Der Ruf des Gleichgewichts

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Sion Vargblod
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Der Ruf des Gleichgewichts

Beitrag von Sion Vargblod »

[Vor einigen Mondläufen]

Sion stand auf einem Felsvorsprung und betrachtete die neue Welt, in die ihn das Schicksal geführt hatte. Der Wind zerrte an ihm und trug den Geruch von Feuchtigkeit und Leben mit sich. Er war alt, sogar für einen Werwolf. Und so gingen die Spuren der Zeit auch an ihm nicht mehr spurlos vorüber. Er erinnerte sich, wie er den Mondstein zum ersten Mal gesehen hatte. Leuchtend und verheißungsvoll sollte er unweigerlich seinen Einfluss auf sie alle ausüben. Die alte Welt war in Flammen und Chaos untergegangen. Doch kurz vor dem Ende hatte der Mondstein noch einmal pulsiert und Sion und alle anderen Werwölfe zu sich gerufen. In einer Vision offenbarte sich eine uralte Werwolfseele und erzählte von ihrer Herkunft. Sie seien eine Schöpfung des "Herrn", des Gottes der Ordnung und des Lebens. Sion verachtete die Vorstellung daran. Er wollte nicht akzeptieren, dass er die Schöpfung eines Gottes war.
Aber die Worte hatten Folgen. Mit dem Untergang der alten Welt erlöste ihn der Mondstein von der verfluchten Zwangswandlung. Der Stein versank mit einem der Schiffe in den Tiefen des Meeres und mit ihm, so hoffte Sion, auch die Ketten, die sie an den Vollmond fesselten.
Er ballte die Faust, als seine Gedanken in die Gegenwart zurückkehrten. Nun war ein Splitter des Mondsteins zurückgekehrt und mit ihm die Gefahr, dass sich der alte Fluch erneut über sie legte.

Seit Jahrhunderten lebte Sion nach dem Kodex des Equilibriums, nach der Lehre vom großen Ausgleich aller Dinge. Er glaubte nicht an Götter. Nicht so, wie es die Paladine, Wächter und Priester der jeweiligen Glaubensgemeinschaft taten. Jene Wesen, die sich als solche verehren ließen, waren zweifelsohne mächtig, doch waren sie alle abhängig von der Hingabe ihrer Anhänger. Sie manifestierten ihre Macht unmittelbar durch den Glauben an sie, waren also ebenso abhängig von ihren Gläubigen, wie die Gotteskrieger und Priester von ihren Göttern und trugen somit nichts “göttliches” in sich. Eine groteske Wechselwirkung. Wahre Macht, davon war er überzeugt, lag nicht in der Anbetung, sondern im Wissen, in der Beherrschung der eigenen Fähigkeiten und im unbändigen Willen und Eifer die Grenzen des eigenen Potenzials immer wieder aufs Neue in Frage zu stellen. Sion war ein Meister der Elementarmagie, der Sturm, Feuer, Erde und Wasser beherrschte. Jahrzehnte der Disziplin hatten ihn dazu befähigt, alle vier arkanen Elementartstränge zu sehen und nach seinem Willen zu formen. Doch trotz all seiner Macht zeigte ihm die Zwangswandlung bei Vollmond, dass Kontrolle eine Illusion war... 

Nun war ein Splitter des Mondsteins zurückgekehrt. Noch klein, aber mit wachsendem Einfluss. Sion spürte seine Gegenwart in seinen Träumen und in seinem Blut. Sollte er wachsen, könnte er den alten Fluch zurückbringen. Das durfte nicht geschehen.
Mit einem tiefen Atemzug zog er die arkane Kraft in sich, spürte das Flackern der Elemente in seinem Geist. Er hob die Hand. Flammen loderten in seinen Fingern auf, die Luft knisterte vor Energie, die Erde bebte unter seinen Füßen. Dann richtete er seine geballte Kraft auf den Splitter, um ihn zu vernichten.
In dem Augenblick, als das Feuer den Stein traf, löste sich die Magie, die er wirkte, auf. Sion erstarrte, beide Hände flach auf den Splitter gepresst. Seine Kraft verließ ihn. Eine Stimme ertönte in seinem Geist. Grollend und dröhnend. Eine Entität, die eine Dominanz ausstrahlte, der selbst er sich nicht entgegenstellen konnte.

 "Vargblod."

Es war als gruben sich lähmende Fänge in sein Bewusstsein. Der Mondstein pulsierte, und aus ihm erhob sich die geisterhafte Wolfsseele mit Augen aus glühendem Licht, die ihnen am Ende der alten Welt erschien.

"Du kannst mich nicht zerstören, denn wir sind eins."

Die Welt verschwamm. Sion fiel in einen bodenlosen Abgrund. Sein Bewusstsein wurde in den Mondstein gezogen. Erinnerungen strömten auf ihn ein – nicht seine eigenen, sondern die der Generationen vor ihm. Er sah die Werwölfe im Mondlicht jagen, sah, wie sie in Raserei gerieten, spürte den Hunger und die Wut, die sie verspürten, wenn sie die Kontrolle verloren und der sie daran erinnerte was sie waren.
Die Stimme der uralten Seele hallte in ihm wieder.

"Du schützt das große Gleichgewicht, aber du hast vergessen, dass Zerstörung nicht das einzige Mittel ist, um es zu erhalten, und dass es nicht allein durch die Vernichtung der Untoten, Dämonen und fremdartigen Wesen dieser Welt bewahrt werden kann. Leben und Tod, Ordnung und Chaos, Licht und Dunkelheit - sie alle sind Teil eines Ganzen. Deine Bestimmung ist es, die materielle Welt vor dem Widernatürlichen und den Eindringlingen aus den anderen Ebenen zu schützen. Nicht nur, indem du SIE vernichtest, sondern auch, indem du deine eigene Welt wachsen und gedeihen lässt. Stärke das Rudel und mache diese Welt widerstandsfähiger gegen die Verderbnis, die sie befallen will."

Sion wollte widersprechen. Doch tief in seinem Inneren wusste er, dass diese Aufgabe genau seiner Überzeugung entsprach. Ob er nun die Schöpfung eines Gottes war oder nicht, spielte keine Rolle mehr. Er würde tun, wozu er bestimmt war und was sein Instinkt ihm sagte.
"So sei es...", hörte er seine eigenen Gedanken und sah mit ihnen die geisterhafte Erscheinung seiner Wolfsgestalt neben sich, die unterwürfig den schweren Kopf vor dem Mondstein senkte.
Die Essenz des Mondsteins durchflutete ihn und er spürte, wie ihn ein machtvoller Impuls ihn erfüllte. Aber es war nicht die vertraute Kraft der Elemente. Er veränderte ihn und seinen Blick auf das arkane Gewebe. Wo einst rohe Elementargewalten tobten, sah er etwas anderes. Etwas Neues. Es war so viel vielschichtiger und nicht mehr nur zerstörerisch, sondern regenerierend und schöpferisch. Die Elemente waren ein Teil davon. Er erahnte ihre Strukturen in dem Gewebe, dass wie Blätter im Herbststurm umherwirbelte. Vermeintliches Chaos, das jedoch einer harmonischen Ordnung folgte und komplexe Strukturen ausformte.  Eine Magie, die das Gleichgewicht wahrte und untrennbar mit dieser Welt verbunden war.

Dann schleuderte ihn die Macht aus der Vision.
Sion fiel auf die Knie, sein Körper zitterte. Er spürte die Veränderung in seiner Seele, in seiner Magie. Er konnte das Gleichgewicht nicht mehr nur erzwingen. Er konnte es nun formen und heilen. Eine tiefe Verbundenheit mit der Welt um ihn herum erfüllte ihn. Trotz der belebenden Energie, die ihn berührte, fühlte er sich schwach und ausgelaugt. Es würde dauern, bis er diese neuen arkanen Stränge so meisterhaft formen konnte, wie er es einst mit den Strängen der reinen Elemente getan hatte. Sie waren für ihn nicht mehr greifbar und verschwommen hinter dem Flimmern der neuen Kraft, die sich ihm nun offenbarte.
Ein neuer Pfad tat sich vor ihm auf. Und er würde ihn beschreiten.

[wenige Wochen darauf]

Nun war der junge Mondstein in den Händen der “anderen”. Sion würde dafür sorgen, dass er zurück in die Obhut des Rudels gelang. Nicht zuletzt, um eine mögliche Heilung für Tyladriel in ihm zu finden…
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