Der Nordwind, der nach Westen trägt

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Naya Yui
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Der Nordwind, der nach Westen trägt

Beitrag von Naya Yui »

Stoisch ruhte der Blick der exotisch anmutenden Frau auf dem Ufer, dem sich ihr Schiff langsam aber stetig näherte. Natürlich hatte sie auf der Reise Entbehrungen hinnehmen müssen, doch diese waren ihr gleichgültig. Sie war Entbehrungen schließlich gewohnt. Die Tatsache, dass das nahende Ufer dem Fakt entsprach, dass sie dieses stinkende Schiff mit deren dümmlicher Besatzung verlassen konnte, heiterte sie insgeheim auf. Seitdem sie mit der Ostwind den Hafen von Nisu, der Hauptstadt des Königreiches Nisu, verlassen hatten, hatte der Kontakt zu den Matrosen ein jähes Ende gefunden.  Einer der Männer hatte Naya nach einem Saufgelage bedrängt und nicht lockergelassen, ehe ihre Schreie seine Kameraden dazu bewegt hatten, den Matrosen von seinem Vorhaben abzubringen.  Der Matrose war grob zu ihr gewesen und hatte ihren Widerwillen mit ein paar Ohrfeige unterdrücken wollen. Doch Naya kannte diese Sorte Mann und war seinesgleichen schon unzählige Male in den Freudenhäusern von Nisu begegnet. Daher hatte sie sich intuitiv gleich mehrere Alternativen zurechtgelegt, um der Situation zu entgehen. Sie war sich sicher, dass es auf der Ostwind kaum Gelegenheit dazu gab, sich für derlei Vorhaben so zurückzuziehen, ohne dass jemand davon etwas mitbekam.

Nach ein paar Tagen wurde der Mann schwächer und musste in seine Koje gebracht werden, da er den Dienst nicht mehr erledigen konnte. Während ihrer Spaziergänge über das Schiff, die Naya auch vorher schon zum Totschlagen von Zeit gemacht hatte, passierte sie ihren Peiniger regelmäßig. Zwar würdigte sie ihm keines Blickes, sehr wohl aber erneuerte sie unauffällig das Gebet, dass den Matrosen überhaupt erst in diese Lage gebracht hatte. Über die Wochen wurde er schwächer und schwächer, ehe er eines Morgens in das Totenreich übergetreten war. In den Kreisen der Mannschaft wurde vermutet, dass Naya ihn verflucht haben müsse, doch konnte ihr niemand etwas nachweisen. Als Konsequenz auf diesen Vorfall, die größtenteils aus Angst fußte, wurde sie nicht wieder belästigt, noch hatte sie großes Interesse sich einem Passagier oder anderen Matrosen zu nähern oder gar eine Konversation zu führen. Sie fokussierte sich stattdessen auf ihr Ziel und die Aufgaben, die sie dort erwarteten.

Eine Gänsehaut durchfuhr sie und ließ ihren Körper erbeben. Die Erinnerung drängte in ihr Bewusstsein, die Erinnerung an ein Ereignis, auf dem ihre Reise begründet war. Sie musste nach Luft ringen und war für den Moment überwältigt von Emotionen, die sie sonst so geschickt zu verbergen suchte. Naya hatte ihre Jugend als Dirne in einem Freudenhaus verlebt und den dortigen Männern alle ihre Wünsche erfüllt. Ihre Vielseitigkeit auf dem Gebiet der Fleischeslust hatte auch bald die Aufmerksamkeit von mächtigen Männern erregt. Talahar war einer diese Männer und ein Höllenpriester des Namenlosen. Durch seine Stellung als Mitglied des obersten Klerus gelang es ihm, den in Nisu ansässigen Wächterorden davon zu überzeugen, Naya in den Lehren des Namenlosen auszubilden und zu formen. Talahar liebte Naya und hatte in ihr etwas gesehen, dass sie nicht zu deuten vermochte. Es vergingen Jahre, ehe sie, noch in Zeiten ihrer Tätigkeit als Dirne, die grundlegenden Fähigkeiten des Lesens und Schreibens erlernt hatte, die für die Ausbildung zur Priesterin unabdingbar waren. Doch Talahar, dessen Liebe nicht nachließ, veranlasste alle notwendigen Vorkehrungen, um den Erfolg ihres Planes zu sichern. Nach weiteren Jahren trat sie ihren Dienst als Priesterlehrling im Tempel des Namenlosen an und galt trotz ihres Alters als vielversprechendes Talent. Sie hatte gelernt ihre Vergangenheit nicht zu verleumden, sondern als Teil von sich zu begreifen und Stärke daraus zu gewinnen. Nisu war gespickt von Priesterlehrlingen wie Naya, doch wenige begriffen ihr Privileg so sehr wie sie. Hohe Herrschaften entsandten ihre Kinder in den Tempel, um den Weg eines Priesters zu gehen, doch waren die meisten dieser verzogenen Gören nur zu belächeln. Sie waren Hochwohlgeboren, hatten nicht die Abgründe des menschlichen Seins erlebt und waren, im Gegensatz zu Naya, nicht zum Äußersten bereit.

Dies zeigte sich bei einer Aufklärungsmission gen Norden, wo sich ein Orden der goldenen Schlange im Untergrund gebildet hatte, den es galt auszurotten. Naya und einige andere Lehrlinge wurden unter Begleitung von einem Trupp Wächtern dazu auserkoren, die Mission als Reifeprüfung auszuführen. Nachdem während eines missglückten Hinterhalts ein Kampf entbrannt war, gelang es Naya mit Glück einen der verhassten Paladine zu töten. Diese Tat brachte ihr nicht nur die Anerkennung Talahars, sondern auch des übrigen oberen Klerus ein. Es war unüblich, dass Priesterlehrlinge wirklich imstande waren etwas zu bewirken.

Als Belohnung durfte Naya einer Anrufung des Nordwindes – Astarot – beiwohnen, der zu weiteren Gruppen der goldenen Schlange, die sich im Untergrund aufhielten, befragt werden sollte. Talahar leitete die Beschwörung und war ein inbrünstiger Priester, dessen Spiritualität seinesgleichen suchte. Obwohl es dem Klerus nicht immer gelang, einen der vier Winde anzurufen, so war ihnen an diesem Tag ein Erfolg vergönnt. Ein Wesen düsterer Energie, die den Raum erfüllte, materialisierte sich vor den Klerikern und genoss sichtlich die Ehrerbietung, die die Priesterinnen und Priester ihr entgegenbrachten. Naya stand weit hinten im Raum und konnte doch die Präsenz dieses unvorstellbaren Wesens spüren, als würde es direkt neben ihr schweben. Sie war sich nicht sicher, ob sie diese Kraft überaus würde, sollte sie näher heran gehen. Leider sorgte die Entfernung zur Mitte des Tempels dafür, dass sie nur Bruchstücke von dem mitbekam, was dort gesprochen wurde. Selbst Astarot flüsterte lediglich. Nachdem dieser sich über die Opfer hergemacht hatte, die für ihn bereitgelegt wurden und diese vollständig desintegriert waren, wand er sich wieder Talahar zu, der als Sprachrohr zu fungieren schien. Kniend und mit gesenktem Haupt sprach er mit dem Wind des Nordens. Relativ rasch stellte Naya fest, dass die Unterhaltung schnell nicht mehr nur um den Norden zu gehen schien. Die verunsicherten Blicke des obersten Klerus sprachen Bände. Als das Treiben um den Nordwind seinen Abschluss fand, richtete sich Talahar auf und blickte Astarot direkt an. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Naya, er hätte zu ihr herübergeschaut. Doch nein – das hatte sie sich eingebildet. Seine Stimme bebte als sie ihn sprechen hörte, so laut, dass sie den Tempel erfüllte: „Ich bin bereit den Preis zu zahlen, oh Wind des Nordens.“, verkündete Talahar ehrfürchtig und ein Raunen und Staunen überflutete den Tempel. „So sei es.“, erwiederte die krächzende Stimme des Erzdämonen und mit einer Geste öffnete sich ein Portal, durch das Talahar für immer verschwinden sollte. Nicht jedoch der Dämon, der sich nun im Raum umsah. Naya stockte der Atem, als sie glaubte, dass Astarot sie ansah. Dann durchfuhr sie ein stechender Schmerz, der ihren Kopf beinahe gesprengt hatte: „Geh nach Westen – eine neue Welt – diene Asmodan.“. Sie wäre beinahe ohnmächtig geworden, doch widerstand der Versuchung nachzugeben. Als die Worte, deren Klang unbeschreiblich schrecklich waren, abebbten, wähnte sie sich schon in Sicherheit, doch die Stimme des Dämons griff erneut nach ihr. „Mein Opfer.“, stellte der Dämon klar und binnen einer Sekunde war er dematerialisiert. Doch er hatte einen  Teil von Naya mitgenommen, wenngleich sie diesen Aspekt der vorigen Interaktion nicht sofort zu verorten mochte. Doch als ihre Gedanken darum kreisten, was es gewesen sein könnte, dauerte es nur einen Wimpernschlag, ehe sie verstand. Er hatte ihr jedes Gefühl als Opfer abverlangt, das sie je für Talahar empfunden hatte -  sie ausgesaugt, bis der Name Talahar nur noch eine leere Hülle in ihrer Erinnerung war.

Naya wurde jäh aus ihren Erinnerungen gerissen, als ein Matrose sie unsanft angerempelt und ihr den Eisenverschlag einer Truhe in die Seite gerammt hatte. Sie musste sich kurz schütteln, ehe sie begriff, dass die Ostwind bereits angelegt hatte.  

„Na schön… es liegt viel Arbeit vor mir.“
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