen unüberdachten Entschluss gefasst, als habe ihn der Schlag und der Wahn zugleich getroffen, als er eines Tages entschied, alles hinter sich zu lassen und einfach davon wanderte. Doch tatsächlich war das Gegenteil der Fall. Egal wieviel Zeit er in Städten verbracht, unter Menschen gewesen war - Aedan Vinter hatte stets gewusst, dass er ein Leben lebte, das nicht seines war. Wie die Haut einer Schlange spürte er, wie es sich, im Laufe der Jahre langsam ablöste und darunter etwas frisches, etwas neues und dauerhaftes freilegte. Und irgendwann, an jenem besagten Tag, war es Zeit, die alte Haut abzustreifen. Die naheliegende Frage, warum er sich niemandem anvertraut hatte, ließ sich ebenso naheliegend beantworten: Menschen die von einem nahenden Verlust wussten, würden versuchen, ihn abzuwenden. Nicht, dass irgendjemand etwas hätte ändern können: Aedan wusste, wo sein Weg ihn hin führte. Doch wollte er die Menschen in seiner Umgebung ungetrübt erleben, ohne sich ständigen Fragen und Rechtfertigungen auszusetzen. 

Und so begab es sich, dass Aedan Vinter sein altes Leben verließ, um dem Ruf zu folgen, der ihn seit jeher begleitet hatte. Der für diejenigen wenig überraschend gekommen wäre, hätten sie von seiner Nähe zur Natur gewusst. Hätten sie gewusst, dass die Freiwilligkeit zu Reisen und Waren zu verschieben, nur ein Vorwand war. Ein Vorwand, den niemand richtig verstanden hätte - ebensowenig wie die tiefe Bindung, die er erst dann recht zu begreifen wusste, als er in dem kleinen Wäldchen angekommen war, das bis zum Untergang der nunmehr alten Welt seine Heimat sein würde.

Und obschon man ihm nachgesagt hätte, dass ihn eine romantische Vorstellung vom Leben in Abgeschiedenheit in die Wildnis trieb, so konnte dieser Gedanke der Realität nicht ferner sein. Aedan Vinter hatte beobachtet, wie Jungtiere heranwuchsen, wie sie ihre ersten Schritten taten und wie sie, so das Schicksal es wollte, ihrerseits Nachkommen gebären würden. Und er hatte beobachtet, wie wieder andere Tiere, noch im jungen Alter, von Raubtieren gefressen wurden und das Erbe einer alternden Mutter zu nichts weiter als Nahrung wurde. Der Waldläufer hatte beide Elemente zu schätzen gelernt und es war diese natürliche, teilweise rohe Art des Zusammenlebens, das ihn die Ehrlichkeit seiner Lebensweise schätzen ließ. Des einen Beute war des anderen Nahrung, ohne die er nicht leben konnte. Demgegenüber entschieden Schläue und Gewitztheit darüber, nicht zur Beute zu werden und zu überleben. Es war ein Gleichgewicht, ein ewiges Rennen, bei dem der Jäger der Beute nachsetzte und die Beute sich dem Jäger entzog und für beide bedeutete der jeweils andere Leben - oder Verderben.

Aedan machte sich zum Teil dieses ewigen Kreislaufes, indem er Nahrung nahm, wo es erforderlich war. Wo er Felle abzog, damit er nicht frieren musste und er Holz schlug, um ein Feuer anzuzünden. Und doch setzte auch er sich den Risiken der Wildnis aus - ob nun große Raubtiere, Krankheit, der man nicht so ohne weiteres beikommen konnte oder Unwetter und Gezeiten ihm entgegen peitschten. Er lebte ein Leben der Entbehrung und eines, in dem er lernte, sich zu behaupten und sich das Recht auf ein Fortbestehen zu verdienen - und damit einher ging ein tiefes Verständnis für die Lebewesen, die um ihn herum lebten. Eines, das mittlerweile derart tief verwurzelt schien, dass es ihm mehr wert schien, wenn er entlang eines Bären existieren und jagen durfte, ohne befürchten zu müssen, gefressen zu werden, als es jedes lobende Wort in seinem vorigen Leben gewesen war.

Er hatte in der Stadt, die am Landungspunkt der Echidna lag, einige kennengelernt, die ebenfalls ein Leben in der Natur vorzogen. Aedan hatte Waldelfen und Druiden kennengelernt und er empfand für sie alle einen tiefen Respekt - trotz diverser Konflikte vor allem für die Waldelfen, die ein Band zur Natur pflegten, das er niemals in dieser Art erleben können würde und deren Bestreben in konstantem Widerstreit zu den Notwendigkeiten des Überlebens der Siedler standen.

Aus diesem Grund hatte er sich oft gefragt, ob seine Sicht der Dinge einer Änderung bedurfte. Ob es eben nicht genug war, den Verlust eines Baumes oder einer der zahllosen Ratten zu betrauern, sie aber als notwendig zu betrachten - als notwendig um neues Leben zu schaffen und zu erhalten. Je häufiger er sich jedoch bei jenen Gedanken ertappte, umso größer wurde die gedankliche Kluft zu jenen, die jede noch so kleine Kreatur um jeden Preis zu erhalten suchten. Die Rattenplage war außer Kontrolle, das war jedem bewusst - und wessen Ursprungs sie auch war - dieser Zustand war entweder durch die Siedler hervorgerufen oder hatte andere Gründe. Es war an ihnen, diesen Zustand wieder ins Gleichgewicht zu bringen, da er nicht auf natürliche Weise entstanden war.

Der Waldläufer liebte den Gedanken, dass eine Welt, in welcher kein Leid existierte, eine gute Welt sein würde. Doch die Natur selbst strafte uns lügen - in jedem Augenblick in dem eine Spinne ein hilfloses Insekt betäubte um es zu töten, in jedem Augenblick in dem ein Wolf ein Reh riss. Die Welt war für Aedan Vinter eine Welt, in der jedes Licht des Lebens einen Schatten warf, der unübersehbar war, um das Geschenk schätzen zu können, das jede neue Kreatur auf dieser Welt war. Und nur die Trauer und das Leid des Verlustes ließen uns bisweilen erkennen, wie kostbar das Leben war.

Das Leben in der Zurückgezogenheit hatte ihn Bänder knüpfen lassen, zu Tieren, die ein wesentlich kürzeres Leben als er hatten und deren Lebensfäden durch das Schicksal verwoben und miteinander verbunden worden waren. Es waren dunkle Tage, jene schicksalshaften Wolken, die sich vor das Licht der Unbeschwertheit drängten, wenn einer dieser Gefährten aus dem Leben schied. Und alles, was Aedan hatte tun können, war bis zu diesem Zeitpunkt ein guter Mitstreiter zu sein. Eine verwandte Seele, die zusammen am Rad des Werdens, Lebens und Vergehens drehte, bis der Tag gekommen war, an dem wir nicht mehr konnten, als die Zeit zu schätzen, die uns unwiederbringlich durch die Finger rann, wie feiner Sand an einem endlosen Strand. 

Und bisweilen glaubten wir, die dunklen Tage würden bleiben, wie schwer durchdringbare Gewässer auf hoher See. Doch wie die Geschichte der Echidna zeigte, war es ebenso ein ehernes Gesetz, das die Wolken irgendwann weiterziehen würden und man würde wieder die Sonne auf der Haut und den befreienden Wind spüren können, der die Dunkelheit vertrieb und das Licht in Form neues Lebens brachte, und einen weiteren Knoten im Band des Schicksals knüpfte.

Wenn Aedan also glaubte, es gäbe eine Möglichkeit, die Krise der Menschen in der noch namenlosen Stadt durch romantische Gedanken und gutes Zureden zu lösen, so entschied er sich für das Leben, was er in der alten Heimat geführt hatte. Ein ehrliches Dasein, welches das Leben schätzte, indem es den Verlust zu bewältigen wusste und die Romantik denen überließ, die sich diesen Luxus leisten konnten - weil andere ihr Überleben sicherten.

 
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Aedan Vinter
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IV. Solgard

Beitrag von Aedan Vinter »

IV. Solgard
Der neue Kontinent hatte sich seinen Bewohnern geöffnet und die verschiedenen Völker waren schnell bis in die entlegensten Bereiche dieser neuen Welt vorgedrungen. Obschon verstreut, hatten sich damit auch Gelegenheiten für Handel und Austausch ergeben - vor allem aber auch Gelegenheiten, Kontakte mit jenen zu knüpfen, die nicht mit der Echidna geflohen waren. Einige dieser Kontakte waren durchaus positiver Natur gewesen - andere wiederum, lasteten noch immer schwer auf Aedan. Diener des Namenlosen, Drow, Orks - sie alle bevölkerten die gleiche Landmasse und würden noch lange ein Garant für andauernde Konflikte sein. Und das Wissen, in eben jenen Konflikten kaum einen Ausschlag geben zu können, nagte nach wie vor an ihm - wenngleich er versuchte, diesen Dorn des Versagens nach wie vor mit sich selbst und im Verborgenen auszukämpfen. 

Ein Blick auf die Kleider, die er sich für den Namenstag zurechtgelegt hatte, riss Aedan Vinter aus diesen trüben Gedanken und ließen ihn kraftlos aber ehrlich auflächeln. Es war nicht leicht gewesen, an einen ordentlichen Satz Kleider zu kommen, geschweige denn an das Material. Aber er hatte zumindest hier einen kleinen Sieg errungen und sich eine Kombination herstellen lassen, die vermutlich selbst in den Gassen von Stria akzeptiert worden wäre. Dass er einmal wieder die Gewohnheiten der Heimat annehmen würde, die seiner Zeit vor dem Leben im Wald entsprangen, hätte er vermutlich noch vor Monaten als Ding der Unmöglichkeit abgetan - nun aber wirkte es fast wie eine außerkörperliche Erfahrung: Er sah sich selbst, wie er beinahe selbstverständlich in alte Riten und Gewohnheiten schlüpfte, wie in ein altes paar Handschuhe. Sie mochten nicht mehr den Glanz haben, als man sie frisch erstanden hatte und waren weich statt robust geworden - aber dafür passten sie, als hätte man seine Finger hineingegossen.

Noch immer streifte er regelmässig durch die Wälder der noch namenlosen Stadt, die wenig später ihre Taufe erhielt - und noch immer führten ihn Streifzüge weit über die Wüste hinaus - doch es war mittlerweile unbestreitbar: Diese Stadt, eine Ansammlung von Ruinen vergangener Pracht, war seine Heimat geworden. Während er die Kleider zusammenlegte und in einer Kiste verstaute, die Teil eines provisorischen Lagers war, welches ihm nun schon seit Tagen als Interimswohnstatt diente, fiel der Blick des Mannes auf seinen Lederpanzer und seine Armbrust, die sauber aufgereiht, an der Wand lehnten. Wie schnell sich doch die Umstände ändern konnten - und wie schnell man sich neuen Notwendigkeiten anzupassen wusste, wenn es erforderlich war. 

Aedan hatte in den vergangenen Tagen oft daran gedacht, dass die Geschichte der Menschen an diesem Ort in vielerlei Hinsicht der Geschichte seiner Heimat ähnelte. Eine Geschichte von Schiffbrüchigen, die aus dem Nichts eine neue Heimat erschufen, die bis heute überdauerte und die vor allem das Gesicht ausschweifender Feste trug.

 
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Und wenige Stunden später sollte die einstmals namenlose Stadt die gleiche Maske aufsetzen. Zahlreiche Besucher verschiedener Völker waren gekommen, um die Taufe der Stadt zu erleben, die sich den Namen Solgard gegeben hatte. Sloan Vildaban Levi und Aedan Vinter - das Wahlkomitee - eröffneten die Veranstaltung vor einem großen Publikum und zwischen bardischen Klängen sprach auch die Truchsess, Fenria Vildaban, zu den Menschen und verkündete den Namen der Stadt - welcher von Serafim Sala, der das Fest persönlich beehrte, bestätigt wurde.
 

- SOLGARD -

Schallte der Name der neuen Stadt lichter Tugenden durch die Nacht und die Menschen tanzten, tranken und freuten sich über etwas Zerstreuung nach den zermürbenden Wochen, die hinter den neuen Bürgern der frisch getauften Stadt lagen.
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Edle Kleider auf der Haut, ein Weinglas in der Hand - der Kontrast hätte nicht stärker zu den ersten Tagen ausfallen können, als Aedan die Echidna verlassen hatte, um beim Wiederaufbau zu helfen. Und wenngleich die Feier ihm Zerstreuung brachte und die Musik des Barden Arvo Wellenklang die Tänze mit Legatin Sloan nicht besser hätten unterstreichen können, so spürte er den Schatten des fragilen Friedens dieser frisch geborenen Stadt noch immer hinter sich. Das Tragen von Masken - ein Brauch seiner Heimat - war etwas, das sich ebenfalls wie ein alter, lange nicht getragener Handschuh anfühlte. 

Die Sorge darüber, dass dieser Ort noch vielerorts verfallen war, dass Geheimnisse ungelüftet waren und dass mordlustige Kreaturen die Wüste immer öfter durchquerten, warfen einen Schatten, der ihm immer dann nachzustellen drohte, wenn er sich nicht in Gespräche verwickelte oder die Nähe der Legatin suchte. Das Lächeln indes, die gezeigte Freude, waren so ehrlich wie sie auch gleichzeitig diesen Schatten verbargen, den der Mann aus Istraym mit sich trug. Eine Halbmaske, geformt aus Ehrlichkeit und Sorge, die er doch zu tragen verabscheute und sich, am Ende des Abends, als er hinauf in das Sternenmeer über Solgard blickte, fragte, wann er die Kraft finden würde, sie in eine Schublade werfen und sie vergessen zu können.

 
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Aedan Vinter
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V. Die Tanzenden Erinnerungen von Stria

Beitrag von Aedan Vinter »

V. Die Tanzenden Erinnerungen von Stria
Friedliche Ruhe hatte sich über Solgard gelegt. Was auch immer der alte Name dieses Ortes gewesen war, er würde vielleicht irgendwann in alten Aufzeichnungen auftauchen und mitsamt den Geschichten derer, die mit der Stadt untergegangen waren, das Bild einer sterbenden Welt zeichnen, die ihre eigenen Momente im Glanz der Zeit hatten. 

Dieser Glanz war vergangen und alte Mauern kokettierten mit Pflanz’ und Tier um stumme Episoden aus Leben und Vergehen. Der ständige Duft von erdigen Pflanzen und die Hinterlassenschaften von Tieren wurden weniger - Pfade wurden ausgetreten und wie Ameisen reihten sich die Menschen perlengleich aneinander, wenn sie bei Tag ihren Arbeiten nachgingen. Dieser Ort war fern davon, zu erstrahlen, aber die Bewohner hatten sich zum Ziel gesetzt, genau diesen Umstand zu ändern: Dieser Ort sollte ein Leuchtfeuer des Glaubens an den Herrn werden. Ein Ort an dem sich jeder rechtschaffene Mann und jede rechtschaffene Frau wohlfühlen würde. 

Das Zwielicht, das durch den Mondschein über der Stadt lag, zeichnete ein schattenhaftes Gemälde irrealer Formen durch die Gassen, als Aedan Vinter vom Uhrenturm aus, über diesen Ort blickte. Dieser Ort verfügte über zahllose Türme und Wachposten, allesamt Orte, an denen er gern in der Nacht verweilte und sich versicherte, dass die Menschen der Echidna in ihren provisorischen Behausungen beruhigt schlafen konnten. Er hatte zuletzt selbst viel und ruhigen Schlaf gefunden, wenngleich er wusste, dass ihm ein innerer Dämon auf den Fersen war, dem er sich früher oder später stellen musste. Diese Nächte, die Frische und die darin liegende Ruhe, gaben ihm die Möglichkeit, den Schatten, der ihm auf den Fersen war, zu bekämpfen und sich davon nicht einhüllen zu lassen.

Chancenlos war er einem Magus begegnet, der nicht nur ihn, sondern auch eine Streiterin des Lichts an den Rand des Verderbens gebracht und damit Nährboden für Zweifel und Versagen gesät hatte. Die Wut, die Furcht, die Angst - all’ diese Empfindungen kämpften sich in Momenten wie diesen wieder an die Oberfläche und das Leder seiner Rüstung knarzte, als Aedan Vinter eine Faust ballte. Es gab nichts was er hätte tun können - vermutlich gab es nicht einmal etwas, was er zukünftig tun könnte, wenn sich eine derartige Begegnung wiederholte. Er hätte schon die Realität selbst ändern müssen, um die Situation zu seinen Gunsten zu zu wenden. Und doch war es genau dieser Wunsch, der ihm nicht aus dem Schädel wich. Einer eitrigen Wunde gleich, die unter der Haut pochte und ein gedankenträges Fieber auslöste, konnte er diesen tiefen Wunsch nicht aus seinem Geist klären. Während der Mann über den Wald aus Bäumen und alten Schindeln blickte, glaubte er fast seine eigene Stimme zu hören, die ihn fast schon flehend anwies, diesen Gedanken anzunehmen, sich ihm nicht mehr zu verschließen, ehe er sich dadurch etwas Erleichterung verschaffte, indem er seinen alten Atem gegen die frische Luft der Nacht dieses Ortes tauschte.

Unwillkürlich erinnerte sich Aedan Vinter an die unbeschwerte Zeit seiner Heimat - an eine Zeit, in der er viel zu viel Geld in die Hand nahm, um an einem der Bälle in der Stadt teilzunehmen. Stria, als Zentrum des Karnevals, hatte für ihn stets eine besondere Anziehung gehabt, der er selten nachgeben konnte - und doch mischte er sich, wann immer Zeit und Barmittel für Vergnügungen es erlaubten, unter die Menschen und genoss Stunden von maskierter Unbeschwertheit. Und auch jetzt, in diesem Augenblick fern der Heimat, merkte er, wie er sich in diese Zeit zurück sehnte. In eine Zeit der Wandlung, eine Zeit der Wunder und eine Zeit, in der alles möglich war und der Patron von Istraym beinahe jeden Wunsch wahr werden lassen konnte. Aedan ließ sich von diesem Gedanken leiten, fand Zuflucht in seinen Erinnerungen einer Vergangenheit die unerreichbar schien und glaubte beinahe, er könnte die Musik und die Feiernden hören, die die Straßen Strias und die angrenzenden Gebäude, zumindest vordergründig, zu einem Ort der Unbeschwertheit machten.

Von einem Lichtschein abgelenkt, öffnete der Mann aus Istraym seine Augen, beinahe schon wehleidig das Gefängnis freudiger Erinnerungen verlassend, als er feststellte, dass er Musik und Stimmengewirr noch immer hörte. Die Straßen waren leer, schattenhaftes Zwielicht hatte die Welt der Menschen in den Schlaf geschlagen - bis auf ein Gebäude. Der Lichtschein drang durch die Fenster vom Obergeschoss des Ratsgebäudes und wurde weiterhin von den Geräuschen feiernder und musizierender Menschen begleitet. 

Ruhige und leise Schritte führten Aedan den Uhrenturm hinab, bis er den Konferenzraum betrat - oder das, was er einstmals gewesen war. Prachtvolle Vorhänge säumten die intakten Mauern eines Raumes, in dessen Mitte die gerade erst instand gesetzte Tafel mit allerlei Speisen und Köstlichkeiten gefüllt war und an dessen Nordseite eine Gruppe von Spielleuten heiter aufspielte. Männer und Frauen, in teure Kleider gehüllt und mit traditionellen Masken Istrayms bekleidet, waberten in freudigem Tanz um die Tafel, während Aedan Vinter mit wachsendem Unglauben dieses offensichtliche Fest betrachtete, das wie ein Ausschnitt aus seiner Heimat wirkte. Ein purpur-lilaner Schimmer lag in der Luft, der alles zu durchwabern schien und den Moment noch irrealer erscheinen ließ, als er ohnehin schon war. Eine junge Frau näherte sich dem Istraymer und reichte ihm eine Maske, ehe sie ihn mit den Worten, er wäre schon erwartet worden, in den Tanz einer Heimat zog, die längst vergangen war.

Aedan kannte die Maske - und erkannte damit auch die Feier. Es war einer der Bälle, die ihm als einer der schönsten Momente in seinem Leben in Erinnerung geblieben waren, als einer der Momente, in denen er glaubte, der Patron würde endlich seinen Blick auf ihn richten und in dem die Gäste bis zum zwielichtigen Morgengrauen ausgelassen feierten, ohne dass Herkunft, Reichtum oder Ränke eine Rolle spielten. Und ohne groß zu überlegen, setzte der Istraymer die Maske auf und tanzte. Er tanzte, wie er seinerzeit getanzt hatte, interagierte mit den Schatten seiner Erinnerung, die in einem Schimmerspiel seine Welt ausfüllten, ohne dass zunächst er die Verbindung bemerkte, die zwischen ihm und dieser Situation bestand - ohne dass er bemerkte, dass diese Trugbilder kein Zufall, sondern das Ergebnis tiefer Verzweiflung und Wut waren, die sich ihr Ventil in der Unbeschwertheit suchten.

Die Erinnerung an einen vermutlich mittlerweile für viele vergessenen Ball in Stria wurde lebendig und Aedan Vinter tanzte, lachte und sang mit der bildgewordenen Irrealität einer besseren Zeit. Minuten oder Stunden - der Mann aus Istraym verlor jegliches Zeitgefühl und hätte schwören können, dass Wochen in dieser Gaukelei hätten vergehen können, ehe, eines abrupten Augenblicks, das Spiel aus sanftgoldenem Licht und Purpurschimmer, das satte Miteinander aus Kleidern und Masken, die Musik und das Jauchzen, ein Ende fanden und mit einer letzten Drehung im Tanz, die bildgewaltige Darbietung in kleine Fragmente zerfaserte, die sich im Halbdunkel des Raumes auflösten. 

Und erst als der Raum wieder den Charakter karger Improvisation zurückerlangte und Aedan sich um einen Tisch drehte, der aus Holz und Stein gleichermaßen geflickt worden war, bemerkte er, dass die Erinnerung vergangen und der Moment der Heiterkeit vorüber war. Und dennoch hatte sich etwas verändert: Der Istraymer hatte das Gefühl, die nächtlichen Trugbilder noch immer irgendwo hören zu können, noch immer spüren zu können, dass sie irgendwo greifbar waren. Wie ein tiefes Band, das in dieser Nacht hervorgebrochen und nicht mehr trennbar war, eines welches aus ihm selbst entstanden, vermutlich seit seiner Geburt mitgetragen und unverrückbar mit ihm verbunden sein würde.

Unfähig und vor allem auch unwissend, auch nur ein Fragment dieses Effektes in irgendeiner Art und Weise zu replizieren, begab er sich zurück in sein provisorisches Heim zurück - doch bereits auf dem Weg hatte Aedan Vinter sich entschlossen, dem einzigen anderen, Istraymer, den er in Solgard näher kannte, von dem Erlebnis zu erzählen. Er mochte vielleicht kein ausgewiesener Meister der Magie sein - aber sie teilten ihre Heimat und vielleicht hatte er einen Rat, wie mit einem derartigen Ausbruch zu verfahren war. Er hatte in seiner Heimat nicht oft die Gelegenheit gehabt, mit Grymaldis zu verkehren - denn ihre Welt war sicherlich eine andere als jene, die man als Kaufmann aus Yham erlebte. Doch zu seinem Glück waren die Grenzen verwischt worden und die Würfel neu gefallen.

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Aedan Vinter
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VI. Der Pakt der Freiheit

Beitrag von Aedan Vinter »

VI. Der Pakt der Freiheit
Es gab Augenblicke, in denen man sich eingestehen musste, dass man auf Hilfe angewiesen war. Gefährliche Pfade waren die Konsequenz von Hochmut und der Arroganz zu glauben, dass man sich gegen jede Unwägbarkeit des Lebens aus eigenen Kräften wappnen konnte. Und zugegeben: “Gefährlich” bedeutete nicht immer “Unmöglich” - doch hatte Aedan Vinter die Erfahrung gemacht, dass, selbst wenn man unbeschadet aus einem Unterfangen hervorging, man meist deutlich mehr Zeit für die Bewältigung investieren musste, wenn es keine helfende Hand gab, die einem die Richtung wies.

Der Abend, an dem der Mann aus Yham Pietro Grymaldi aufsuchte, erwies sich in vielerlei Hinsicht als Glücksfall. Nicht nur, dass er mehr bekam, als den erhofften Rat, es zeigte sich zudem, dass der Istraymer selbst ein fähiger Magier war, wie sich zeigte. Jedoch stellte Aedan auch fest, wie unterschiedlich die beiden Männer doch am Ende waren - vielleicht hatte Grymaldi eine ähnliche Veränderung durchgemacht, wie er selbst. Wie sehr einen die Zeit auf der Echidna und darüber hinaus verändern konnte, hatte er am eigenen Leib erfahren und stand nun selbst am Anfang eines Weges, den er sich selbst nie ersonnen hatte. Geschichten über Magie, über Zauberei und die wundersamen Dinge, die sowohl in seiner Heimat als auch hier, auf der alten und neuen Welt, möglich waren - es waren erlebte Mythen und Legenden, die von anderen geschrieben und gelebt wurden. Aber nicht von ihm, dem einfachen Handelsjungen, dessen Schicksal sich vor allem aus der Augenfarbe speiste.

Nun jedoch, konnte er nicht anders, als an den Ball zu denken, den Moment der so voll von Trugbildern war, erschaffen aus Verzweiflung, aus einem Geist, der in die Freiheit auszubrechen suchte. Wenngleich am Anfang stehend, hatte sich die Sicht des Mannes auf die Welt verändert. Ein Leben in der Stadt, mehr noch: Sich aktiv in die Geschichte Solgards einzubringen - es war etwas, das sich gut angefühlt hatte. Ebenso wie die Tatsache, dass sich daraus eine Beziehung zu einer Frau entwickelt hatte, deren Nähe nun geliebte Normalität war, waren beides doch Dinge, die er vor seiner Flucht mit der Echidna als Elemente der Unmöglichkeit abgetan hätte. Und nun, schließlich, hatte sich herausgestellt, dass die Kräfte der Magie in ihm erwacht waren.

Und, verständlicherweise, hatte Grymaldi Zweifel an den farbenfrohen Darstellungen von Aedan Vinter gehabt, als er ihn diesbezüglich aufgesucht hatte. Es gab Geschichten, die, selbst in dieser Welt, schnell nicht mehr waren als Fantasterei und Fiktion. Es brauchte also einen Beweis, unverrückbar und eindeutig.

Dieser Beweis war indes erbracht worden und der Mann aus Yham saß in einem der vielen kleinen Turmzimmer, die, in dieser noch in Ruinen liegenden Stadt des Lichtes, zahlreich vorhanden waren. Das kleine Zimmer erlaubte den Blick auf das Ratsgebäude und den Brunnenplatz und ließ die letzten Stunden des Tages am alten Glas des Fensters vorüberziehen, während der Horizont, mitsamt der Sonne, sich unter die zitternde Linie aus Dächern schlich, um im Zwielicht der Nacht neue Kraft für einen neuen Tag zu sammeln. Aedan indes, entzündete eine alte Kerze, ein altes Objekt, das die Welt ihrer Vorgänger überdauert und sein Licht für diejenigen aufgehoben hatte, die nach den Besitzern von einst kamen.

Im Dämmerschein des Lichtes und der einkehrenden Ruhe zwischen den Gassen hatte er in den letzten Tagen, wie auch am heutigen Abend, begonnen, seine Erfahrungen und Erkenntnisse niederzuschreiben. Der Istraymer lächelte bei seiner Niederschrift und fragte sich, wie banal die zu Papier gebrachten Worte wohl einem Meister der Magie vorkommen mussten - wie kleine Schritte auf einer weiten, verschneiten Ebene, die umso mehr an Signifikanz verloren, je weiter man sich von ihnen entfernte. Für ihn hingegen, war nicht mit Gold aufzuwiegen, was er in den wenigen, ersten Tagen gelernt hatte. 

Und doch: Aedan Vinter war sich sicher, dass auch Grymaldi gebraucht hatte, sich in Solgard zurecht zu finden. Der leichte Zugang, den er zu Grymaldi zu finden geglaubt hatte, war  etwas anderem gewichen, das deutlich zeigte, wie sehr der Istraymer die Wichtigkeit seiner Person durch Distanz zu unterstreichen suchte. Es war ein Kontrast zu den Tagen, als man gemeinsam geputzt und Schutt beiseite geräumt hatte - eine Tatsache er bei dem Namensfest noch ignorierte, als der Mann sich mit zwei Leibwächtern einen Tisch am Randes des Festes gesichert und für sich in Anspruch genommen hatte, zu entscheiden, wer an der Tafel sitzen durfte und wer nicht.

Eine Weile betrachtete der Mann aus Yham das Ratsgebäude durch das Fenster und zog die Stirn kraus. Woher auch immer dieser unzweifelhafte Herrschaftsanspruch rührte - er befremdete seinen Landsmann - aber wie Grymaldi es selber ausdrückte: Vielleicht waren es Gedanken des “Mittelstands”. 

In jedem Fall hatte er ihm insoweit geholfen, dass durch das Lehren der Formel “In Mani” - und, wenngleich es Übung und Wiederholung, vor allem in der dafür nötigen Konzentration, kostete - unzweifelhaft klar wurde, dass der Mann aus Yham künftig den Weg der Magie beschreiten würde. 

Er gab zu, dass er sich das erste Wirken des ersten selbst gewobenen Zaubers insgesamt spektakulärer vorgestellt hatte. Doch musste man gestehen, dass keine Kerzenflamme beeindruckend war, wenn man nur auf das Leuchtfeuer blickte. Also hatte Aedan Vinter sich für die Bescheidenheit entschieden und begonnen, jede noch so kleine Erkenntnis niederzuschreiben und gleichzeitig Grymaldi darum gebeten, ihn bei den magischen Grundlagen zu unterstützen.

Der Istraymer hatte es offenbar als Gelegenheit verstanden, seinen Einfluss zu erweitern und sich die Zeit genommen, einen schriftlichen Vertrag aufzusetzen, der Aedan Vinter zu einem Angestellten der Familie Grymaldi machen würde, in jeder Hinsicht. Der Mann aus Yham hatte die Papiere mehrfach durchgelesen und gerade weil Vertragswerk eingedenk seines Familiengeschäfts aus der Heimat ihm nicht gänzlich unbekannt war, triefte das Machwerk vor versuchter Schlitzohrigkeit. Es war naheliegend zu versuchen, aus der Situation anderer einen Vorteil zu schlagen - besonders wenn man sie in einer alternativlosen Situation wähnte. Der sicherste Weg, so hatte Grymaldi ihm versichert, war es, einen Lehrmeister zu finden. Und doch: Die Zeile, wo Aedans Unterschrift den Vertrag besiegelt hätte, blieb leer und würde es auch bleiben.

Die vor ihm liegende Zeit würde Opfer, Blut und Schweiß fordern - doch mit Fesseln sollte sie nicht beginnen. Der Istraymer hatte einige sinnvolle Hinweise fallen gelassen, unter anderem darauf, dass in Nebelhafen zumindest fragmentarisches Wissen zu erlangen war und dorthin würden ihn seine Wege vielleicht führen, bis sich eine bessere Gelegenheit bieten würde.

Als leichter Regen einsetzte und an das alte Glas des Fensters klopfte, zuckte die Kerze, getrieben von einem leichten Windhauch, der durch eine Ritze zwischen Fenster und Rahmen drang, unstet auf. Der Mann aus Yham blickte aus dem Fenster und sah, wie das kühle Nass in Schlieren alten Dreck vom Fenster wusch, um Platz für eine Welt zu schaffen, die den Ruinen ihrer Vergangenheit entsteigen sollte.
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