Tagebuch einer Amazone

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Myrina
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Tagebuch einer Amazone

Beitrag von Myrina »

Erwachen am fremden Ufer

Der Sand war warm, fast sanft - ein absurder Widerspruch zu allem, was sie hinter sich gelassen hatte und obwohl er so weich war, tat er unter ihren Fingern weh, als würde jede Bewegung oder Berührung gerade schmerzen. Langsam öffnete sie die Augen, um sich ein Bild davon zu machen, was sie nun erwarten würde. Sie vernahm das Rauchen der Wellen, aber es war kein Hafen zu sehen. Kein Holz knarzte. Keine Stimmen. Nur Wind, Wasser, Stille... und der Sand unter ihrem Körper.

Ich bin nicht tot.

Dieser Gedanke war das Erste, was sie bewusst fasste, wie eine Erkenntnis, die sie selber kurz erstaunte. Es war jedoch weniger Hoffnung, noch weniger Angst ... nur die nüchterne Feststellung ihres Körpers, der nicht mehr zwischen den Tiefen des Meeres versank. Sie lag auf der Seite, halb von Sand bedeckt, die Lippen rissig, die Finger blutig an den Spitzen und voller Sand des neuen Kontinents. Ihre Nägel hatten sich in die Planken gekrallt, bis die Wellen sie zerschlugen hatten, um die junge Amazone wie auch den Rest zu verschlingen. Jetzt krallten sie sich in Erde, es gab ihr für den Moment Sicherheit, bis ihr Bewusstsein sich vollständig geordnet hatte, bis sie wahrhaftig registriert hatte, dass sie leben würde, zumindest für den Moment. Sie befand sich an einem weiten Strand, in der Ferne sah sie etwas, was wie ein Schiff aussah, allerdings verrieten die gebrochenen Masten und halben Hälften ihr schnell, dass diese alles andere als seetüchtig waren. Palmen schmückten den Strand, sonst nur grüne weite Fläche und am Horizont die Mauern von etwas, was eine Stadt sein könnte, sowie Gebirgszüge. Erstmal fühlte sie so etwas wie Erleichterung, doch der damit verbundene, tiefe Atemzug ließ sie unweigerlich zusammenzucken. Die Lungen schmerzten. Sie versuchte sich langsam aufzurichten und auch der Rest ihres Körpers schmerzte. Schmerzte an Stellen, die sie nicht benennen konnte, als wäre er von den Wellen hin und her geworfen worden, wie ein Spielball, der letztendlich, wenn es dem Spielenden zu langweilig wurde, an Land gespuckt wurde. Jeder Muskel fühlte sich fremd an, ausgeliehen. Der Rucksack hing noch über ihrer Schulter - zerschrammt, durchnässt, aber noch da. Mit zitternden Fingern löste sie die Schnallen, ein Prozess der ungewöhnlich lange dauerte, so fremd wühlten ihre eigenen Glieder sich an. Die Ledermappe war noch an der Seite befestigt.

Mein Tagebuch.

Ein einzelner Atemzug, erneut aus Erleichterung geboren, entrang sich ihrer Brust, zusammen mit dem stechenden Schmerzen ihrer Seiten. Dieses Mal keine Erleichterung, aber auch keine Trauer. Etwas dazwischen. Sie war nicht mehr auf dem Boot bei den Anderen. Sie war nicht mehr in Erythala. Der Schmerz kam mit der Erinnerung und sie fühlte, wie sich langsam das Nass in ihre Augen schlich.

Sie hatte nur den Weg zum Tempel nehmen wollen. Wie jeden Tag hatte sie vor ihr Gebet zu sprechen und schließlich die ruhigen Stunden auf einer der Mauern damit zu verbringen, die Gedanken des Vortages in ihrem Buch festzuhalten. Ein Prozess, den sie schon von klein auf gelernt und fortgeführt hatte. Der Morgenduft war an diesem Tag jedoch anders gewesen – feucht, schwer, fremd. Wie ein leiser Vorbote. Sie hatte es gespürt, ohne es benennen zu können und auch die anderen Schwestern hatten es gemerkt. Etwas lag in der Luft, man konnte es einfach nicht anders beschreiben.

„Die Luft riecht anders,“ hatte sie in ihr Tagebuch geschrieben. „Ich weiß nicht, warum.“

Dann hatte das Horn geklungen. Nicht das der Fischerinnen oder der Jägerinnen, wenn jene nach Hause kamen. Tief. Schwer. Warnend. Ein Ton, den sie in ihren Leben bisher noch nie gehört hatte, aber die Geschichten um dessen Bedeutung... die hatte sie gehört. Ihre Mutter war bleich gewesen, ihre Stimme leise, sie hatte sie sofort auf den Mauern gefunden, wusste sie doch, wo ihre Tochter sich für gewöhnlich aufhielt.

„Sprich deine Gebete so, als würde Nyame zuhören.“

Die Worte klangen eindrücklicher, ernster, weniger sanft, als sie es von ihr kannte. Sie sah die Spannung in ihrer Körperhaltung, wie bei einer Raubkatze, die sich bereit machte. Und als die Schatten fielen, war es Rhaessa, jene Schwester, mit der sie zusammen aufgewachsen und ausgebildete wurde, die ihr den Rucksack in die Hand drückte. Keine Umarmung, kein Abschied. Sie war schon immer mutiger gewesen, schon immer trotziger und angriffslustiger. Rhaessa war immer die Löwin gewesen, die sie hatte sein wollen. Nur ein kurzer Blick des dunklen Blaus ihrer Mitschwester, in dem alles lag - Sorge, Pflicht, Liebe.

„Lauf.“

Und sie war gelaufen.

Durch das Kreischen der Flammen. Durch das Kreischen der Schwestern und den Angreifern. Durch das Kreischen der Welt.

Sie erinnerte sich nicht an das Boot, es war viel zu hektisch gewesen und die Gedanken waren verworren und verschlungen von Panik und Hast. Sie erinnerte sich nur an das Zittern und die Lungen, die ihr kaum noch Luft geben wollten. An Arisias Hand in der ihren. An die Worte, die sie zum ersten Mal nicht aus einem Buch sprach, sondern aus der eigenen Kehle.

„Ich habe heute zum ersten Mal ein Gebet gesprochen, das nicht aus einem Buch kam.“

Auch während der Flucht hatte sie sich an ihr Buch geklammert, als würde es ihr Helfen ihre Gedanken und Gefühle niederzuschreiben. Doch... die See hatte sie geprüft. Hatte ihr Schwestern genommen, ihre Träume und Hoffnungen verschluckt. In der letzten Nacht hatte sie Arisia loslassen müssen. Hatte ihr den Abschied ins Wasser geschenkt, in der Hoffnung, sie würde so ihren Weg zu Nyame finden.

Und dann ... der Sturm.

Und jetzt... war sie hier.


Sie stand endlich ganz auf, unter Aufbringung ihrer letzten Kraft. Taumelnd hielt sie sich an einer der Kokosnusspalmen fest, um den Strand abzusuchen. Nur Meeresgut und Trümmer... aber keine andere Schwester weit und breit und vor ihr ein fremdes Land. Sie war unsicher, wohin sie gehen sollte, unsicher wie viele Gefahren hier nun auf sie lauerten und nachdem sie eine Weile mit schweren Schritten umhergeirrt war, nur um festzustellen, dass die Mauern in der Ferne eine verlassene Stadt gewesen waren, abgesperrt und unzugänglich, ließ sie sich mit einem Seufzen wieder im Sand nieder. Träge griff sie nach dem Tagebuch, schlug es auf, suchte eine leere Seite. Die Tinte war auf einigen Seiten verschmiert, viele Einträge bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Erinnerungen und Gedanken, die vermutlich unwiderruflich vergangen sein würden. Sie fühlte wieder das Nass in ihren Augen, versuchte es zu unterdrücken, doch war es die Sonne, die ihre Tränen trocknete, während sie mit zitternden Fingern anfing zu schreiben. Nicht, weil sie wusste, was sie schreiben wollte. Sondern weil sie wusste, dass Worte manchmal der einzige Weg sind, nicht zu zerbrechen.

Dies war nicht Erythala.

Aber dies war ... hoffentlich... auch nicht das Ende.
Und sie würde weiter schreiben, solange noch Worte in ihr waren.


18. Sommer
Erwachen am fremden Ufer


„Ich bin nicht tot.“

Ich weiß nicht, wie ich überlebt habe. Ich weiß nur, dass ich erwachte. Im Sand. Im Licht. Das Boot war fort. Die anderen… fort. Vielleicht tot. Vielleicht an ein anderes Ufer gespült. Vielleicht von Nyame aufgenommen. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich allein bin.
Die Sonne war das Erste, was ich sah. Sie stand tief, goldgelb, wärmend. Ich versuchte mich zu orientieren, versuchte zu verstehen. Als ich mein Tagebuch fand, fühlte ich Erleichterung und Hoffnung. Nur kurz. Dann kam das Weinen. Das erste Weinen seit der Nacht der Flammen. Ich habe nicht geschluchzt. Es war ein stilles Weinen. Tränen, die mehr mit Salz als mit Stimme sprachen.
Der Sand klebt an meiner Haut. Meine Fingernägel sind abgebrochen, meine Lippen rissig, mein Körper zittert. Aber ich lebe.
Ich habe mich aufgerichtet, schwankend, doch aufrecht. Vor mir erstreckte sich grüne Hügel, Palmen, ein Gebirge in der Ferne, welches ich bald erkunden werde.
Vielleicht ist dort … Hoffnung.

Dies ist kein Ende.
Bitte Nyame, lass es kein Ende sein.
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Myrina
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Re: Tagebuch einer Amazone

Beitrag von Myrina »

Der Weg nach Servastae

Der nasse Sand klebte an ihren nackten Füßen, während die junge Amazone ein letztes Mal den Blick über das graue, schäumende Meer schweifen ließ. Gischt schlug gegen die Felsen, und in der Ferne riefen die Möwen. Die Überreste mehrerer fremder, gekenterter Schiffe lagen wie gebrochene Knochen über den Strand verstreut, teils halb im Sand versunken, umgeben von angespültem Algen und knorrigem Treibholz. Offenbar hatte das Meer schon mehr als nur sie an diesen abgelegenen Ort gespült.

Mit einem leisen Seufzen schloss sie ihr Tagebuch, das sie kurz in den Händen gehalten hatte, und verstaute es wieder sorgfältig. Dann wandte sie sich um. Der Weg vor ihr war gesäumt von Meer, Strand und Gebirge - es gab nur den Weg dort entlang, vielleicht würde sie irgendwo einen Durchgang im Gebirge finden. Eine Weile noch folgte sie dem Verlauf des Strandes, während sie versuchte, den pochenden Schmerz ihres erschöpften Körpers zu ignorieren. Die Sonne brannte auf ihre Haut, der salzige Wind stach in ihre offenen Kratzer. Erst nach einiger Zeit entdeckte sie einen schmalen Pfad, der sich in die Berge schlängelte. Erleichterung flackerte in ihrem Inneren auf... wenigstens würde sie nicht klettern müssen. Der Pfad führte sie durch schroffe Felsen und über moosbedeckte Steine, bis sie schließlich einen Fluss erreichte, der sich rauschend seinen Weg durch das Land bahnte. Eine alte, von der Zeit gezeichnete Holzbrücke spannte sich darüber. Dahinter lag Steppe und sie entschloss sich daher zuerst dem grünen Land zu folgen, welches vor der Brücke lag.

Sie irrte umher, begegnete flinken, beinahe schon überdrehten Lamareitern, die mit lauten Rufen an ihr vorbeizogen, und stieß sogar auf eine kleine Menschenstadt. Doch sie hielt sich fern. Ihr Herz war noch zu schwer von den Erinnerungen an Erythala, zu wund von dem, was dort geschehen war. Sie konnte nicht unter Menschen weilen - nicht jetzt, vielleicht nie. Als hätten sich die dunklen Geschichten von Schwester Maela und Schwester Elena in nur einer Nacht in Wahrheit umgewandelt. Sie sammelt ein paar Sonnenblumenkerne und Haselnüsse, um den knurrenden Magen ein wenig zu besänftigen und drehte schließlich wieder um. Die Steppe war dann wohl die nächste Möglichkeit und erst am Rand von jener wagte sie es, Kontakt zu suchen. Dort entdeckte sie ein loses Lager, bestehend aus einfachen Zelten, von denen einige rauchende Feuerstellen umgaben. Sie spürte die Blicke auf sich ruhen, spürte die Unsicherheit in ihren eigenen Schritten. Schließlich war es eine Frau, die auf sie zutrat, mit einem offenen Blick und einer Stimme, die sanft klang. Sie hatte gesehen, wie erschöpft und verloren Myrina war, und bot ihr Hilfe an. Doch Myrina lehnte sie ab. Freundlich, aber bestimmt. Sie wollte keine Hilfe von Menschen, nicht von Männern, nicht von Frauen. Zu tief saß das Misstrauen, zu frisch die Narben. Sie würde es alleine schaffen. Nyame war bei ihr.

Dann aber fiel ein Name ... und alles veränderte sich.

„Wenn du zu deinesgleichen willst“ sagte die Frau „dann musst du durch die Steppe, weiter durch die Wüste. Dort liegt Servastae. Die Stadt der Amazonen.“

Ein Beben ging durch ihren erschöpften Körper. Der Name hallte in ihrem Inneren wider, als könnte sie es im ersten Moment nicht glauben. Kein Hirngespinst, kein Wunschbild - es exisierten noch andere Schwestern? Eine ganze Stadt? Servastae? Es war nicht Erythala, aber es war etwas. Es war Hoffnung. Ein Ziel. Ein Ort, an dem Schwestern lebten, wenn die Frau recht hatte. Noch in jener Nacht verließ sie das Lager, getrieben von neuer Entschlossenheit und neuem Mut. Ihre Schritte führten sie durch das karge, trockene Grasmeer der Steppe. Die Tage waren heiß, die Nächte kalt, und der Sand der Wüste, die sie schließlich erreichte und betrat, brannte unter ihren Füßen. Doch sie ging weiter, Stück für Stück, bis ihr Körper kaum noch konnte. Eine Oase die sie erreichte, spendete ihr etwas Kraft, ein wenig Wasser und Datteln, sowie Bananen. Dort ruhte sie, bis sie sich am nächsten Tag weiter durch die Wüste kämpfte. Vermutlich verirrte, Kreise drehte, bis sie erneut die Steppe erreichte. Sie dachte kurz, sie hätte den falschen Weg gewählt, doch fielen ihr Statuen und Ruinen auf. Hier musste es sein. Sie Drang weiter in diesen Teil der Steppe vor und dann war sie da.

Halb verdurstet, die Lippen aufgesprungen und der Magen leer, sah sie es: Ein großes, goldenes Tor mit goldenen Kriegerinnen auf den Mauern. So, wie es in Erythala gewesen war. Aber das hier musste Servastae sein. Die Wächterinnen standen hoch auf der Mauer, Speere in den Händen, Augen wachsam ... eindeutig Amazonen wie sie. Als sie näherkam, schwankend und erschöpft, erkannten sie, was sie war. Ohne viele Fragen nahmen sie sie auf, führten sie stützend zum Brunnen im Inneren der Stadtmauern. Dort reichte man ihr Wasser, sprach beruhigend auf sie ein.

„Bleib hier. Jemand wird bald kommen, um dir zu helfen“ sagte eine der Schwestern mit ruhiger Stimme. „Wir müssen zurück auf den Wall.“

Sie nickte nur schwach, erleichter. Die Reise war vorbei ... oder vielleicht hatte sie gerade erst begonnen, das würde sich erst noch zeigen. Doch eines wusste sie sicher: Sie war angekommen und sie erinnerte sich unweigerlich an die Worte von Schwester Maela vor vielen, vielen Jahren bei einem dem zahllosen Unterrichten, als sie selber noch mehr ein Kind gewesen war. Worte, die sie auch in ihr Tagebuch niedergeschrieben hatte. Worte, die sie in den letzten Wochenläufen mehr denn je gespürt hatte.

14. Sommer
Tag der Nebel

„Heute habe ich etwas über Nyames Dunkelheit gelernt.“

Der Tag war in Dunst gehüllt. Der Nebel kroch zwischen die Dschungelsteine, legte sich auf die Dächer, auf meine Haut und in meine Gedanken. Ich mochte den Nebel nicht, er nahm die Sonne und die Sonne war das, was mir Ruhe und Frieden schenkte. Schwester Maela sprach heute über einen Aspekt Nyames, den ich bisher nur selten hörte: ihren Schatten.
Ihre dunkle Schwester. Über Nazra sprachen die älteren Schwestern nicht gerne. Sie sagten, dass alles, was von jener kommen würde, die pure Bosheit wäre, alles verschlingender Schatten, der sich um unsere Herzen legen würde. Daher würde man nicht über sie sprechen, um sie nicht zu stärken. Ich möchte nicht über sie sprechen. Sie macht mir Angst.

Zum Glück ging es heute auch gar nicht ausführlich um Nazra selber, sondern um die Schatten, die das Licht werfen konnte und die Bedeutung der Dunkelheit für Nyame.

Sie sagte, dass selbst Nyame Schatten wirft, jedoch nicht aus Bosheit, sondern weil ihr Licht so hell ist. Dass Dunkelheit nicht immer Feind ist. Dass wir sie nicht fürchten sollen, denn die Dunkelheit würde uns zeigen, wie hell und strahlend das Licht Nyames ist. Die Dunkelheit der Nacht brachte Erholung oder der Schatten der Bäume Erfrischung in der Hitze eines Tages.
Ich fragte leise... vermutlich fast zu leise, ob das bedeutet, dass Angst auch ein Teil der Löwin sei.

Maela schwieg lange. Dann sagte sie: „Nur wer das Dunkel kennt, weiß das Licht zu schätzen.“

Ich trug diesen Satz den ganzen Tag mit mir und überlegte, was er für mich bedeuten würde. Vielleicht… muss man nicht perfekt sein, um Priesterin zu werden. Vielleicht reicht es, ehrlich zu sein. Verletzlich. Fragend. Bereit, das Licht zu suchen, selbst wenn man es nicht immer sieht.

Ich habe Angst.

Vor der Welt außerhalb der Mauern Erythalas.
Vor allem, was ich nicht verstehe.
Aber ich werde trotzdem gehen, irgendwann.
Nicht weil ich keine Angst habe... sondern weil ich glaube, dass Nyame mich auch dann sieht, wenn ich zittere.
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Myrina
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Re: Tagebuch einer Amazone

Beitrag von Myrina »

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17. Sommer
Das Morgenlied


„Der Morgen war still. Nur das Schnauben der Pferde und das Kratzen der Schreibfeder. Ich liebe diese Stunde.“

Der Tag begann, wie ich ihn liebe - ruhig, mild, mit einem Hauch Gold in der Luft. Ich war früh wach und ging mit Mutter in den inneren Tempel. Der Marmor unter unseren Füßen war noch feucht und kühl vom nächtlichen Wind, und das Licht der aufgehenden Sonne spiegelte sich in den Lichtsteinen, die das Wasserbecken zum Glühen brachten. Es sah aus, als wäre flüssiges Gold darin gefangen. Ich mochte diesen Anblick sehr. Der Tempel war eines der wenigen Gebäude, die ein wenig offener im Dschungel lagen, sodass das Licht der Sonne gänzlich auf ihn hinab scheinen konnte.

Ich durfte heute das Morgenlied sprechen, bald würde ich meinen 18. Sommer antreten und damit würden neue Pflichten auf mich zukommen.

Meine Stimme war leise, fast wie ein Flüstern, aber sie war da, klar und ruhig. Mutter sagte später, sie sei kaum zu hören gewesen, aber ich finde, sie klang genau richtig. Nicht jeder Klang muss laut sein, um gehört zu werden.

Draußen im Hof trainierten die Polemoskes. Das rhythmische Klirren ihrer Waffen, das Aufstampfen ihrer Sandalen, während sie sich wie im Tanz bewegten. Es ist für mich wie Windrauschen geworden. Allgegenwärtig. Beruhigend. Doch nicht mein Weg. Wir wachsen in all dem auf: Kampf, Stolz, Ordnung. Aber ich? Ich lausche lieber dem Licht. Ich höre lieber die Geschichten, die in der Stille wachsen.

Erythala ist nicht groß. Aber wenn ich die Mauern hinaufschaue, den Himmel dahinter sehe und das Echo unserer Schritte auf den Steinen höre, dann fühlt es sich an wie die Mitte der Welt. Heute dachte ich: Vielleicht ist das genug. Vielleicht bleibe ich für immer hier, vielleicht war alles so richtig, wie es sein sollte und bald würde ich meine neuen Pflichten im Tempel antreten.


18. Sommer
Tag des Horns


„Die Luft riecht anders. Ich weiß nicht, warum.“

Etwas war heute anders. Ich konnte es nicht benennen, nicht greifen. Aber ich habe es gespürt, wie einen Schatten, der über das Herz kriecht, noch bevor die Sonne ihn wirft. Ich hatte den Tag damit verbracht, die Lichtsteine im Tempel zu putzen und den Lehren von der Megala Ierea Kalyra zu lauschen. Opfergaben und Worte, die wir sprechen musste, damit Nyames Kraft sich entfesseln konnte. Ich wollte mit ganzem Herzen zuhören, aber ich konnte nicht. Etwas lenkte mich ab, da war ein Kribbeln im Nacken.

Am Abend erklang ein Horn vom Handelsposten, der am weiten Fluss entfernt lag. Keine Reitstunde entfernt von Erythala. Nicht der Ruf der heimkehrenden Fischerinnen, kein mir bekanntes Signal. Es war fremd. Schwer. Als würde es etwas Dunkles ankündigen. Ich hatte es noch nie zuvor gehört.
Ich sah Mutter sprechen, mit den älteren Schwestern, mit der Elpidaraa. Ihr Gesicht war ruhig, zu ruhig. Keine Spur von Lächeln, kein Licht in ihren Augen. Das beunruhigte mich mehr als jedes Wort es gekonnt hätte. Sie alle verhielten sich anders. Ich sah die Polemoskes vermehrt an den Mauern und am großen Tor stehen, sah ihre Anspannung in ihren Körpern. Etwas kam.

Später nahm meine Mutter mich beiseite. Ihre Stimme war fest, aber sie zitterte leicht. „Sprich deine Gebete mit Ernst. Nicht nur auswendig. Sprich sie so, als würde Nyame dir zuhören, als wäre sie nun hier, vor dir.“ Ich nickte, aber ich war unsicher. Ich sagte ihr, ich spüre nichts. Kein Zeichen, kein Licht. Da war nur Unsicherheit und Angst, die aufkam. Alle verhielten sich komisch. „Manchmal spürt man Nyame erst, wenn man alles andere verliert.“ Die Worte überrumpelten mich. Wie kam meine Mutter darauf, so etwas zu sagen?

Erythala ist gut geschützt. Wir haben hohe Mauern. Starke Schwestern. Die Tiefen des Dschungels und die Jaguare, die uns beschützen. Warum sagt sie so etwas?

Ich habe lange darüber nachgedacht.
Und ich frage mich: Muss man wirklich alles verlieren, um wahrhaftig zu glauben?

Nyame elogia ega.


18. Sommer
Nacht der Flammen


„Ich schreibe mit verbrannten Fingern. Ich weiß nicht, warum ich noch schreibe. Vielleicht, weil es sonst niemand mehr tut. Vielleicht weil es mir Halt gibt.“

Sie kamen, als der Himmel noch glühte vom Sonnenuntergang. Keine Warnung. Kein Ruf. Nur das Splittern der Tore, das Kreischen der Waffen, das Stöhnen der Mauern. Menschen, vor allem Männer. Viele. Wie aus dem Nichts. Es war komisch, zu komisch. Keiner hatte sie bemerkt. Keine Wache, kein Jaguar... als wären sie mit dem Schatten der Nacht gekommen.

Ich erinnere mich an die Schreie. An das Feuer, das sich wie ein lebendiges Tier durch die Hallen fraß. An die Rufe meiner Schwestern, panisch, mutig, sterbend. Ich sah Rhaessa, wie sie mit dem Stolz und der Willenskraft, dem unbändigen Mut einer Löwin auf dem Vorplatz des Tempels stand. Ihre Augen suchten jedoch nicht den Feind, sie suchten mich. Sie war zu mir geeilt, hatte mir einen Rucksack in die Arme gedrückt und nur ein einziges Wort gesagt.

„Lauf!“

Und ich lief.

Ich lief durch Rauch, durch Blut, durch Stimmen, die ich vermutlich nie wieder hören werde. Hoffte, dass Rhaessa es schaffen würde, dass alle es schaffen würden. Das meine Mutter und vor allem die Taraa überleben würde. Ich weiß nicht mehr, wie ich die Stadt verließ. Meine Beine trugen mich, mein Verstand nicht. Alles war Flucht. Alles war Dunkelheit. Ich folgte den anderen flüchtenden Schwestern, nahm die beiden Sklaven wahr, die als Wächter folgten, aber ich weiß nicht mehr, was alles passierte.

Der Himmel über Erythala war rot, wie von innen heraus brennend. Ich rief Nyame. Ich schrie. Ich flehte. Ich glaube, ich habe sie gerufen. Ich weiß nicht, ob sie geantwortet hat. Vielleicht hat sie geschwiegen. Ich spürte wie mich die anderen Schwestern auf ein Boot zerrten, ich wollte nicht gehen.
Vielleicht… ist das, das Ende von Allem.


Nachdenklich hatte sie die Einträge vor dem Angriff betrachtet. Hier und dort hatte das Meer die Schrift verschwimmen lassen, aber sie erinnerte sich noch sehr genau an die Worte. An das, was passiert war. Servastae hatte sich als Ort der Sicherheit entpuppt. Als eine herzliche Umarmung von Vertrauen. Sicherheit und Geborgenheit, die sie gebraucht hatte. Die ansässigen Schwestern hatten sich um sie gekümmert, die Megala Ierea und die Taraa selber.

Ihr wurde alles gezeigt, die Gebäude erklärt, der Kontinent erläutert. Eine merkwürdige Welt, von der sie noch nicht so richtig wusste, was sie halten sollte. Allianzen mit Menschen? Verbündete, denen man "bedingt" trauen konnte? Es war wie ein schwerer Knoten in ihrer Brust, der sich noch nicht lösen wollte und so versteckte sie sich einige Tage hinter den sicheren Toren Servastaes, bis sie sich wieder hinaus wagte. Am Ende half das alles nichts. Wenn das ihre neue Heimat sein sollte, dann musste sie lernen, mit den neuen Bedingungen umzugehen. Dann musste sie lernen, diesen fremden Schwestern zu vertrauen, ihrem Gespür zu vertrauen und vermutlich Vorurteile aus dem Weg zu schaffen.

Ob sie das schaffte? Das wusste sie nicht. Sie klammerte sich an ihr zerfleddertes, verwischtes Tagebuch, als wären es Erinnerungen, die jederzeit drohten zu verschwinden. Als würde damit ein Stück von ihr selbst verschwinden. Aber da stellte sie sich die Frage, wer war sie überhaupt, außer Myrina? Sie wusste, wer sie in Erythala gewesen war, aber hier? Auf dieser Insel? In Servastae? Das würde vermutlich die Zeit ihr offenbaren. Hoffte sie.
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Myrina
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Re: Tagebuch einer Amazone

Beitrag von Myrina »

Erste Schritte

Die abendliche Sonne fiel wie ein warmes Tuch in das kleine Gebäude hinein, während die junge Amazone endlich die Schreibfeder niederlegte, um die neu gefüllte Fläche in ihrem mitgenommenen Tagebuch zu betrachten. Noch immer fühlte sich es richtig an, ihre Gedanken, ihre Gefühle und ihre Zweifel und Sorgen niederzuschreiben. Als würde sie in diesem Moment gar mit Nyame selber sprechen. Mit einem milden Lächeln betrachtete sie die letzten Worte, dann klappte sie das Buch sorgfältig zusammen, um es zu verstauen. Sie würde noch ein wenig die Steppe auskundschaften gehen, ehe die Felle sie riefen.

18. Sommer
Neue Schwestern, neue Heimat

Servastae... mein neues Zuhause. Ich schreibe das Wort und es fühlt sich noch nicht so ganz richtig an. Heimat klingt anders, es riecht anders. Heimat bedeutet tiefer Dschungel, das Brüllen der Affen, das Geräusch von tausenden Vögeln in den Gipfelkronen. Wasser, das in der Luft steht, Sonnensprenkel, die durch das Blätterdachwerk fallen und das Rauschen der Flüsse.
Aber vielleicht... vielleicht wird es das eines Tages.

Die Taraa, unsere stolze Sonnenflamme, hat mir meine erste Rüstung nach der Flucht gegeben. Das Material fühlt sich noch fremd an, das Gefühl ist noch fremd, sie lässt mich als stolze und starke Schwester erscheinen, aber so fühle ich mich noch nicht. Als würde ich ein Kostüm tragen, das meine eigene Zerbrechlichkeit und Unsicherheit überschatten sollte. Sie bot mir an, sie zu begleiten, zu einer Unterredung mit dem König der Menschen in der Wüstenstadt. War das eine Prüfung oder eine Geste des Vertrauens?

Die Menschen. Ihr König.

Noch immer stockt mein Atem, wenn ich das Wort schreibe, wenn ich nur daran denke, mich mit ihnen zu umgeben. So lange waren sie Feind. Schatten am Horizont, Schrecken in Kindergeschichten. Doch hier... in diesem neuen Land... schien es anders für die Löwinnen zu sein. Die Taraa erzählte mir von den Göttern der Menschen, dem Licht, welchem die einen folgen, die Tugenden, die sie für die ihren halten und sie somit zu Verbündeten machen. Der Gegensatz zu jenen, die Schatten und Dunkelheit wünschen. Dämonenanbeter nannte sie jene. Surom ihre Stadt, eine Gefahr auch für die Schwestern. Das klingt für mich wie eine Art Zweckbündnis, eine Abhängigkeit, die mir ehrlich gesagt nicht wirklich gefällt.

Dieser König sprach mit ruhiger Stimme, während er sich mit der Taraa unterhielt. Er wirkte respektvoll, zuvorkommend, ruhig - trotz des Themas, über das sie zu reden hatten. Es war ein surreales Bild, was sich vor meinen Augen abzeichnete. Ich war die ganze Zeit über still gewesen. Nur lauschend, nur beobachtend, versuchte einzuschätzen, was im Kopf der Taraa vor sich ging.

Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Weiß nicht, was ich von der Person halten soll, über welche die Beiden geredet hatten. Zweimal habe ich sie bisher sehen können, zweimal konnte ich nicht für eine Unterhaltung verweilen. Sie sieht merkwürdig aus. Fremd. Eine Menschenfrau mit einer dunklen Vergangenheit.

Erfreulicher war das Treffen allerdings mit einer neuen Schwester. Sie war so herzlich, so offen, doch gleichsam war da dieser unbändige Stolz und Kampfeswille einer richtigen Löwin zu fühlen. Etwas in ihrem Blick und an ihrer Art erinnerte mich an Rhaessa und es tut zugegeben ein wenig weh, sie in ihr zu sehen. Gleichsam… ist es aber irgendwie schön. Als wäre ein Stückchen Heimat nach Servastae gekommen. Es ist schwer zu beschreiben. Ich zeigte ihr die Stadt, erzählte ihr alles, was auch die Taraa mir erzählt hatte und versuchte ihr, mit den begrenzten Mitteln zu helfen, die ich bisher darbieten konnte. Ich hoffe, sie hat sich genauso willkommen und umarmt gefühlt, wie ich, bei meiner Ankunft.

Vielleicht ist das der Anfang.

Ein neuer Sommer. Neue Schwestern. Vielleicht…eines Tages… eine neue, richtige Heimat.
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Re: Tagebuch einer Amazone

Beitrag von Myrina »

18. Sommer
Auf dem Fluchtboot


„Wir waren zehn. Jetzt sind wir fünf.“

Das Boot war kaum mehr ein Schiffchen. Es lag halb verborgen zwischen hohen Schilf und Wurzeln. Wir erreichten es im Morgengrauen, nach einer Nacht, in der niemand sprach, nur atmete - flach, vorsichtig, als würde jeder Laut das Schicksal aufschrecken. Zwei der Sklaven haben uns begleitet. Starke Sklaven, deren Namen ich mir nur am Rand meines Gedächtnisses gemerkt hatte.
Zehn Schwestern waren wir, als wir aufbrachen. Einen Sklaven ließen wir zurück, den anderen nahmen wir mit. Verwundete und Jungschwestern. Jetzt sind es fünf. Innerhalb der ersten Tagesläufe auf dem Wasser hatten die Wunden sie in Nyames Reich geholt.

Arisia ist unsere Älteste, sie führt uns. Oder führte. Sie hat eine Wunde an der Seite, tief und schlecht verbunden. Sie sagt nichts. Aber ich sehe es in ihren Augen - sie weiß, dass sie nicht mehr lange bleiben wird.

Der Ozean ist still. Viel zu still. Kein Wind. Kein Gesang. Nur das Knarren des Holzes und das leise Tropfen von Wasser im Rumpf. Ich frage mich, ob es irgendwo noch Amazonen gibt. Andere Stämme. Andere Städte. Gibt es noch Lieder? Noch Gebete? Noch Leben?

Heute habe ich zum ersten Mal ein Gebet gesprochen, das nicht aus einem Buch kam. Keine festen Verse, keine Formeln. Nur Worte. Worte an Nyame, aus mir heraus. Ich weiß nicht, ob sie gehört wurden. Vielleicht ist das Glaube: Wenn man spricht, obwohl man keine Antwort erwartet.

Ich sehe Arisia an.
Ich glaube nicht, dass sie den Morgen noch sieht.

18. Sommer
Letzte Nacht vor dem Sturm


„Ich habe geträumt, ich stünde auf den Mauern Erythalas. Doch als ich hinuntersah, war da nur Wasser.“

Der Himmel hängt schwer über uns, wie ein viel zu schweres Tuch aus Stein. Die Wolken sind dunkel, zu dunkel. Irgendetwas zieht sich zusammen. Die See wird unruhiger, als würde sich langsam der Zorn der Gezeiten zusammenraufen.

Arisia ist tot. Sie ist in der Nacht gestorben, still, ohne Klage. Ich habe ihre Hand gehalten, bis sie kalt wurde. Wir haben ihren Körper dem Meer übergeben, so wie sie es gewünscht hatte. Ihre Augen schienen zu lächeln, als sie ging. Oder vielleicht habe ich mir das nur eingebildet.

Jetzt bin ich die Älteste auf dem Boot.
Ich? Die, die nie kämpfen wollte? Die, die sich in Bücher flüchtete, statt in den Kampf?
Ich weiß nicht, wie man führt. Aber ich weiß, wie man betet. Ich habe den jüngeren Schwestern das Atemritual gezeigt. Eine von ihnen hielt meine Hand so fest, dass meine Finger schmerzten. Ich ließ es zu. Vielleicht war es das Einzige, was sie noch hielt.

Der Wind frischt immer mehr auf. Ich spüre es. Eine Bewegung, tief in der See und in mir. Als würde etwas Großes näherkommen.
Wenn wir untergehen, hoffe ich, dass Nyame uns sieht. Dass sie uns aufnimmt. Dass sie weiß, dass wir Schwestern waren.
Bis zuletzt.


Sie klammerte sich so deutlich an ihr kleines, zerfleddertes Tagebuch, dass das Leder unter ihren Fingern gefährlich knarzte und die Knöchel bereits weiß wurden. Sie spürte den Zorn in ihrem Inneren. Es rauschte in ihren Ohren, pochte in ihren Adern. Es fühlte sich so ungerecht und so falsch an. Ein ungewohntes Empfinden. Nun in diesem Moment konnte sie sich nicht erinnern, jemals so wütend gewesen zu sein, auf jemand anderen.

Missmutig saß sie auf den goldenen Stufen im neu erschlossenen Dschungel von Servastae. Ein Hauch von alter Heimat. Gestern noch schien alles wieder besser zu werden. Der Dschungel mit seinen hohen, verwachsenen Bäumen und die Häuser, die sich in die Natur eingebetteten, erinnerten sie sehr an Erythala. Doch dann kam Niriel und berichtete ihr von einem Überlebenden aus Erythala. Einem Sklaven. Sie lauschte dem Plätschern des Wassers, versuchte sich auf das Zwitschern der Vögel zu konzentrieren, um die Wut beiseite zu schieben, die sie seit den Worten der Taraa empfand. Sie brauchte einige Zeit, bis sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie einen neuen Eintrag in ihr kleines Tagebuch hinterlassen konnte.


18. Sommer
Lebendige Erinnerung


Ich habe ihn gesehen. Er lebt. Einer der Sklaven aus Erythala, oder sollte ich sagen: einer der Custodis, die man uns als Schutz mitgab. Sklaven, ausgebildet als Wachen, die ihr Leben für die Schwestern eigentlich geben sollten. Er war auf jenem kläglichen Schiffchen, das kaum dem Sturm trotzen konnte. Es sollte uns retten, dazu wurde er geboren, dazu wurde er losgeschickt, um mit uns zu fliehen. Er sollte Sie retten. Meine Schwestern. Doch das Boot ist untergegangen, und von all jenen, die darauf waren, haben nur er und ich überlebt.

Warum? Warum er? Nicht Kallis, nicht Eirene, nicht Namia, die noch versucht hat, die Jüngeren zu beruhigen, während die Wellen schon über uns zusammenschlugen. Ich habe gehofft, dass wenigstens eine von ihnen ans Ufer gespült wurde. Aber nein. Nur er. Der eine, der dafür da war, sie in Sicherheit zu bringen. Und er kommt als einziger neben mir in Servastae an.

Ich weiß, es ist nicht unbedingt vernünftig, aber ich bin zornig. Zornig auf ihn, zornig auf das Meer, zornig auf das Schicksal. Seine bloße Anwesenheit ist ein ständiger Stachel, eine Erinnerung daran, dass sie nicht mehr da sind. Ich sehe ihn, wie er schweigt, wie er sich schuldig fühlt, wie er beteuert, gerne sein Leben gegeben zu haben, hätte er nur die Schwestern damit retten können. Ich will ihm die Schuld wirklich geben. Weil ich sonst nicht weiß, wohin mit diesem Schmerz.

Vielleicht hat er alles getan, was er konnte. Vielleicht hätte niemand sie retten können. Vielleicht hat er aber auch nur an seine eigene Rettung gedacht und nicht an die der Schwestern, die ihm anvertraut wurden. Gibt es Hinweise dafür? Nein. Er hatte bereits in Vergangenheit, in Erythala, gezeigt, dass er sein Leben unter das der Schwester einordnet.

Aber das ändert nichts daran, dass er jetzt lebt und sie nicht. Und in dieser verkehrten Gerechtigkeit finde ich keinen Trost. Die Taraa legt sein Schicksal in meine Hände. Ausgerechnet meine. Wo ich ihn am liebsten umbringen würde, obwohl ich mir bewusst bin, dass es am Ende keine Besserung bewirken würde.

Er ist verletzt und ausgehungert. Das geschieht ihm recht.

Ich habe mich dafür entschieden, dass er Leben soll. Nicht aus Gnade oder Wohlwollen, sondern weil er die Schuld weiter tragen und sich unterordnen soll, um seine Schuld zu Leben zu begleichen. Ich weiß nicht, was Nyame sich bei all dem gedacht hat oder ob es gar ein Werk ihrer dunklen Schwester ist.

Das wird sich mit der Zeit vielleicht zeigen und bis dahin bleibt der Sklave unter Beobachtung.
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Myrina
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Re: Tagebuch einer Amazone

Beitrag von Myrina »

20. Sommer
Tag der ersten Messe


Heute war ein Tag, den ich nie vergessen werde. Ich habe meine erste Messe in Servastae gehalten, zum Gedenken an unsere gefallenen Schwestern von Erythala... und jeder anderen Schwester die nicht mehr bei uns weilen kann. Mit jedem Wort, das ich sprach, sah ich ihre Gesichter vor mir, von jenen, die im Kampf um Erythala starben und von jenen die das Meer verschlungen hatte. Es fiel mir schwer, die Stimme ruhig zu halten, doch ich wusste, sie würden uns zusehen. Sie würden erwarten, dass wir weitermachen und so versuchte ich diese erste Messe auch mit Stolz und Sicherheit zu tragen. Eine Priesterin Nyames zu sein, bedeutet auch Halt und Sicherheit für andere zu sein, selbst wenn man sich selber vielleicht nicht so fühlte.

Ich habe Nyame um Beistand gebeten. Dass sie mir die Kraft gebe, Servastae und unserem neuen Stamm würdig zu dienen, habe den Schwur in ihrem Angesicht geleistet den Weg einer Jungpriesterin zu gehen, egal wie viele Steine mir in den Weg gelegt werden würden. Für Sie, die goldene Löwin, für Servastae und Aurae. Und Nyame hat geantwortet. Nachdem ich mein Gebet an sie beendet hatte, manifestierte sich vor dem Sonnenbildnis des Tempels eine Raubkatze. Ein schwarzer Jaguar, aber nicht irgendeiner! Es war eindeutig Shai'lani. Meine Shai'lani aus Erythala. Ich hatte geglaubt, sie verloren zu haben, wie so vieles andere. Doch Nyame hat sie mir zurückgeschickt. Ein Zeichen.

Nach der Messe , oder vielmehr als letzter Teil von jener, folgte die offizielle Aufnahme in den Stamm Aurae. Sinoea und ich wurden als Jungschwestern in den Stamm aufgenommen. Sie als Jungkriegerin, ich als Jungpriesterin. Lamiosa wurde zur Altschwester erhoben, eine Ehre, die ihr sicherlich schon lange gebührt hatte. Die feierlichen Worte sprach niemand Geringeres als die Kaiserin, unsere Kaiserin. Niriel. Das goldene Löwenwappen zu tragen hatte etwas tröstliches an sich, wie die Umarmung der hellen Zukunft, wie ein Versprechen, dass der neue Stamm ein gutes Zuhause sein würde. Ich bekam ein Sonnenamulett von Niriel zur Aufnahme geschenkt. Ein wunderschönes Schmuckstück und ich spürte die Kraft die in ihm ruht. Sinoea bekam ein prächtiges und starkes Schild, ganz in der traditionellen Schmiedekunst der Amazonen. Sie war vollkommen begeistert.

Am Abend gingen die Feierlichkeiten recht ruhig im Badehaus weiter. Die Stimmen, das Lachen, das Essen und Trinken... es war ein seltsamer Trost nach so viel Leid. Und irgendwie konnte ich mir nach dem Abend sicher sein, dass die Wunden heilen würden. Vielleicht würden sie Narben hinterlassen, doch waren Narben nur ein Zeichen der Vergangenheit, die mit Stolz getragen werden sollten. Ich würde diese Narben mit stolz tragen, wenn es soweit ist. Ich habe überlebt und ich würde Nyame nicht enttäuschen darin.

Der Sklave aus Erythala, jener der statt den Schwestern überlebte, war ebenso den Abend über anwesend. Immer im Hintergrund. Wäre er nicht so groß, wäre er vermutlich kaum aufgefallen. Seine Anwesenheit störte mich im ersten Moment. Ich wollte ihm nicht die Genugtuung geben Abschied nehmen zu können, sollte er daran überhaupt ehrliches Interesse haben. Aber ich versuche gut zu sein. Nicht nachtragen. Nicht böse. Er hat sich in Servastae nichts zu Schulden kommen lassen und die Kaiserin Erythalas hätte ihn nicht mit der Wacht beauftragt, wäre er dort nicht vertrauenswürdig gewesen. Es fällt mir dennoch schwer, in ihm nicht die Schuld zu sehen.

Einige Schwestern vom Stamm Aurae kannten ihn noch nicht. Neugier lag in der Luft, gemischt mit einer großen Portion an Misstrauen und auch Missgunst. Verständlich. Er war ein Mann in Servastae. Ich trug ihn auf, sich vorzustellen, zu erklären, warum er hier wäre und wofür er da ist. Es ärgert mit insgeheim jedes Mal, wenn er den Befehlen so einwandfrei und musterartig folgt. Würde er den Schwestern doch nur Grund geben, ihn zu bestrafen.

Die Schwestern waren sichtlich an der Kampfkraft des Sklaven interessiert und so war der Aufenthalt im Badehaus nur kurz, denn die Arena sollte der Abschluss des Abends sein. Dort musste Arbitos sich beweisen. Zwei Schwestern traten nacheinander gegen ihn an, um seine Fähigkeiten zu prüfen. Ich beobachtete die Kämpfe genau, so wie alle anderen anwesenden Schwestern auf der Tribüne. Er bewegte sich mit der Geschmeidigkeit eines erfahrenen Kriegers, seine Angriffe gezielt, aber irgendwie auch in seiner Art aggressiv. Aggressiver, als ich es von manchen Schwestern kennen würde. Lag dem ein gewisses Selbstbewusstsein zu Grunde? Waren seine Angriffe derart offensiv und direkt, weil er wusste, was er konnte? Er hielt seinen Stand gegenüber den beiden Schwestern, sicherlich zu deren Ärger und zur Überraschung der Beobachterinnen. Er hatte an diesem Abend einen positiven Eindruck hinterlassen, das war deutlich an den Gesichtern abzulesen. Vielleicht hatte ich ihm Unrecht getan, ihn so voller Zorn betrachtet. Vielleicht ist er doch mehr als nur ein Schatten der alten Welt.

Nachdenklich betrachtete sie die Zeilen der letzten Tage in ihrem kleinen, mitgenommenen Tagebuch, während sie am Strand Servastaes saß. Die Wellen waren ruhig, die Sonne brannte heiß. Der Geruch von Salz lag in der Luft. Aus ihrer Tasche kramte sie ein kleines Armband hervor. Es war zerrissen, wirkte wie oft geflickt und von der Zeit deutlich gezeichnet - allerdings brachte es ein Lächeln auf ihre Mimik. Drei goldene Perlen befanden sich an diesem Abend. Diese Perlen, die sie nun vorsichtig löste und auf die Gliederkette des Sonnenamuletts fädelte, welches sie von Niriel erhalten hatte. Ja, da würden sie hingehören. So wären sie immer ein Teil von ihr.

13. Sommer
Fest der Schwesternschaft


„Heute hat Rhaessa mir ein Armband geschenkt.“

Das Fest der Schwesternschaft ist immer laut. Voller Trommeln, Rufe, tanzender Schatten im Feuerlicht. Heute war ich mittendrin, obwohl ich mich manchmal lieber am Rand aufhalte. Rhaessa fand mich trotzdem, als wüsste sie immer wo ich war. Sie drückte mir das Armband in die Hand. Geflochten aus dünnen Hanfbändern, mit drei goldenen Perlen, die für Ehre, Wahrheit und Mut stehen. „Damit du dich erinnerst“ sagte sie. „Auch wenn du irgendwann vergisst.“ Als ob ich sie jemals vergessen werde.

Ich habe es den ganzen Tag getragen, obwohl es kratzt. Es fühlte sich an wie ein Versprechen. Wie eine Umarmung aus Dingen, die nicht gesagt werden. Rhaessa will eine Kämpferin werden, eine, die zusammen mit den Jaguaren durch den Dschungel patrouilliert und jederzeit bereit ist, sich dem Feind zu stellen. Sie glaubt, ich werde einmal über das Wissen wachen, das in den Tempeln bewahrt wird. Ich habe gelacht. Ein echtes, offenes Lachen, was sie mir immer wieder entlocken konnte.

„Nur wenn ich mir keine weiteren Knochen breche beim Reitunterricht.“ Mehr scherzend waren die Worte gemeint, auch wenn sie genau so wusste wie ich, dass ich einfach nicht die beste Reiterin war.

Später saßen wir am Rand des Festplatzes, sahen den Flammen zu, wie sie Funken in den Himmel warfen. Ich dachte mir, wenn Rhaessa sich in den Kampf stürzt, will ich diejenige sein, die ihr nicht nur mit Wissen, sondern auch mit einer helfenden Hand zur Seite stehen kann. Wenn sie verletzt wird, will ich etwas tun können. Wenn ich schon nicht selber die bin, die eine Zielscheibe trifft, dann will ich die sein, die weiß Wunden zu schließen.

Ich habe beschlossen, Rhaessa ein Lied zu schreiben. Eins über das Licht auf dem Wasser, das tanzt, auch wenn niemand hinsieht. Sie sagt, ich denke in seltsamen Bildern. Ich glaube, das ist mein Geschenk.

Die Mundwinkel wanderten sanft hinauf, während sie den Moment in Erinnerungen schwelgte, ehe sie mit einem kleinen Durchatmen jedoch an den letzten Abend dachte. Ein Schatten, den sie nicht verdrängen konnte und mit einem mehr missmutigen Ausdruck wurde natürlich auch der letzte Abend festgehalten. Ob das etwas bringen würde? Wer weiß das schon.


20. Sommer
Tag der Überraschungen


Ich hatte mich wohl doch nicht gänzlich getäuscht oder mich im Unrecht gesehen.

Der Sklave hat heute eigenständig, aus Wut heraus, wie es schien, gehandelt. Die Kaiserin hat ihm dafür das stumpfe Ende ihres Speers in die Kniekehlen gestoßen. Am Ende ist er, wie jeder andere Mann auch, unfähig seine Impulse unter Kontrolle zu halten.

Das beste Beispiel dafür, hat versucht, die goldenen Mauern Servastaes zu erklimmen. Ein Mann, der aussieht wie ein Straßenköter. Schwach, dreckig, aber von sich selbst überzeugt. Er ist nun in Gefangenschaft der Schwestern, soll seine Schuld abarbeiten, aber ich zweifele noch daran, ob er dazu in der Lage ist.

Im Vergleich zu Arbitos ist er nichts. Sinoea hat mir das Versprechen gegeben, dass sein Körper in einem Jahr ansprechend sein wird, sollte er bis dahin überleben. Ein Jahr, um diesem sinnlosen Leben einen Sinn zu geben. Ein Jahr um seine Schuld bei den Schwestern zu begleichen.

Ich frage mich, was Arbitos davon hält. Er scheint diesen Mann zu hassen. So zornig und so hasserfüllt, habe ich ihn bisher noch nicht gesehen.
Ich frage mich warum.
Ich werde ihn wohl fragen müssen.
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