Die Wand aus Eis
Haldrons wissen um die Elemente des Landes ist tiefgründig und uralt, geerbt von Generationen von Ahnen, die vor ihm die Pfade der Wildnis beschritten haben. Seine Fähigkeit, durch die Anrufungen dieser Ahnen feste Mauern aus dem zitternden Boden zu erheben, hat seinem Volk unzählige Male den Sieg in den gnadenlosen Schlachten des Nordens gesichert. Er ist jedoch kein Meister der Erde selbst, sondern ein demütiger Vermittler, ein Kanal, durch den die uralte Kraft des Bodens, die unter den Füßen der Trymm'Tack bebt, durch die Gunst der Ahnen nutzbar gemacht wird. Doch selbst in dieser vertrauten Macht, in der er so lange Zuflucht gefunden hat, regt sich in Haldrons unruhigem Herzen eine neue, unwiderstehliche Faszination – eine, die ihn von der vertrauten Wärme des Bodens weg und hin zur kristallinen, alles verschlingenden Kälte des Eises zieht.
Das Leben im eisigen Griff des Nordens, wo sturmgepeitschte Winde mit der unbarmherzigen Kraft eines wütenden Gottes über schneebedeckte Gipfel heulen und Gletscher wie schlafende Riesen in ihren eisigen Betten knirschen, hat Haldrons Geist geformt, ihn gezeichnet mit der Härte des Winters und der unbezwingbaren Wildheit des Landes. Jahrelang hat er das mystische Lied der gefrorenen Welt studiert: das knisternde Flüstern des Eises, das sich in dunklen Spalten ausdehnt und die Erde in seinem kalten Griff gefangen hält, das klagende Heulen des Windes, der über spiegelglatte Seen streicht, als würde er die Geister der verlorenen Seelen tragen, und das leise Knirschen des Schnees unter den Füßen der Bären, ein Echo der uralten Macht der Wildnis. Er verbringt unzählige Nächte unter dem wirbelnden, gespenstischen Tanz des Nordlichts, beobachtet, wie sich scharfkantige Eiszapfen wie kristallisierte Tränen aus dem Nichts bilden und reißende Flüsse zu starren, bläulichen Adern erstarren, die die Landschaft wie die Venen eines sterbenden Riesen durchziehen. In seinen Träumen sieht er nicht mehr nur Mauern aus grobem, erdigem Stein, sondern aus schimmerndem, undurchdringlichen Eis, das das ferne Licht der Sterne in tausend funkelnden Facetten bricht, ein Bollwerk gegen die Dunkelheit und die Schrecken der Nacht. Diese Visionen zehren an ihm, flüstern von einer neuen, ungezähmten Macht, die in der Kälte lauert, und drängen ihn mit unerbittlicher Gewalt dazu, seine vertrauten Anrufungen neu zu formen, sie in die eisige Essenz des Nordens zu tauchen, um die Ahnen zu bitten, ihm auch diese zu gewähren.
Doch diese Transformation ist keine leichte Aufgabe, kein einfacher Wechsel von einem Element zum anderen. Die Geister des Steins sind uralt, beständig und treu, ein Fundament, auf das er sich immer verlassen kann, ein unerschütterliches Bollwerk gegen die Stürme des Lebens. Die Geister des Eises hingegen sind flüchtig, unbeständig und doch von einer unerbittlichen, schneidenden Stärke, die alles zerschmettert, was sich ihr in den Weg stellt. Um diese neue Macht zu ergründen, um die Gunst der Ahnen für diese fremde Kraft zu erlangen, zieht sich Haldron tief in eine versteckte Eishöhle zurück, einen Ort, der nur den abgehärtetsten Trymm'Tack bekannt ist – ein eisiges Herz im Bauch des Berges, wo die Kälte herrscht wie ein grausamer König. Dort, umgeben von der beißenden, klirrenden Kälte, die ihm den Atem raubt und seine Knochen bis ins Mark gefrieren lässt, und dem leisen, aber stetigen Murmeln des gefrorenen Wassers, das wie die Flüsterstimmen der Eisgeister aus den Wänden sickert, beginnt er seine Rituale. Er opfert nicht nur das übliche Blut und die feierlichen Gebete an die Ahnen, sondern auch einen Teil seiner eigenen inneren Wärme, seiner menschlichen Behaglichkeit, um die erbarmungslose Kälte vollends zu umarmen, sie in sich aufzunehmen, um mit ihr eins zu werden. Mit seinem Holzstab, gefertigt aus dem harten Stiel der Axt seines Vaters, ein Erbstück, das die Stärke und den Willen seiner Vorfahren verkörpert, schlägt er wieder und wieder auf die gefrorenen Wände, lauscht dem scharfen Echo, das wie das Wehklagen gefangener Geister klingt, und versucht, die klangliche Sprache des Eises zu entschlüsseln – das Knistern, das Knacken, das tiefe Grollen der Gletscher, ein Echo der uralten Macht des Winters.
Tage verschmelzen zu Nächten, und die Zeit verliert in der ewigen Kälte ihre Bedeutung. Haldrons Hände sind rau, blutig und rissig von der unerbittlichen Kälte, seine Augen rot unterlaufen und von Schlafmangel gezeichnet, sein Atem bildet dichte, gefrierende Wolken, die sich wie Geister in der eisigen Höhlenluft auflösen. Er singt die uralten, erdverbundenen Lieder der Trymm'Tack, die von der Standhaftigkeit des Steins und der unerschütterlichen Kraft der Ahnen erzählen, doch er mischt neue, heisere Klänge darunter, die dem scharfen Knistern von Gletschern gleichen, die sich langsam und unaufhaltsam verschieben, oder dem spitzenden Geräusch fallender Eiszapfen, die wie tödliche Speere von der Decke hängen. Immer wieder versucht er, seine vertrauten Anrufungen der Ahnen zu nutzen, um Mauern zu erheben, doch mit einer neuen, inbrünstigen Intention – das Eis selbst zu rufen, es zu befehlen, ihm zu gehorchen, um die Ahnen zu bitten, ihm die Macht über diese fremde, kalte Kraft zu gewähren.
Eines Tages, als ein besonders heftiger Schneesturm die Höhle heimsucht und die Temperaturen auf das Äußerste fallen, in einen Bereich, in dem gewöhnliches Fleisch sofort erfrieren würde, spürt Haldron plötzlich eine tiefe, unmittelbare Verbindung. Nicht mehr zur harten, verlässlichen Erde, die er einst so gut kannte, sondern zur beißenden Kälte selbst, zu dem eisigen, schneidenden Wind, der ihn umgibt und ihn wie eine Geliebte umarmt. Es ist, als würde er die Seele des Winters in seinen Knochen spüren, das kalte Herz des Nordens in seiner eigenen Brust schlagen. Er hebt seinen Stab, und statt des gewohnten, tiefen Grollens des Bodens hört er ein scharfes, kristallines Knacken, als würden sich unzählige winzige Eiskristalle in der Luft formen und mit unhörbarer Geschwindigkeit zu einem lebendigen, atmenden Wesen heranwachsen. Dann, mit einem Brüllen, das selbst das Heulen des tosenden Sturms übertönt und die eisigen Wände der Höhle erzittern lässt, stößt Haldron seinen knorrigen Holzstab mit aller Macht auf den eisigen Boden der Höhle.
Was dann folgt, ist keine grobe, graue Steinwand, wie er sie unzählige Male durch die Anrufungen seiner Ahnen entstehen lässt. Mit einem widerhallenden, ätherischen Knistern, das wie das Zerbersten von tausend Glasglocken klingt, erhebt sich eine schimmernde, undurchdringliche Wand aus reinem, bläulich-weißem Eis aus dem Boden. Sie ist höher und glatter als jede Steinmauer, die er je erhoben hat, ihre Oberfläche glitzert im schwachen, geisterhaften Licht der Höhle wie Tausende von geschliffenen Diamanten, ein Bollwerk aus reiner, gefrorener Energie. Das Eis vibriert mit einer kalten, doch spürbaren Energie, und die Luft um sie herum wird schneidend scharf, wie der Atem Großvater Winters selbst. Haldron der Zornbringer hat es endlich geschafft. Er hat nicht nur seine alten Anrufungen verwandelt, sondern dem ungezähmten Eis des Nordens eine neue, furchterregende und mächtige Waffe verliehen, indem er die Ahnen dazu bringt, das Eis anstelle des Steins durch ihn zu formen. Er ist nun ein wahrer Vermittler zwischen seinem Volk und den eisigen Kräften des Nordens, ein Schamane, der die Kälte selbst beherrschen kann.

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