Auf der Suche
Nur mit einigen Fellen bekleidet irrte er rast- und ruhelos durch die eisige Einöde. Fest entschlossen, entweder den Tod oder Erleuchtung zu finden.
Es war eine stürmische Nacht, die er sich ausgesucht hatte, um den Schutz des Dorfes zu verlassen. Doch es musste sein. Die Ahnen mussten einen Plan für ihn haben. Dessen war er sich sicher.
Sie führten und leiteten ihn schließlich schon sein ganzes Leben lang. Und nie hatten die weissagenden Schamanen, oder die Visionen, die ihn selbst ereilten unrecht.
Rückblickend auf sein Leben war er sich dessen vollkommen sicher.
Einen Ort wollte er finden, an dem er ungestört ist. Fernab vom geschäftigen Treiben des Dorfes.
Auch wenn ihm die Gemeinschaft sehr ans Herz gewachsen war, so brauchte er doch immer wieder Abstand. Um den Kopf frei zu bekommen, die Ruhe zu genießen,
oder aber auch um einfach nur den Tieren des Waldes zuzusehen, ihnen zu lauschen, zu beobachten, wie auch sie Teil des Kreislaufs waren.
Und so marschierte er unermüdlich durch die schneebedeckte Landschaft. Auf der Suche nach einem geeigneten Ort, an dem er vielleicht Antworten finden würde.
Unweit vom Dorf erspähte er schließlich einen Berg. Eine Erhebung in der Landschaft von solcher Unscheinbarkeit, dass sie ihm bisher noch nie so richtig bewusst aufgefallen war.
Zumindest nicht als Rückzugsort, obwohl er schon unzählige Male daran vorbei gepirscht war.
Mühsam war der Weg hinauf auf den Gipfel. Denn der eisige Wind hatte den über den Tag angetauten Schnee zu einer wahren Herausforderung werden lassen.
Doch schlussendlich hatte er den beschwerlichen Aufstieg geschafft. Kaum oben angekommen klarte der Himmel auf und eine wahrlich beeindruckende Aussicht sollte sich ihm bieten.
Der Blick war frei auf Fjellgat hinab, auf die Harpyienruinen im Norden und in weiter Entfernung waren selbst Nebelhafens Umrisse sichtbar. Und im Süden lag ruhig die See.
Er schloss die Augen, atmete tief durch und genoss den Moment.
Anschließend breitete er das Fell eines Eisbären vor sich aus, das er bis dahin nochum die Hüften trug. Dieses prächtige Expemplar hatte er erlegt kurz nachdem er auf dieser Insel hier ankam.
Er war wild gewesen, hatte ihn angefallen und er kämpfte um sein Leben. Wieder einmal. Ein schmales Lächeln zierte sein Gesicht, als ihm diese Erinnerung wieder in den Sinn kam.
Und nun sollte das Fell dieses Bären ein Opfer an die Ahnen sein, um deren Gunst zu erlangen und deren Weisung zu erhalten.
Der Rauch der lodernden Opfergabe stieg weit in den Himmel hinauf und Thjondars Blicke verfolgten aufmerksam dessen Verlauf. Denn, nicht unüblich, konnte bereits dies eine tiefere Bedeutung haben.
Doch einfach kerzengerade stieg er nach oben. Keine Verschnörkelungen, keine Abweichungen und auch kein Muster waren für ihn erkennbar.
Er schloss die Augen und sank mit einem Seufzen auf die Knie. Hatten die Ahnen ihn vergessen? Hatten sie wirklich keine Aufgabe mehr für ihn?
Erschöpft von den Strapazen der letzten Tage lehnte er sich an den einzigen Baum auf dem Gipfel und schlief ein.
Wie so oft träumte er von vergangenen Zeiten, wie er Schlachten schlug, dabei unbesiegbar schien, wie er seine Frau kennenlernte und wie sie vor seinen Augen dahin genommen wurde.
Träume, die ihn schon seit langer Zeit wieder und wieder heimsuchten. Einerseits eine schöne Erinnerung, doch andererseits machten sie ihm auch immer wieder deutlich, dass auch sein Leben einst enden würde.
Und wieder war es eine dieser Nächte, in denen er fast schon panisch aufwachte und reflexartig zu seiner Waffe griff, die sonst immer neben ihm bereit lag. Doch nicht dieses Mal.
Nur sein Vaenkniv hatte er dabei. Jenen geschwungenen Dolch mit dem knöchernen Griff in den ein Wolfskopf eingeschnitzt war, den er bei seiner Aufnahme in den Stamm der Thrymm'tack erhalten hatte.
Die Nacht war finster. Als er erwachte und versuchte, sich umzusehen, erkannte er nichts. Der Himmel war bedeckt und kein Stern war zu sehen.
Der Nebel des langsam erlischenden Feuers trübte zusätzlich die Sicht.
Eine gespenstische Ruhe umhüllte ihn. Und trotzdem fühlte es sich irgendwie bedrohlich an. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er in die Dunkelheit, in der Hoffnung, doch irgendetwas zu erkennen. In einiger Entfernung wähnte er tatsächlich, eine Gestalt erkannt zu haben. Für ihn sah die schemenhafte Gestalt aus, wie ein in Lumpen gehüllter alter Mann. Das Messer fest umklammert schlich er sich in deren Richtung. Doch je näher er kam, umso unklarer das Bild. Schließlich kehrte er wieder um. Zurück zum Baum, an dem er seinen Schlaf fortsetzen wollte. Totenstille.
Nur in der Entfernung war der Ruf eines Adler zu hören.
Als er am Morgen erwachte, stieg bereits die Sonne am Horizont empor und brachte die weiße Pracht um ihn herum zum Funkeln und Glitzern.
Bis auf einige wenige Aschereste erinnerte nichts mehr an die Geschehnisse des Tages und der Nacht.
Ein Wind war aufgefrischt. Eine eisige Brise, die selbst die Spuren, die er bei seinem nächtlichen Ausflug hinterlassen haben mochte, bereits vollständig verweht hatte.
Und noch immer hatte er, so meinte er es, noch kein Zeichen erhalten.
Doch aufgeben war keine Option. Er kniete vor den spärliche Überresten seiner Opfergabe nieder und schloss die Augen. Er versuchte sich zu erinnern, was die Alten ihm von Kleinauf immer wieder erzählt hatten. Die Legenden, die sich um Sarmatijasch rankten. Die Erzählungen über Halvard, Solkr, Variot, Aeiti und nicht zuletzt auch Großvater Winter.
Und plötzlich schoss es ihm durch den Kopf. Sollte Großvater Winter ihn in dieser Nacht besucht haben? Wollte er sich ein Bild davon machen, ob er noch zu etwas nütze sei, oder ob er ihn holen sollte? War er es, der versuchte ihm Weisung und Führung anzubieten?
Er hatte schon öfter in seinem Leben solche Erscheinungen gehabt. Doch ausnahmslos jede davon stand in Zusammenhang mit dem nahenden Tod.
Und gewarnt hatte man ihn: Ein Mann an der Schwelle des Todes lässt sich gern von Trugbildern täuschen. Die Worte von Skadi, die sie ihm einst gesagt hatte, ließen ihn bisher zweifeln an seiner Gabe mit den Ahnen in Kontakt treten zu können.
Doch nie zuvor fühlte er sich lebendiger als jetzt. Geschwächt vielleicht, aber noch lange nicht tot.
Er lehnte sich wieder zurück an den Baum und schloss die Augen. In stiller Meditation verharrte er regungslos die nächsten beiden Tage und 3 Nächte, so dass er insgesamt 3 Tage und 4 Nächte auf dem Gipfel zubrachte, wie einst Halvard auch. So berichteten zumindest die Alten.
Immer wieder sah er dabei Bilder von vergangenen Tagen, aber auch Dinge, die er nicht erlebt hatte und die er für den Moment nicht zuordnen konnte.
Eine alte, beinahe vergessene Sprache drang an sein Ohr. Fast so wie die, die er bei den Schamanen hatte gelegentlich aufschnappen können.
Doch noch verstand er sie nicht.
Aber er verstand: Die Ahnen redeten mit ihm, er konnte sie sehen. Und er war sich sicher, dass auf seine alten Tage hin dies sein weiterer Weg sein würde.