Die letzte Wahrheit

Rollenspielforum für Geschichten.
Antworten
Benutzeravatar
Keal Marethon
Beiträge: 1
Registriert: 14 Apr 2025, 23:50

Die letzte Wahrheit

Beitrag von Keal Marethon »

 … und sie erkannte seine Herrlichkeit, die seinen Jüngern überbracht wurde. Die einzige Wahrheit, die sie fortan nur noch kennen sollten. Die Wahrheit ist eine Gabe, die nicht jedem zuteilwerden kann – und jene, die sie verleugnen, sollen brennen in seinem Zorne …
Verfasser unbekannt

Akt 1 – Der Ruf
Die Geschichte von Keal begann unscheinbar, unaufgeregt. Als Sohn eines Gelehrten war er in die Fußstapfen seines Vaters getreten – ein Leben im Schatten der Bücher, der Karten und der vergessenen Sprachen. Die Bibliothek der Marethons war kein Ort der Pilgerfahrten oder der großen Geister, eher ein stilles Refugium – ein kleiner Buchladen am Rand des südlichen Handelspfades, gefüllt mit Schriften, die andere weggeworfen hatten oder deren Herkunft längst vergessen war. Doch was viele als Ansammlung von Gerümpel sahen, war in Wahrheit ein stilles Netz aus Wissen, das sich durch Zeiten und Reiche spannte.

Die Familie Marethon war gesegnet – oder, wie manche flüsterten, verflucht – mit ihrer gewissen Neigung zu den Dingen, die jenseits des Sichtbaren lagen. Kartographen, Chronisten, Sammler von Weltfragmenten – die Marethons katalogisierten, bewerteten und sortierten nicht nur Bücher, sie bewahrten sie. Und was sie aufnahmen, wurde nicht so schnell wieder losgelassen.

So wuchs Keal auf zwischen dem Duft alter Tinte und dem Kratzen der Feder, zwischen staubigen Regalen und den Stimmen toter Autoren. Er liebte das Sortieren, das Wiederherstellen zerrissener Manuskripte, das Deuten fremder Runen.

Dem Schicksal konnte sich niemand entziehen – weder durch Leugnung noch durch Flucht. Es griff mit harter Hand und warf die Seelen in einen Schmelztiegel der Geschehnisse. Keals Leben sollte schon bald einen Wandel erleben, den er nicht hatte kommen sehen.

Es war ein heißer Tag gewesen, die Sonne schien unnachgiebig auf das Land hinab, und der aufziehende Sturm würde die erlösende Kühlung herantragen. Keal selbst war ein Einzelgänger, jemand, der sich nur den Büchern hingab und so war es nicht verwunderlich das er auch an diesem Tage in der Bibliothek war. So einsam seine Seele auch war, so fühlte er sich zwischen den Geschichten, die ihn umgaben, immer am wohlsten.

Während er wie gewöhnlich Bücher sortierte, fiel ihm eines auf – ein Band ohne Beschriftung, ohne Zeichen, ohne Herkunft.
Es war nicht ungewöhnlich, dass Bücher ohne Titel auftauchten. Oft waren sie nur beschädigt, hatten ihr Pergament im Feuer verloren oder wurden aus Hast nie ordentlich gebunden. Doch dieses Buch war anders.

Der Einband war tiefdunkel, fast wie ölgetränkter Stoff, und trug weder Namen noch Zeichen – nicht einmal ein Spurenmuster des Alters. Als hätte es nie der Zeit unterlegen, sondern sei aus ihr selbst herausgeschnitten worden. Keal nahm es vorsichtig in die Hand, und ein kaum merklicher Schauder lief ihm den Nacken hinab. Das Material fühlte sich … falsch an. Nicht kalt. Nicht warm. Nur falsch.

Er blätterte die ersten Seiten auf – leer. Dann weiter – ebenfalls leer. Nichts sprach aus diesem Buch, kein Wort, keine Notiz, keine Spur eines Verfassers. Nur Stille.
Doch irgendetwas hielt ihn davon ab, es beiseite zu legen. Vielleicht war es die Art, wie es sich in seinen Händen anfühlte – als würde es ihn festhalten. Vielleicht der leichte metallische Geruch, der plötzlich in der Luft lag. Oder das Kratzen hinter seinen Augen, wie ein Gedanke, der noch nicht gedacht war.
Er schlug es noch einmal auf, diesmal langsamer. Und dann stand da etwas. Nur ein Satz. Mitten auf der Seite. In Tinte, die noch glänzte, als sei sie eben erst getrocknet:

Wirst du mir zuhören, wenn die Welt dich zum Schweigen bringen will?

Keal erstarrte. Seine Finger berührten die Zeile nicht – irgendetwas in ihm sagte ihm, es nicht zu tun.

Er starrte auf den Satz. Nicht, weil er ihn nicht verstand – sondern, weil er ihn verstanden hatte, noch bevor er ihn wirklich gelesen hatte. Das Gefühl war seltsam vertraut, wie eine Erinnerung an einen Traum, den man nicht mehr zuordnen kann, der aber trotzdem den ganzen Tag nachklingt.

Keal schüttelte leicht den Kopf. Wahrscheinlich ein Scherz. Eine Randnotiz. Ein Fragment aus einem vorherigen Werk, das jemand ergänzt hatte.
Er schloss das Buch. Ging zwei Schritte zur Seite. Wieder zurück. Öffnete es erneut. Die Seite war leer.

Sein Atem ging ruhiger, doch in seinem Innersten – dort, wo er nie wirklich hinsah – war etwas wach geworden. Etwas, das keine Worte brauchte.
In den Tagen danach konnte Keal das Buch nicht mehr aus dem Kopf schlagen. Er stellte es ins Regal. Fand es am nächsten Tag auf seinem Arbeitstisch. Verlegte es in eine andere Etage – nur um es am Abend auf seinem Stuhl liegend zu entdecken.

Nie gab es Zeugen. Nie fühlte er sich beobachtet. Und doch war da … eine Nähe. Eine Präsenz, die nicht anwesend war, aber auch nicht fort.

Als er sich eines Abends schlafen legte, plagten ihn Träume oder waren es vielmehr Visionen? 

Er schreckte auf. Das Buch – offen. Die Seite beschrieben. Nicht mit einem Wort, sondern mit einem Symbol: ein Kreis, von Linien durchstoßen, unvollständig. Keal kannte es nicht. Und doch… hatte er es gezeichnet.
Antworten