Stadt Surom, neuerbautes Zentrum des gleichnamigen Reiches, im Jahr 1 nach der Befreiung
Sartak lag erneut in unruhigem Schlaf, wie so viele Nächte bereits zuvor. Träume
schemenhafter Wesen suchten ihn heim. Die verzerrten, monströsen Kreaturen, nur
undeutlich zu erkennen, rangen miteinander, ihre gewaltigen Körper schlugen aufeinander
ein, während Klauen und Fänge das Fleisch ihrer Widersacher zerfetzten. Irgendwo in
diesem Chaos und Getöse an wahnsinniger Visionen vernahm er Etwas, ein Wispern oder
Rufen, Etwas, das ihn mit aller Macht zu sich locken wollte. Schweißgebadet erwachte er
ein weiteres Mal in dieser Nacht, der mit Narben von unzähligen Scharmützeln übersähte
Körper lag entblößt und zusammengekauert wie ein Neugeborenes auf seiner
Schlafstätte. Er spürte es bereits seit diesem einen Tag.. etwas, dass sich in seinem
Innersten regte, etwas Neues, Verzehrendes – ein Verlangen, das er weder verstand noch
bekämpfen konnte. Nacht für Nacht suchten ihn nun diese Träume heim, stetig wuchs
sein Verlangen, dem Rufen zu folgen.
— Tage zuvor, die Messe —
Es begann mehrere Tage zuvor bei einem seiner seltenen Besuche im Tempel des
Namenlosen Gottes. Sartak war nicht allzu gläubig, obgleich Vater Kegan ihn
Grundlegendes gelehrt hatte. Sartak war in seinem bisherigen Leben besser damit
bedient gewesen, sich auf sich selbst und seine Waffen zu verlassen. Um ehrlich zu sein,
hielt er den Glauben seines Vaters für antiquiert und eher eine Schwäche. Folglich waren
seine Erwartungen an das Dargebotene im Tempel nicht besonders groß, als er in die
Halle schritt und sich einen Platz nahm. Der persönlichen Einladung durch das Oberhaupt
seines Hauses konnte er sich dieses Mal einfach nicht entziehen. Doch auf seltsame
Weise übte der Tempel an jenem Abend, an welchem sie zusammenkamen um der Weihe
zweier Diener beizuwohnen, eine ungewohnte Strahlkraft auf ihn aus. Andächtig schwieg
die Versammelte Meute als Marleen an den Altar schritt. Dort, inmitten der unheilvollen
Stille und des kalten Steins, war sein Blick wie gebannt auf die gehörnte Priesterin
gerichtet. Ihre Augen, ihr wilder Blick mit den durchdringenden Augen, schien in ihm das
Gefühl zu erwecken, als könne sie direkt in das Innere seines Selbst blicken, wenn sie den
Blick auf die Reihen der Anwesenden richtete. Marleen führte die Messe mit einer
Intensität, die Sartak gleichermaßen abstieß und doch.. anzog. Ihre Stimme schwoll an
und fiel ab wie in Wellen, während die unheimlichen Worte der Gebete in der dunklen
Halle widerhallten, und teils gesprochen, gerufen, gesungen von den Anwesenden
aufgenommen und rezitiert wurden. Marleens Bewegungen waren präzise, fast ritualisiert,
und in ihren Augen glomm ein Funke, der sowohl Macht als auch unerschütterliche
Hingabe verriet. Sartak spürte, wie ihn eine fremde, unwiderstehliche Energie erfasste, die
ihn gleichzeitig fesselte und erschütterte. Die Worte, die sie sprach – dunkle Gebete in
einer Sprache, die er nicht zu verstehen vermochte – hallten in seinem Inneren wider wie
ein geheimer Ruf. Er verharrte während der Messe nahezu regungslos, allenfalls stimmte
er in den monotonen Singsang der Anwesenden mit ein, kaum fähig den Blick zu heben
und das Sichtfeld mit der Priesterin zu kreuzen, gar ihrem fordernden Blick standzuhalten.
—Aufgabe und Hingabe—
Tage und Nächte waren seitdem verstrichen. Jede Nacht war fortan ein Kampf. Ein Kampf
zwischen Demjenigen, welcher er war, dem Kämpfer, dem schlitzohrigen Tunichtgut,
welcher sich seit je her durchs Leben schlug, und der fremden Macht, die ihn zu rufen
schien. Er fragte sich, ob es Schwäche wäre, diesem Ruf nachzugeben, oder ob in dieser
unheimlichen Anziehungskraft eine Wahrheit lag, die er nicht ignorieren durfte. So etwas
wie..Bestimmung? Der Gedanke, in denTempel zurückzukehren, füllte seine Tage und
nährte eine Sehnsucht, die so tief ging, dass er sich selbst kaum wiedererkannte. Es war,
als würde etwas Dunkles und gleichzeitig Verheißungsvolles in ihm wachsen, das seinen
Willen langsam, aber unaufhaltsam untergrub. Er versuchte, den Ruf zu ignorieren, sein
übliches Leben fortzuführen..doch jeder weitere geführte Kampf, jeder Sieg und jedes
Festmahl ließ ihn leerer zurück als zuvor. Es fühlte sich an, als könne nichts Weltliches
seinen sehnsüchtigen Durst stillen. Und mit jedem verstreichenden Tag schien das
unverständliche Wispern und Rufen in seinen Gedanken lauter, hallte in seinem Geist
wider und nährte nur noch sein Verlangen.
In dieser Nacht ergab er sich dem Drängen. Sartak erhob sich von seiner Schlafstätte und
hüllte sich lediglich in eine Robe und griff nach seinem Dolch. Im Schutze der Dunkelheit
eilte er wie gelenkt durch die dunklen Gassen der Hauptstadt, zielgerichtet und den Blick
nur voran. Schließlich betrat Sartak die von Fackeln erhellten Steinmauern des Tempels
und kniete vor dem Altar nieder.
„Ich bin gekommen, um zu dienen“, sagte er, den Blick gesenkt, “Was immer dies für
mich bedeuten mag".
Sartak zögerte kurz. Der Kämpfer in ihm rebellierte, doch die Stimme – jene fremdartige,
unwiderstehliche Stimme – flüsterte in seinem Geist. Es war, als blicke er auf einmal von
oben auf seinen eigenen Körper herab, als er langsam den Dolch hob und die Klinge in
langen Bahnen über die Unterarme zog. "Ich gebe mich hin, mein Schicksal ist Dein“.
Langsam legte er sich in einer Pose absoluter Unterwerfung mit seinem Oberkörper auf
die zum Altar führenden Treppe, in der Linken noch den Dolch haltend, beide Arme weit
von sich gestreckt in die immer größer werdenden Lache aus Blut, das Gesicht auf den
kalten Stein gepresst, die Augen geschlossen. Bilder, Visionen und Unaussprechliches
begann, sich über seinen Verstand zu ergießen. Vier Wesenarten, unterschiedlicher wie
sie kaum sein konnten, und doch einander ähnelnd, von monolithischer Größe, schienen
in seinem Geist auf ihn herab zu blicken. Zusammenhanglose Schemen vor seinem
inneren Auge, Flüsse aus Blut, zu Wällen getürmte Schädel und über Allem thronend und
wachend eine nicht in Worte zu fassende Präsenz. Aus den roten Fluten schienen sich
sodann die Zinnen einer Stadt zu erheben, heillos durcheinander fliehendes Volk in seinen
Gassen, wahnsinnige Schreie und sich windende Schlangen, das Volk verschlingend, in
ihrem Winden Mauern und Türme einreißend, ehe die Gesamte Erscheinung barst und
wieder in den Fluten versank, und mit ihr die Schreie verstummten. Erst bewegten sich
nur seine Lippen, dann, in leisem Ton, entrannen seiner dem Boden zugewandten Gestalt
sich zu Gebeten fügende Worte, obgleich es nicht die eigenen schienen, während das
Blut in Strömen aus seinem Körper quoll und die Visionen tiefem Schwarz den Weg
freimachten. Er spürte wie die Dunkelheit ihn umfing, der Atem flacher wurde. Die Stimme
in seinem Geist gewann zunehmend an Kraft und stimmte in sein nur noch geflüstertes,
sich immer und immer wiederholendes Gebet mit ein. Dann schien es ihm fast, als
vernehme er die Stimmen Vieler, gemeinsam, in frenetisch wahnhaftem Chorus immer
und immer wieder das gleiche Gebet sprechend.
—Erwachen—
Er wusste nicht, wieviel Zeit vergangen war, nachdem er das Bewusstsein verloren hatte.
Das Morgenrot schien sich bereits über den Mauern der Stadt auszubreiten, als er sich
mühevoll erhob. Der Quell aus den selbst beigefügten Schnitten war versiegt, die Schnitte
wirkten geschlossen und wie versengt, die Unterarme rotbraun verschmiert von
geronnenem Blut.
Er war durch die Visionen, die ihn ergriffen hatten, tiefgreifend erschüttert. Hatte er die
Vergangenheit gesehen? Die Zukunft? Drohte dem Reich unheil? Nichts davon durfte
Wirklichkeit werden. Er war kein Krieger mehr, so viel war er sich bewusst. Wie klein seine
Weltsicht doch gewesen war, sie nutzlos seine bisherige Existenz. Er hatte sich etwas
Größerem geöffnet. Er würde sich dem Studium widmen, und Klarheit erlangen, würde
dem Einen dienen, und sein Wort sprechen. Und doch würde er Weisung benötigen, zu
verstehen. Erinnerungen an Vorheriges, welches dem Kämpfer einst so wichtig im Leben
schien, verblasste bereits. Ersetzt durch ein Gefühl der unerschütterlichen Hingabe an
Ihn, dessen Macht er zweifelsohne erfahren hatte. Mit jedem weiteren Atemzug spürte er,
wie sich Gewissheit und Verlangen in ihm manifestierten, ihn führten. Zurück auf den
Gassen der Stadt, sog er die vom Unrat geschwängerte Stadtluft gierig in sich ein.