Die Insel der Nebel

Rollenspielforum für Geschichten.
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Fel Maris
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Die Insel der Nebel

Beitrag von Fel Maris »

Notwendige Erläuterung/Hinweis:
Die Insel der Nebel ist ein OOC-Bereich und dient der ersten Orientierung für Spieler, die erst einmal einen ruhigen Einblick in die Spielmechaniken gewinnen können.
Entsprechend gibt es zahlreiche Hinweistafeln und Erklärungen zur Funktionsweise des Spiels.

Die Insel der Nebel ist ausdrücklich kein Rollenspielbereich: Die Charaktere passieren diesen Bereich nicht tatsächlich, jeder Charakter hat seine eigene Geschichte, wie er letztlich auf die Neue Welt gelangt ist.

Dieser Thread beschreibt ein fiktives Szenario, das mit der Vorstellung spielt, dass ein solcher Neulingsbereich tatsächlich mit all seinen Eigenheiten erlebt wird.

Tatsächlich werden keine der beschriebenen Beobachtungen und Eindrücke den Weg in das Rollenspiel finden, sobald Fel irgendwann diesen Bereich verlassen und die eigentliche Spielwelt betreten kann. Solange das noch nicht der Fall ist, dient es mir als Zeitvertreib und auch um den Charakter, seine Motivation, Denkweise und Vergangenheit besser kennenzulernen.

In der gleichförmigen Stasis dieser Insel ist die Ankunft anderer Reisender die einzige Abwechslung, die einzige Abweichung von einer täglichen Routine. Selbst das ist, wenn man es korrekt betrachtet, gleichbleibend: Ihr Kommen und ihr unvermeidliches Gehen ist zwar unregelmässig aber doch vorhersehbar: Sie alle ziehen weiter. 

Ich erinnere mich noch an die Aufregung des ersten Tages, gleich gefolgt von der Erleichterung direkt nach der Ankunft, an deren Details ich mich nicht erinnern kann. Das ist etwas, was mich mit den allermeisten der Reisenden verbindet: Eine bestimmte Ungewissheit, über die Art und Weise wie dieser Ort erreicht wurde. Selbst jene die voller Überzeugung davon berichten, wie sie von einem Schiff hier abgesetzt wurden, verdrängen vielleicht einfach die Realität, denn ich habe abgesehen vom Fährmann niemals jemanden hier angelegen sehen. Und - um korrekt zu sein - nicht einmal diesen. Er liegt einfach jeden Morgen aufs Neue vor Anker, unvermeidlich wartend wie das finale Schicksal.

In diesen ersten Tagen war ich dankbar für mein Leben und stellte nicht zu viele Fragen, aber je länger ich hier verweile, desto mehr Zweifel verdichten sich zu schweren Klumpen in meinem Hinterkopf: Was ist das für ein Ort? Was bedeutet meine Anwesenheit hier? 

Meine im Moment bevorzugte Theorie habe ich nach vielen Gesprächen mit anderen Reisenden herausgeformt: Ich denke diese Insel ist kein echter Ort, sondern eine geteilte Traumrealität, ein unechter Platz, den jene erreichen, die gerade bei sind ihr Leben zu verlieren oder ihren letzten Atemzug bereits getan haben. 
Es ist ein Ruheplatz um sich zu sammeln, um Frieden zu schließen. Wer dann bereit ist für die Weiterreise, der vertraut sich dem Fährmann an, der keine Bezahlung verlangt und niemals jemanden hierher zurückgebracht hat. 

Ich fürchte seine Verlockung genau wie die hölzernen Planken seines Schiffes. Und wer will es mir verdenken?
Ich sah, wie die Magie sich verformte, verdrehte, wie die Realität selbst aus der Fuge zu geraten schien. Was Holz war wurde zu Luft, was Metall war, transformierte zu Wasser. Mir ist selbst jetzt unbegreiflich, auf welche Weise das passierte, welches Prinzip dahinter steht. Es passt zu keiner der Lehren, die mir nahegelegt wurden. 

Was fange ich also an mit den Tagen, die alle gleich beginnen und nahezu identisch enden?
Weniger, als ich sollte. 

Ich habe meine bescheidenen Fähigkeiten bemüht um zu prüfen, ob sie irgendwelche permanenten Veränderungen durchlaufen haben, aber das scheint nicht der Fall zu sein, denn die mir bekannten Zauber funktionieren wie immer, die Grundprinzipien scheinen identisch soweit es sich durch mich beurteilen lässt. 
Ich habe Notizen hinterlegt, flüchtig bislang nur: Zu den verschiedenen Gebäuden, zu den Personen hier, zum Fährmann und auch zu den anderen Reisenden.

Vielleicht sollte ich all das ein wenig ordnen. Vielleicht ist es genau das, was ich brauche um jenen Ruhepunkt zu finden, den ich benötige, um mich dem Fährmann anzuvertrauen.
Aber ich kann nicht aufhören mich zu fragen: Was wenn meine ganze Existenz nur ein eingefrorener Moment ist, der sich in dem Moment auflöst, in dem ich mich entschliesse weiterzuziehen? 


 
Zuletzt geändert von Fel Maris am 08 Jul 2024, 13:30, insgesamt 1-mal geändert.
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Fel Maris
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Re: Die Insel der Nebel

Beitrag von Fel Maris »

Ich erinnere mich nicht mehr genau, was das Erste war, dass mein Misstrauen erregte, aber ich glaube es waren die Bewohner dieser Insel. Damit meine ich nicht die Reisenden, die allesamt - genau wie ich - auf irgendeine Weise hier ankamen und - anders als ich - nicht viel später dann auch schon der Verlockung des Fährmanns folgen und die Weiterreise antraten. 

Der Kontakt war .. glaubhaft, die oberflächlichen Gespräche die man eben so führt, wenn man an unbekannte Gestade gespült wird mit nicht mehr als ein paar Fetzen am Leib, genau das was man eben erwartet. An jenem ersten Abend war ich zufrieden zumindest einen provisorischen Schlafplatz ergattert zu haben. Ich will nicht behaupten, dass ich glücklich war, aber die Sorgen und das Bedauern sollten erst in den Wochen danach allmählich Einzug halten, vertraut in ihrer kühlen Hartnäckigkeit. Aber damals war ich froh noch am Leben zu sein. Fragen konnten warten.

Der Katzenjammer kam mit dem nächsten Morgen, mit der klaren Einsicht, dass mein bisheriges Leben ein abruptes, ungeplantes Ende erfahren hatte. Meine Verpflichtungen, meine Aufgaben, meine dünnen Freundschaften und vor allem auch mein Lehrmeister: Einfach davongewischt wie ein unbedeutendes Staubkorn auf einer nun in Ordnung gebrachten Tischplatte. 
Während die Sonne gemächlich aufging und die Insel mit Farben und Wärme füllte, realisierte ich, dass ich zum ersten Mal seit meiner Flucht aus Breitenbach wirklich allein war. Wohin ich von hieraus auch aufbrechen würde: Niemand würde meinen Namen kennen. Niemand die Umstände meines Aufwachsens, niemand die ungetilgte Schuld. 

Das war ein eigenartiger, machtvoller, wenn auch bittersüßer Gedanke: Ich hatte die Möglichkeit mich selbst neu zu erfinden. 

Jetzt, Wochen später, stelle ich fest, dass der Käfig etwas ist, was man mit sich trägt und selbst ein Schiffsuntergang wischt ihn nicht einfach fort. Es ist so leicht, so verführerisch in vertraute Gewohnheiten zu fallen, die über die Jahre wie Atemzüge wurden: Unwillkürlich und vertraut. 

Aber ich schweife ab.
Es brauchte drei Tage bis ich wirklich verstand, dass die Bewohner dieser Insel sich nicht an mich erinnerten: Wenn ein Tag neu anbrach, dann waren sie selbst wie erneuert, aller Eindrücke der vorherigen Stunden beraubt. Erst mit dieser Beobachtung verstand ich, dass es nicht nur die Bewohner waren, sondern die ganze Insel: Welche Spuren ich auch hinterlassen hatte, sie waren verblasst, sobald der neue Tag begann. 

Da verstand ich: Das hier ist kein echter Ort. 
Und damit kamen auch die Zweifel: Was bin ich dann?

 
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Fel Maris
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Re: Die Insel der Nebel

Beitrag von Fel Maris »

Was bin ich?
 Ein verwirrter Traum, der sich gerade auf der Schwelle zwischen Schlaf und Erwachen wälzt, unfähig das Eine oder das Andere zu umarmen? 
 Die letzten Gedanken einer Sterbenden, die in nachtblauer Tiefe einem eiskalten Grab am Boden der See entgegensinkt?
 Die Reste einer Seele, die die Schwelle bereits überschritten hat und nun nur noch darauf wartet das Urteil zu akzeptieren, Frieden zu machen mit sich, bevor sie bereit ist für die Weiterreise an einen Ort von dem noch niemand zurückgekehrt ist?
 Jeder Morgen verspricht mir aufs Neue: Nein. Das ist ist normal. Du hast überlebt. Sieh dich um und sammle, erhole dich, bevor du weiterziehst. 
 Aber ich kann die Augen nicht davor verschliessen, wie ich das gleiche Gespräch ein weiteres Mal mit der Frau hinter dem Tresen in der kleinen Markthalle führe, wieder die gleichen Anekdoten vernehmend, die ich bereits zwei Dutzend Mal vernommen habe. Sie sind mir bald so vertraut, wie die Stationen meines eigenen Lebens und ich lächle pflichtschuldig, während ich ein weiteres Mal um Material handle. Tinte. Papier.
 Es wird höchste Zeit, dass ich mich aufraffe, das Beste aus diesem Ort hier mache, Hausaufgaben erledige, die schon viel zu lange darauf warten, abgeschlossen zu werden. 
 Der Anlass für diesen Entschluss war fast schon banal: Das Zusammentreffen mit einem Reisenden, der die Magie gerade erst zufällig für sich entdeckt hatte und nun mit der staunenden Zuversicht eines Welpen den Vorgaben in dem zerfledderten Buch folgte. 
 Mir fehlen die Worte, um genau zu beschreiben, wie ich mich fühlte, als er Reagenzien zerrieb, Worte rief und eine Wirkung manifestierte, als wäre es gar nichts. Einfach so. 
 Aber ich kann mir vorstellen, dass ich gelb im Gesicht wurde vor Eifersucht und Neid. Welches Recht hatte dieser Mann ohne die geringsten Studien, ohne Stunden über Stunden an Meditation und erschöpfenden Übungen einen solchen Effekt einfach aus dem Ärmel zu schütteln? Wo war die Gerechtigkeit dabei?
 Der Gedanke riss mich aus dem schäumenden Selbstmitleid - die Erinnerung daran, wie Jerwalson mich für eine sehr ähnliche Frage höhnisch verlacht hatte, war auch jetzt, Jahre später, noch wie eine nicht verheilte Wunde. 
 Keine Gerechtigkeit für mich. 
 Aber dieses Zusammentreffen war ausreichend, um den Entschluss in mir reifen zu lassen, meine gesammelten Kenntnisse einmal zu ordnen, zu prüfen, sie niederzuschreiben. Meine eigenen Notizen, die - hoffentlich - mit mir gemeinsam wachsen würden.
 Selbst wenn ich nur ein zuckender Gedanke kurz vor dem Verlöschen sein sollte.
 Mehr Licht! 
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Fel Maris
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Re: Die Insel der Nebel

Beitrag von Fel Maris »

'Mach die Augen auf.'

Ein neuer Tag. Eine vertraute Routine. Es ist eigenartig, wie präsent die stetige Gleichförmigkeit dieser kleinen Insel wird, wenn einem diese Eigenheit erst einmal bewusst geworden ist. Wieviele Monate meines Lebens habe ich mit eintöniger, langweiliger Arbeit verbracht ohne mich über gewöhnlichen Groll hinaus zu beschweren? Wenn ich ehrlich mit mir selbst bin, dann kann der Unterschied zu meinem Erlebnis hier nicht besonders groß gewesen sein: Immer der gleiche Tagesablauf, feindselige oder gelangweilte Blicke von Fremden, bestenfalls vom Sehen vertraut. 
Dazu ein Gewicht, dass es hier nicht gibt: Wenn ich meiner Verärgerung hier freien Lauf lasse und der geizigen Kräuterhändlerin meine Meinung geige, wird sie mich am nächsten Tag doch begrüßen, als hätte sie mich noch nie vorher gesehen.
In gewisser Weise, denke ich, dass exakt das auch der Fall ist. 

Jerwalson, daran hege ich keinen Zweifel, wäre enttäuscht und das ist ein Gedanke der mich mehr bedrückt, als er sollte. Der Mann war mein Lehrmeister, aber kein Freund. Niemand, dem ich mich anvertraut hätte über die Alltäglichkeiten der Ausbildung hinaus. Er trug, denke ich, die Uniform mit noch mehr Verachtung als ich. Ein weiteres offenes Rätsel, eines, das nun nicht mehr drängt und vermutlich nie gelöst werden wird.

All das ist Vergangenheit. Ich sollte froh sein über diese Herausforderung. Die Wahrheit ist, dass ich jeden Tag ein wenig entnervter erwache, mich in meiner eigenen Routine festbeisse: Muscheln sammeln, die Beete bestellen, Gemüse verkaufen und gegen Reagenzien, Tinte und Papier eintauschen. Und dann schreiben: Es ist frappierend, wieviel ich bereits vergessen habe: Ich bekomme den Enigmatischen Dualismus Jerwalsons kaum noch zur Hälfte zusammen: POR und ZAN als Gegenstücke, aber stand NOX nun gegensätzlich zu XEN oder MANI? Es ist genau wie vor einem Jahr: Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger habe ich den Eindruck davon zu verstehen. Das System, was er darin sah - oder vorgab zu sehen - erschließt sich mir einfach nicht.

Vielleicht morgen. Ich habe das Gefühl ich bin reich an Tagen.



 
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Fel Maris
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Re: Die Insel der Nebel

Beitrag von Fel Maris »

'Sieh dich um.'

Es ist eigenartig, wie mit den Jahren manche Erinnerungen vollkommen ausgewaschen sind, dünner und fadenscheiniger noch als die von der Armee Auensteins gestellte Unterwäsche. Andere dagegen haben ihre Leuchtkraft bewahrt, oder - wie Jerwalson stets zynisch bemerkte, wann immer sich Gespräche in diese Richtung entwickelten - sie haben sich allmählich verwandelt und erwecken damit fälschlich einen Anschein von Authentizität. 

Ich denke noch immer, dass er sich darin irrt, dass es Eindrücke gibt, deren Wahrhaftigkeit mühelos dem Zahn der Zeit widersteht, so prägend und machtvoll, dass sie selbst nach Jahrzehnten nichts von ihrer Schärfe verloren haben. Ich wünschte ich könnte das Gesicht meiner Mutter dazuzählen, aber wenngleich ich mich mühelos an ihre letzten Worte an mich erinnern kann, ist ihr Gesicht selbst ins Vergessen geraten. 

Ich erinnere mich auch an die Trauer, an den Schrecken, an das Gefühl von Schuld und Verrat. Sie ging um einem Traum nachzujagen, auf der Suche nach ihrem Geliebten, der - wie ich sehr viel später erfahren sollte - nicht einmal seinen richtigen Namen genannt hatte. Mein Vater. 
An manchen Tagen frage ich mich, wie weit weit ihre Suche sie gebracht hat, ob sie vielleicht noch immer irgendwo da draussen ist. Ob es eine neue Familie gibt, andere Halbgeschwister, die den Luxus hatten mit einer Familie aufzuwachen. 

Ein Vierteljahrhundert ist verstrichen und vielleicht hat sie ihr Glück gefunden. Aber ein Teil von mir, der sich in der Erinnerung an diese ersten Tage zusammenduckt und unzulänglich fühlt, hofft, dass sie noch immer wandert und sucht, vergeblich von einem Ort zum anderen treibend, wie ein welkes, schon lange dem Baum entrissenes Blatt.

Ich sollte einen ähnlichen Groll auch gegenüber diesem Fremden hegen, diesem umherziehenden Elfen. Aber ich habe ihn nie kennengelernt, es gibt keine Erinnerungen, an die ich meine Gedanken heften kann. Aber ich denke auch er ist noch irgendwo da draussen, alterlos wie alle seines Volkes.

Alterlos.
Wie diese Insel, wo jeder Tag seinem Vorgänger gleicht. Ich habe mich begonnen zu fragen, ob es hier ohne Reisende überhaupt Tage gibt. Oder: Ob das hier überhaupt existiert ohne einen Besucher. Wenn ja: Wird irgendwann jemand nachsehen, warum ich hier verweile ohne mich dem Fährmann anzuvertrauen? An manchen Abenden habe ich das Gefühl von unsichtbaren Geistern angestarrt und verurteilt zu werden, namenlosen Schemen aus Quecksilber, die sich zwischen den Schatten bewegen. 

Jerwalson würde lachen und lästern. Aber ich kann den Schauder nicht abschütteln, der mich in diesen Momenten überfällt. 
 
Zuletzt geändert von Fel Maris am 05 Jul 2024, 08:02, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Die Insel der Nebel

Beitrag von Fel Maris »

Die Gleichförmigkeit der Insel lädt dazu ein sich treiben zu lassen und jeden Morgen, direkt nach dem Erwachen, gebe ich diesem Gefühl nach, bleibe liegen und lausche mit geschlossenen Augen auf das Geschrei der Vögel, auf das Plätschern des Regengusses, der sich zuverlässig jeden Morgen einfindet und auch auf Gespräch der beiden Händler, das ebenfalls immer gleich abläuft. Sie haben Erinnerungen, aber es ist für mich unmöglich zu ergründen, ob sie sich auf tatsächliche Ereignisse beziehen, oder nur dünne Tünche über eine spärlich gedeckten Leinwand sind. 

Für diese Personen bin ich eine Fremde und ein Tag ist nicht genug um daran etwas zu ändern.

Die große Frage ist, ob ich meinen Erinnerungen tatsächlich trauen kann. Die reine Existenz beweist noch gar nichts - genau wie die Händler sich an ein "gestern" erinnern, tue ich das eben auch. Niemand garantiert, dass nicht 1 Tag dazwischenlag, der ohne Spuren wieder verschwunden ist. Ein Tag, oder deren Einhundert. Ein Jahr. Würde ich den Unterschied bemerken?
Für meinen Seelenfrieden bilde ich mir ein, dass ich einen kontinuierlichen Verlauf an meinen persönlichen Gegenständen ablesen kann, die - wie ich auch - vermutlich einem anderen Gesetz unterworfen sind: Meine Aufzeichnungen bleiben, die erhandelte Kleidung bleibt ebenso. Sofern das System nicht in einer Art und Weise gebaut ist, um auch solche Details zufriedenstellend fälschen zu können, kann ich mich weitgehend sicher fühlen: Das was ich als Tage empfinde, sind tatsächlich auch Tage. 
Weitgehend. Nicht vollkommen, natürlich. 

Ein System kann unmöglich vollständig verstanden werden, solange man selbst ein Teil des Systems und auf dessen Werkzeuge angewiesen ist.

Ironischerweise erinnere ich mich an diese Lektion noch gut, daran wie Jerwalson dieses Zitat nach einer Expedition benutzte, die als einfache Übung für die Rekruten gedacht war und darin endete, dass sich zwei eigentlich freundliche Kompanien gegenseitig beschlichen. Damals war der Anlass - natürlich - die vollkommene Verwirrtheit der führenden Offiziere. Aber es passt auch sehr gut auf diese meine aktuelle Situation.

Aber nun: Genug geträumt. Es gibts nichts zu tun, aber das will erledigt werden. Ich habe Sorge ich könnte mich sonst in der Zwischenheit doch noch in einen der Anwohner hier verwandeln.


 
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Re: Die Insel der Nebel

Beitrag von Fel Maris »

Ein weiterer Morgen folgt einem Abend ohne andere Reisende. Es ist nun Tage her, dass ich ein anderes menschliches Gesicht als die Händler zu sehen bekommen habe und ich kann spüren, wie das an mir nagt. 
Das ist aus sich heraus bereits eine interessante Beobachtung: Während meiner Zeit auf den Strassen Grauhafens war ich die allermeiste Zeit mir selbst überlassen, scheute auch vor den Banden von Dieben und Trickbetrügern zurück, unter denen ich mich in Breitenbach noch so selbstverständlich bewegt hatte. Aber damals war die Einsamkeit selbst gewählt, kein Fakt der mir von aussen aufgedrückt wurde.

Hier, auf der Insel der Nebel, ist sie unvermeidlich und ich spüre jeden Tag ein mehr wenig Widerwillen die immer gleichen Gespräche zu führen. Nach den ersten Tagen peinlicher Berührtheit, spüre ich ein eigenartiges Ressentiment, eine frustrierte Verachtung für diese Menschen. Es wäre zu einfach nun kleinen Grausamkeiten Raum zu gewähren, Grobheiten aus Langeweile oder Ärger zu führen, immer in der Gewissheit, dass alles was man tut am nächsten Morgen ausgelöscht sein wird. 
Ein Teil von mir _ist_ neugierig: Würde ein neuer Tag noch immer so unverändert beginnen nachdem ein Feuer die Häuser hier verschlungen hat? 

Das sind beunruhigende Gedanken und ich konzentriere mich lieber auf die Arbeiten: Nach meinem Scheitern den Enigmatischen Dualismus Jerwalsons präzise zu beschreiben, habe ich mit etwas Einfacherem begonnen: Eine Auflistung der Worte der Macht, jeweils mit Erläuterungen und Kommentaren. Die Form ist armselig: Das Papier ist minderwertig und teilweise muss ich auf Ränder schreiben, aber .. es ist besser als nichts. Es ist ein Fortschritt und damit wertvoll und lieb auf einer Insel auf der die Zeit sonst stillzustehen scheint.

Vielleicht sollte ich ja beten. Wer weiss.
 
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Re: Die Insel der Nebel

Beitrag von Fel Maris »

Breitenbach, die Stadt in der ich die ersten Jahre meines Lebens verbrachte, war mit den Tugenden im Kopf gegründet worden. Die innere Mauer, auch dieser Tage noch weitgehend unbeschädigt erhalten wenngleich die Stadt sich längst über ihre Begrenzung hinaus ausgedehnt hat, besitzt insgesamt acht Türme. Jeder dieser Türme trägt den Namen eines der Erzengel und ist entsprechend auch einer der acht Tugenden gewidmet. Es ist nun siebzehn Jahre her, aber ich erinnere mich noch immer lebhaft an die bemalten, mit Ornamenten, Plastiken und Sinnsprüchen verzierten Fassaden. 
Ich hatte im Zuge meiner erzwungenen Dienstpflicht einige Gelegenheit mehr über die inneren Strukturen Breitenbachs zu erfahren: Zumindest nominell sind die Türme der Erzengel auch der Sitz von je einem "Wahrer der Ordnung" einer Tugend, jeweils gewählt aus den Reihen ihrer Gefolgschaft. Das alles hat mit dem Glauben an den Herren sehr wenig zu tun, die Verbindung ist bestenfalls lose und im Laufe der Jahrzehnte scheint mir der ursprüngliche Gedanke sehr in Richtung reiner politischer Masche verwandelt worden zu sein.

Wie dem auch sei: Die allermeisten Bewohner Breitenbachs ordnen sich zumindest formell einer Tugend zu und sind dann eben auch dafür verantwortlich den Wahrer zu wählen. Ich erinnere mich nicht welcher Tugend meiner Mutter folgte und ich hatte sehr wenig Kontakt mit dem Glauben über die oberflächlichen Symbole des Alltags hinaus. Nachdem sie sich auf die Suche nach ihrem verlorenen Geliebten gemacht hatte, waren alle zarten Ansätze von Religiosität ohenhin zum Verkümmern verdammt: Auf der Straße wurden die Tugenden bestenfalls benutzt, um ein paar Münzen von den Devoten zu erbetteln, der einzige echte Glaube war der an einen gefüllten Magen.

Ich lernte wenig über die richtigen Gebete, dafür viel darüber den Kopf unten zu halten, sich vor Autoritäten zu beugen, wann immer es notwendig war und schamlos zuzugreifen, wann immer möglich. 
Als ich Breitenbach schliesslich verließ: Verbannt, meine zerschmetterte linke Hand eine Strafe für mich und eine Warnung für alle, die meiner ansichtig wurden, fluchte ich ausgiebig im Namen der Erzengel. Das, denke ich heute, ist das Gleichgewicht aller Dinge: Aktion und Reaktion, Bewegung und Gegenbewegung.
Es liegt eine furchtbare Kraft in der Entschlossenheit eines Mannes, der sein Tun als gerechtfertig ansieht.

In Grauhafen hätte ich, dieser Dynamik folgend, irgendwann ein trauriges Ende nehmen können, aber ich hatte Glück und fand den Weg zum Handelshaus Telketh. Das hatte seinen ganz eigenen Preis, aber es brachte mich auch zum ersten Mal seit den frühen Jahren meiner Kindheit wieder in Kontakt mit dem Glauben an den Herren.
Ich saugte die Gebete und Rituale auf, die Lebensweise, die sich auf ganz andere Art und Weise an den Tugenden (und den Sünden) orientierte, als ich es noch vage von früher in Erinnerung hatte. Aber ich blieb opportunistisch distanziert: Das hier war was man von mir erwartete, insbesondere nachdem man mir eine so außergewöhnliche Chance gegeben hatte und ich war absolut bereit das Notwendige zu tun für einen gefüllten Magen, ein echtes Bett und ein kleines Zimmer.

Dennoch: Mit der Zeit wurden die kleinen Rituale zur Gewohnheit, prägten sich in den Alltag ein mit der gleichen Selbstverständlichkeit, wie sie auch für Essen und Trinken aufgebracht wurde. 
Ich bin bis heute unsicher, ob das tatsächlich als "Glaube" gilt. Mein einziger Versuch diese Thematik mit Jerwalson zu besprechen, endete in einer nahezu endlosen Tirade an deren Ende er schliesslich das bekannte System von Worten der Macht und Reagenzien mit den Handlungen von betenden Priestern verglich: Beide auf ihre Weise vollkommen ahnungslos, abhängig von einer höheren Autorität, die das eigentliche "Tun" nach der Opfergabe dann in Angriff nimmt. Das erstickte all meine Ambition Glaube mit ihm zu besprechen.

Aber letztlich denke ich, dass Religion für die allermeisten Menschen außer einem kleinen Zirkel von tatsächlich Erwählten, sehr abstrakt und entfernt ist: Rituale und Vorgaben, die von einer höheren Stelle angewiesen werden und denen man dann eben folgt. Ja, man bittet den Herren um Beistand, um Einsicht, um günstige Winde oder dumme Kunden, die man über das Ohr hauen kann, aber nach meiner Erfahrung erwartet niemand tatsächlich, dass der Herr tätig wird und etwas tut. Aber: Es ist besser den kleinen, allgemein akzeptierten Aufwand zu betreiben und sei es allein aus abergläubischer Versicherung, dass man nicht versehentlich den Zorn durch Unterlassung erweckt.

Was hat das alles mit dem Hier und Heute zu tun?

Jemand hat diese Insel in den Nebeln geschaffen, hat die Regeln definiert und dafür Sorge getragen, dass jeder Tag unverändert neu beginnt. Aber wer? Und wozu? Mein Bauchgefühl sagt mir, dass ein solcher Ort nicht einfach als grausame Spielerei existiert, sondern zu einem ganz bestimmten Zweck, eine Funktion innehat. Vielleicht ist es genau das, was ich zuerst vermutete: Der Übergang zum Nachleben, eine kurze Pause für die erschöpfte Seele um sich zu sammeln, um Kraft zu schöpfen, bevor die Reise hinter die Schleier ansteht. Um zu akzeptieren und das Angebot des Fährmanns schliesslich anzunehmen, der nichts über das Ziel verraten möchte.

Jeden Tag schrecke ich davor aufs Neue zurück.

Vielleicht wäre es einfacher, wenn ich den Glauben in meinem Herzen tragen würde, statt nur wie ein Gewand, das man eben überstreift, wo es bequem und passend ist. 
Aber das ist nicht, wie ich aufwuchs.
Das ist nicht, was ich lernte.
Das ist nicht, wer ich bin. 

Vielleicht bedeutet das aber auch, dass ich hier auf ewig gestrandet bin.
 
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Fel Maris
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Re: Die Insel der Nebel

Beitrag von Fel Maris »

Ein weiterer Tag eintönige Gleichförmigkeit auf der Insel. Auch heute, so scheint es, wird es keine Reisende an diese Gestade spülen, aber ich denke ich habe mich - zumindest für den Moment - damit arrangiert. Ich muss mir einfach meine eigene Abwechslung schaffen und die kann nicht ausschliesslich aus Arbeit bestehen.

Die Insel ist, wenngleich zu Fuß binnen weniger Minuten umrundet, ein ganz hübsches Fleckchen, eine interessante Mischung von Eindrücken, die sich auf engem Raum zusammendrängen. Das Wetter ist, vom morgendlichen Regen einmal abgesehen, auch durchaus angenehm, sobald die aufsteigende Sonne die Feuchtigkeit vom Sand geleckt hat, lädt der Strand regelrecht zum Verweilen ein und erlaubt einen Blick über die offene Wasserfläche überall umher.

Breitenbach, Grauhafen und Rossensprung liegen allesamt am Lauf der Usser, ein schiffbarer Fluss, der jeden Frühling noch ein Stück weit anschwillt und bisweilen sogar die Auen großflächig überschwemmt. Rossensprung liegt direkt an der Mündung der Usser zum Meer hin, oder besser: Die Stadt wuchert im sumpfigen Delta.
Ich bin also durchaus mit dem Anblick eines großen Wassers vertraut - aber dieser Anblick ist einfach etwas anderes, als ich von der müßigen Betrachtung des Horizonts gewohnt sind: Hier gibt es keinen.

Der Himmel, der hier jeden Tag die gleichen Wolkenmuster trägt, geht mit der Entfernung von der Insel ohne scharfen Übergang in dichte, träge driftende Nebel über. Dieser Nebel ist genauso statisch in seiner Natur wie die gesamte Insel und damit vermutlich das gesamte Areal: Nichts verändert sich. Nach einem Tag beginnen alle Abläufe wieder von vorn.
Unabhängig von Wetter und Uhrzeit bleibt der Nebel bestehen, beschreibt eine Grenze ausserhalb meiner Reichweite.

Es ist nicht so als würde ich keine Neugierde verspüren, aber mich schaudert weiterhin beim Gedanken mich hölzernen Planken für eine Reise ins Ungewisse anzuvertrauen. Und ich habe niemals gelernt zu schwimmen.

Niemals gelernt zu schwimmen.
Und doch bin ich hier.

Das ist eine Erinnerung, der ich mich nicht stellen möchte, aber sie hängt über mir, wie meine eigene schwere Gewitterwolke.

Die “Siebentrutz” hatte ihre Reise von Rossensprung aus angetreten, Teil jüngerer Bemühungen der Grafschaft diplomatische Kontakte jenseits des eigenen Terrains zu erschließen - immer mit dem Gedanken den langjährigen Konkurrenten Siebensteig damit endlich ausstechen und die geforderte Einheit wiederherzustellen.

Die Aufgabe der Armee war neben dem Schutz des Botschafters auch die allgemeine Präsentation und aus irgendeiner Laune des Schicksals war meine Kompanie für diese Aufgabe ausgewählt worden.

Und abgesehen vom abergläubischen Gemurmel der Matrosen, die mir stets schele Blicke zuwerfen, war die Reise auch ereignislos verlaufen - bis zu jenem Abend.
Während der Rest meiner Kameraden sich mit Kartenspielen die Zeit vertrieb, hatte ich das Glück, die eingeschränkte Laune Jerwalsons ertragen zu dürfen.

Bis zu jenem Abend, als die Regeln sich änderten.

Ein weiteres Mal demonstrierte er mir Sammlung, Verdichtung und Konzentration von Mana, die Bindung in Objekte hinein - etwas, was sich bis dahin vollkommen meinem Verständnis entzog (und es noch heute tut). Und dann .. geschah etwas.

Ich kann es kaum in konkrete Eindrücke fassen, aber ich erinnere mich an das ungläubige Entsetzen in den Augen meines Lehrmeisters, die vollkommen konfuse Verwirrung, ein Ausdruck der endlich einmal das selbstzufriedene zynische Lächeln von seinem Antlitz wischte. Ich hätte Genugtuung in diesem Augenblick finden können, aber ich war selbst dabei um Atem zu ringen, gebeutelt von unsichtbar bleibenden Mächten, deren Vorbeiziehen meinen Geist wirbeln ließ. Für einen Moment, ich bin bereit darauf zu schwören, konnte ich die Magie sehen und die absurde Art und Weise, wie sie sich in eine unmögliche Richtung verbog. Das, wurde mir bewusst, musste die transitive Eigenschaft der astralen Ebene sein. Oder auch nur eine aus Panik geborene Halluzination.

Alles .. bewegte sich.

Ich habe keine bessere Erklärung dafür, keine passenden Worte für die Transformation, die ihre Kraft aus der ungebundenen Kraft meines Lehrmeisters zog. Holz wurde zu Wasser, Metall wandelte sich in Luft, eine Kerzenflamme transformierte vor meinen ungläubigen Augen in eine sich windende Ranke.
Die Fassungslosigkeit ist das Letzte, an das ich mich erinnere, während die “Siebentrutz” um mich herum auseinanderbrach.

Danach gab es nichts, bis ich die Augen am Strand dieser Insel wieder öffnete.

Allein.
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Re: Die Insel der Nebel

Beitrag von Fel Maris »

Die Geschichte Ussarias - des Landes das zwischen zwei Gebirgszüge im Norden und Süden eingeklemmt liegt und dem Lauf der Usser bis zur Mündung folgt - erstreckt sich über einen Zeitpunkt von mittlerweile 450 Jahren. Will man der offiziellen Geschichtsschreibung glauben, dann wurde das Land damals von unerschrockenen Siedlern erobert, die vom Meer kommend, das lange Tal in Besitz nahmen.

Es bleiben ein paar Fragen offen, vor allem über die Dinge, die nicht erwähnt werden: Woher kamen diese Siedler? Es gibt keinerlei Erwähnung ihrer ursprünglichen Herkunft, dann und wann zu findende Details machen eher den Eindruck nachdrücklich erdachter Rechtfertigung als fundierter Forschung.
Außer Frage steht, dass die Siedler hier recht bald auf ein paar Stämme von kleinwüchsigen und schwächlichen Orks stießen - zumindest wird der Name gebraucht, auch wenn die Beschreibung des Massakers an dem primitiven Volk mich zweifeln lässt: Das kann kaum mit dem modernen Bild eines Orks, wie es mir während meiner Ausbildung vermittelt wurde, in Verbindung gebracht werden.

Wie dem auch sei, das ganze langgestreckte Tal wurde schließlich erobert und besiedelt, Siedlungen wie Breitenbach, Beiring, Grauhafen und Rossensprung begründet, um letztlich zu unterschiedlich beeindruckenden Städten zu wachsen. Die offizielle Geschichtsschreibung Ussarias beginnt mit der Anlandung der Siedler, im Jahr 73 kam es dann zu der großen Spaltung, ein Ereignis, das auch heute noch bestimmenden Einfluss über die ganze Region hat: Der Erbfolgestreit zwischen zwei Brüdern über die Grafenkrone Ussarias eskalierte und mündete in einem Bürgerkrieg. An dessen Ende stand die Aufspaltung Ussarias in zwei sich gegenseitig nicht anerkennende neue Grafschaft, die offiziell beide noch immer den Namen “Ussaria” führen, heute aber viel mehr als “Siebensteig” und “Auenstein” bekannt sind.

Die isolierte Lage des Tals, begrenzt durch Gebirge auf 3 Seiten und durch das Meer auf der vierten, erlaubte es nun über die kommenden Jahrhunderte hinweg dieser Fehde ungestört zu frönen - die politische Situation ist auch heute noch weitgehend unverändert. Die zahlreichen Kleinkriege haben die Grenze oft ein Stück in diese oder jene Richtung verschoben, aber letztlich vermochte es keine Seite die Oberhand zu gewinnen.

Rossensprung ist der einzige nennenswerte Hafen in Richtung des Meeres, konkurrenzlos trotz der Nachteile die sich durch die Lage im Sumpfdelta der Usser ergeben: Feuchtigkeit ist allgegenwärtig, liegt so dick in der Luft, dass beständig Wasser an den Wänden kondensiert oder von den Fenstern perlt. Nicht zu vergessen, dass die Stadt immer dabei ist im Boden zu versinken.

Aber das ist gar nicht worauf ich hinaus möchte.

Der ganze Landstrich brät seit Jahrhunderten im eigenen Saft mit nur geringem Austausch mit anderen Ländern. Kultureller Austausch findet nach meiner Einschätzung nahezu ausschließlich in Rossensprung selbst statt, einfach über hier anlegende Schiffe. Es darf also nicht verwundern, dass ich während meiner Zeit in Breitenbach oder Grauhafen keinen einzigen Nichtmenschen zu Gesicht bekam, erst in Rossensprung kam es zu einigen wenigen Begegnungen.
Ich scheue mich fast, es überhaupt so zu nennen: “Sichtungen” ist ein vermutlich passenderes Wort.

Von diesen fremden Völkern ist das der Elfen eindeutig am häufigsten anzutreffen: Es gibt eine kleine Gemeinschaft von Zwergen in Beiring - aber ich habe die Hauptstadt Siebensteigs nie mit eigenen Augen gesehen. Einem Schiff scheint dieses Volk sich aber nur sehr selten anvertrauen zu wollen. Orks kann man bestenfalls in Käfigen bewundern.

Elfen besuchen die Region häufig genug, dass es zwar so gut wie keine mir bekannten festen Einwohner dieses Volkes gibt, aber dafür einiges an Aberglauben - einiger lächerlich ehrfürchtig, anderer offen feindselig oder herabwertend.

Mein eigenes Erbe war für lange Jahre etwas abstraktes, bedeutungsloses im Hintergrund: Natürlich wusste ich durch die schwärmerischen Erzählungen meiner Mutter von diesem Elfen, der - vermutlich - mein Vater sein musste. Aber ich besaß keine magischen Augen, keine spitzen Ohren, keine angeborene, majestätische Eleganz. Ganz im Gegenteil: Ich war ein Kind, das rasch hinter anderen Kindern meines Alters zurückfiel. Meine Erinnerungen an diese Zeit sind so gut wie nicht vorhanden, einiges existiert nur durch Erzählungen meiner älteren Halbbrüder (die nun selbst schon nahezu vergessen sind), aber das scheint ein durchgehendes Thema gewesen zu sein: Ich lernte später laufen und sprechen, ich war länger eine hilflose Bürde als meine Geschwister.

Während meine Gefährten der späteren Jahre allmählich zu Erwachsenen heranwuchsen, blieb ich noch ein Kind.
Zurückblickend lässt sich das leichter einschätzen, zumindest was die ersten Jahre in Grauhafen angeht: Das war 433, ich war bereits sechzehn Jahre alt, passte aber körperlich und auch geistig viel eher in ein Rudel von Zwölfjährigen.

Ich erinnerte mich erst wieder bewusst an meine Herkunft, als ich tatsächlich aufhörte ein Kind zu sein: Zu den sichtbaren Veränderungen gehörten auch die dezenten Ohrspitzen, Aspekte in meinem Antlitz die schon immer dagewesen waren, prägten sich deutlicher hinaus.
Ich stelle mir vor, dass das in einer anderen, mehr offenen Gesellschaft nahezu unbeachtet geblieben wäre, aber die allermeisten Menschen in Auenstein hatten Elfen so selten einmal gesehen, dass mein Anblick trotz der eher subtilen Anzeichen fälschlich als vollständiges Elfenblut verstanden wurde.

In gewisser Weise amüsant: Mein einziges Zusammentreffen mit einem echten Elfen schlug mir die Unterschiede regelrecht ins Gesicht: Die beeindruckende Größe im Vergleich zu mir, die ungewöhnliche Hautfarbe, die fremdartigen Züge und die Sprache. Nie in meinem Leben war ich mir selbst meiner Unzulänglichkeiten und Makel so bewusst, wie vor dem scharfen Auge des elfischen Händlers.

Er war nicht einmal unfreundlich. Aber die Mischung aus Mitleid und offener Verachtung stach.
 
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