Erwachen am fremden Ufer
Der Sand war warm, fast sanft - ein absurder Widerspruch zu allem, was sie hinter sich gelassen hatte und obwohl er so weich war, tat er unter ihren Fingern weh, als würde jede Bewegung oder Berührung gerade schmerzen. Langsam öffnete sie die Augen, um sich ein Bild davon zu machen, was sie nun erwarten würde. Sie vernahm das Rauchen der Wellen, aber es war kein Hafen zu sehen. Kein Holz knarzte. Keine Stimmen. Nur Wind, Wasser, Stille... und der Sand unter ihrem Körper.
Ich bin nicht tot.
Dieser Gedanke war das Erste, was sie bewusst fasste, wie eine Erkenntnis, die sie selber kurz erstaunte. Es war jedoch weniger Hoffnung, noch weniger Angst ... nur die nüchterne Feststellung ihres Körpers, der nicht mehr zwischen den Tiefen des Meeres versank. Sie lag auf der Seite, halb von Sand bedeckt, die Lippen rissig, die Finger blutig an den Spitzen und voller Sand des neuen Kontinents. Ihre Nägel hatten sich in die Planken gekrallt, bis die Wellen sie zerschlugen hatten, um die junge Amazone wie auch den Rest zu verschlingen. Jetzt krallten sie sich in Erde, es gab ihr für den Moment Sicherheit, bis ihr Bewusstsein sich vollständig geordnet hatte, bis sie wahrhaftig registriert hatte, dass sie leben würde, zumindest für den Moment. Sie befand sich an einem weiten Strand, in der Ferne sah sie etwas, was wie ein Schiff aussah, allerdings verrieten die gebrochenen Masten und halben Hälften ihr schnell, dass diese alles andere als seetüchtig waren. Palmen schmückten den Strand, sonst nur grüne weite Fläche und am Horizont die Mauern von etwas, was eine Stadt sein könnte, sowie Gebirgszüge. Erstmal fühlte sie so etwas wie Erleichterung, doch der damit verbundene, tiefe Atemzug ließ sie unweigerlich zusammenzucken. Die Lungen schmerzten. Sie versuchte sich langsam aufzurichten und auch der Rest ihres Körpers schmerzte. Schmerzte an Stellen, die sie nicht benennen konnte, als wäre er von den Wellen hin und her geworfen worden, wie ein Spielball, der letztendlich, wenn es dem Spielenden zu langweilig wurde, an Land gespuckt wurde. Jeder Muskel fühlte sich fremd an, ausgeliehen. Der Rucksack hing noch über ihrer Schulter - zerschrammt, durchnässt, aber noch da. Mit zitternden Fingern löste sie die Schnallen, ein Prozess der ungewöhnlich lange dauerte, so fremd wühlten ihre eigenen Glieder sich an. Die Ledermappe war noch an der Seite befestigt.
Mein Tagebuch.
Ein einzelner Atemzug, erneut aus Erleichterung geboren, entrang sich ihrer Brust, zusammen mit dem stechenden Schmerzen ihrer Seiten. Dieses Mal keine Erleichterung, aber auch keine Trauer. Etwas dazwischen. Sie war nicht mehr auf dem Boot bei den Anderen. Sie war nicht mehr in Erythala. Der Schmerz kam mit der Erinnerung und sie fühlte, wie sich langsam das Nass in ihre Augen schlich.
Sie hatte nur den Weg zum Tempel nehmen wollen. Wie jeden Tag hatte sie vor ihr Gebet zu sprechen und schließlich die ruhigen Stunden auf einer der Mauern damit zu verbringen, die Gedanken des Vortages in ihrem Buch festzuhalten. Ein Prozess, den sie schon von klein auf gelernt und fortgeführt hatte. Der Morgenduft war an diesem Tag jedoch anders gewesen – feucht, schwer, fremd. Wie ein leiser Vorbote. Sie hatte es gespürt, ohne es benennen zu können und auch die anderen Schwestern hatten es gemerkt. Etwas lag in der Luft, man konnte es einfach nicht anders beschreiben.
„Die Luft riecht anders,“ hatte sie in ihr Tagebuch geschrieben. „Ich weiß nicht, warum.“
Dann hatte das Horn geklungen. Nicht das der Fischerinnen oder der Jägerinnen, wenn jene nach Hause kamen. Tief. Schwer. Warnend. Ein Ton, den sie in ihren Leben bisher noch nie gehört hatte, aber die Geschichten um dessen Bedeutung... die hatte sie gehört. Ihre Mutter war bleich gewesen, ihre Stimme leise, sie hatte sie sofort auf den Mauern gefunden, wusste sie doch, wo ihre Tochter sich für gewöhnlich aufhielt.
„Sprich deine Gebete so, als würde Nyame zuhören.“
Die Worte klangen eindrücklicher, ernster, weniger sanft, als sie es von ihr kannte. Sie sah die Spannung in ihrer Körperhaltung, wie bei einer Raubkatze, die sich bereit machte. Und als die Schatten fielen, war es Rhaessa, jene Schwester, mit der sie zusammen aufgewachsen und ausgebildete wurde, die ihr den Rucksack in die Hand drückte. Keine Umarmung, kein Abschied. Sie war schon immer mutiger gewesen, schon immer trotziger und angriffslustiger. Rhaessa war immer die Löwin gewesen, die sie hatte sein wollen. Nur ein kurzer Blick des dunklen Blaus ihrer Mitschwester, in dem alles lag - Sorge, Pflicht, Liebe.
„Lauf.“
Und sie war gelaufen.
Durch das Kreischen der Flammen. Durch das Kreischen der Schwestern und den Angreifern. Durch das Kreischen der Welt.
Sie erinnerte sich nicht an das Boot, es war viel zu hektisch gewesen und die Gedanken waren verworren und verschlungen von Panik und Hast. Sie erinnerte sich nur an das Zittern und die Lungen, die ihr kaum noch Luft geben wollten. An Arisias Hand in der ihren. An die Worte, die sie zum ersten Mal nicht aus einem Buch sprach, sondern aus der eigenen Kehle.
„Ich habe heute zum ersten Mal ein Gebet gesprochen, das nicht aus einem Buch kam.“
Auch während der Flucht hatte sie sich an ihr Buch geklammert, als würde es ihr Helfen ihre Gedanken und Gefühle niederzuschreiben. Doch... die See hatte sie geprüft. Hatte ihr Schwestern genommen, ihre Träume und Hoffnungen verschluckt. In der letzten Nacht hatte sie Arisia loslassen müssen. Hatte ihr den Abschied ins Wasser geschenkt, in der Hoffnung, sie würde so ihren Weg zu Nyame finden.
Und dann ... der Sturm.
Und jetzt... war sie hier.
Sie stand endlich ganz auf, unter Aufbringung ihrer letzten Kraft. Taumelnd hielt sie sich an einer der Kokosnusspalmen fest, um den Strand abzusuchen. Nur Meeresgut und Trümmer... aber keine andere Schwester weit und breit und vor ihr ein fremdes Land. Sie war unsicher, wohin sie gehen sollte, unsicher wie viele Gefahren hier nun auf sie lauerten und nachdem sie eine Weile mit schweren Schritten umhergeirrt war, nur um festzustellen, dass die Mauern in der Ferne eine verlassene Stadt gewesen waren, abgesperrt und unzugänglich, ließ sie sich mit einem Seufzen wieder im Sand nieder. Träge griff sie nach dem Tagebuch, schlug es auf, suchte eine leere Seite. Die Tinte war auf einigen Seiten verschmiert, viele Einträge bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Erinnerungen und Gedanken, die vermutlich unwiderruflich vergangen sein würden. Sie fühlte wieder das Nass in ihren Augen, versuchte es zu unterdrücken, doch war es die Sonne, die ihre Tränen trocknete, während sie mit zitternden Fingern anfing zu schreiben. Nicht, weil sie wusste, was sie schreiben wollte. Sondern weil sie wusste, dass Worte manchmal der einzige Weg sind, nicht zu zerbrechen.
Dies war nicht Erythala.
Aber dies war ... hoffentlich... auch nicht das Ende.
Und sie würde weiter schreiben, solange noch Worte in ihr waren.
18. Sommer
Erwachen am fremden Ufer
„Ich bin nicht tot.“
Ich weiß nicht, wie ich überlebt habe. Ich weiß nur, dass ich erwachte. Im Sand. Im Licht. Das Boot war fort. Die anderen… fort. Vielleicht tot. Vielleicht an ein anderes Ufer gespült. Vielleicht von Nyame aufgenommen. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich allein bin.
Die Sonne war das Erste, was ich sah. Sie stand tief, goldgelb, wärmend. Ich versuchte mich zu orientieren, versuchte zu verstehen. Als ich mein Tagebuch fand, fühlte ich Erleichterung und Hoffnung. Nur kurz. Dann kam das Weinen. Das erste Weinen seit der Nacht der Flammen. Ich habe nicht geschluchzt. Es war ein stilles Weinen. Tränen, die mehr mit Salz als mit Stimme sprachen.
Der Sand klebt an meiner Haut. Meine Fingernägel sind abgebrochen, meine Lippen rissig, mein Körper zittert. Aber ich lebe.
Ich habe mich aufgerichtet, schwankend, doch aufrecht. Vor mir erstreckte sich grüne Hügel, Palmen, ein Gebirge in der Ferne, welches ich bald erkunden werde.
Vielleicht ist dort … Hoffnung.
Dies ist kein Ende.
Bitte Nyame, lass es kein Ende sein.