Indoktrination

Rollenspielforum für Geschichten.
Antworten
Gaviel
Beiträge: 10
Registriert: 04 Mär 2024, 10:39
Been thanked: 10 times

Indoktrination

Beitrag von Gaviel »

Kapitel 1: Der Anfang der Finsternis
 
In einem abgelegenen Tal, eingekesselt von dichten Wäldern und grauen, schroffen Bergen, lag ein Dorf – vergessen von der Welt und fest im Griff einer uralten Ordnung. Die Luft roch nach Asche und kaltem Eisen, der Boden war hart und lehmig, und das Herz des Dorfes schlug im Rhythmus der Gebote des Tempels. Aus schwarzem Basalt errichtet, ragte dieser wie ein Monolith in den Himmel, sein Inneres erfüllt vom Rauch ritueller Feuer und den Stimmen der Unterwerfung.

Der Hohepriester war nicht nur eine Figur, er war ein Konstrukt – eine lebendige Ikone aus Angst, Mythos und eiserner Disziplin. Unter seiner Herrschaft verwandelte sich die Religion in ein Netz aus Regeln, Riten und Ritualen, die bis in die innersten Gedanken der Menschen reichten. Er predigte nicht zu den Menschen – er sprach durch sie, formte ihre Worte, ihre Ängste, ihre Erinnerungen. Seine Augen waren grau wie vernarbter Stein, sein Blick durchdrang jedes Lächeln wie ein Dolch durch weiches Tuch.

Hier wuchs ein Kind auf, namenlos wie viele andere. Der Sohn eines schweigsamen Schmieds, eines Mannes, dessen Hände Schwielen trugen von der Arbeit und dessen Seele in sich die Reste eines einst freien Willens barg. Die Mutter jedoch – sie war ein Schatten gewesen, ein flüchtiges Licht. Eines Morgens fand man sie barfuß im Fluss, den Blick starr auf das Wasser gerichtet, flüsternd von Stimmen, die aus dem Spiegelbild sprachen. Man trug sie fort – nicht zur Heilung, sondern in das unterirdische Gewölbe des Tempels. Wochen später trat ein Ritualmeister vor die Familie und sprach von ihrer „Erhöhung“. Doch das Kind sah auf dem Scheiterfeld etwas Weißes in der Asche. Ein Zahn vielleicht.

Es fragte nie, wohin sie gegangen war. Fragen bedeuteten Misstrauen. Misstrauen war Ketzerei.

Schon als Kleinkind war sein Alltag durchtränkt von unheilvollen Symbolen: Die Glocke, die morgens schlug, bedeutete Reinigung. Die Glocke am Abend bedeutete Prüfung. Und jede Nacht endete mit einem Kniereit in der kalten Halle des Flüsterns, wo die Kinder auf Steinplatten schlafen mussten, während ein Prediger in Endlosschleife die Worte des ersten Gebots sprach: „Der Gedanke ist Fleisch. Das Fleisch ist sündig.“

Mit fünf Jahren wurde es das erste Mal geprügelt, weil es bei der Litanei das Wort „vergeben“ zu leise sprach. Ein Novize zerrte es am Ohr, hielt die kleine Hand in kaltes Wasser und tauchte dann einen glühenden Stab hinein, sodass der Dampf es blendete. Man nannte es „Sicht auf das Wahre“. Danach sprach es lauter. Nie wieder vergaß es ein Wort.

Einmal sah das Kind etwas, das nicht vorgesehen war: ein alter Mann, nackt, mit leuchtenden Symbolen in die Haut geritzt, der aus dem Keller des Tempels kroch und „Ich erinnere mich“ schrie, bevor zwei Wächter ihn niederstachen. Es wurde nie darüber gesprochen. Doch das Kind erinnerte sich.

Die Welt war nicht still – sie war betäubt. Kein Lachen, kein Singen, kein Spielen. Kinder malten nicht, sie memorierten Psalmen. Es hatte nie ein Tier gestreichelt, kein Feuer entfacht, das nicht zeremoniell war. Die Träume waren grau, die Gedanken wie Steine in einem tiefen Schacht.

Einmal stand das Kind auf der hölzernen Brücke, die den Tempel mit dem Wohnviertel verband. Unter ihm rauschte der Fluss. Es dachte: „Wenn ich springe, endet es.“ Doch dann hörte es die Glocke.

Und ging zurück.

Mit sieben Jahren sah es zum ersten Mal eine „Reinigung“. Ein Mann, der in der Öffentlichkeit bekannte, die Stimme eines alten Gottes gehört zu haben – einer Gottheit vor der jetzigen. Er wurde in einen stählernen Käfig gesetzt, der von innen mit kleinen Stacheln gespickt war. Man drehte ihn langsam. Blut tropfte auf die weißen Steine. Niemand weinte.

Es war heilig.

Der Tempel war kein Ort der Hoffnung. Er war eine Maschine. Und das Kind war ein Zahnrad.

Die Jahre vergingen. Das Kind wuchs heran. Doch mit jedem Zentimeter, den der Körper sich streckte, schnürte sich der Geist enger ein. Es entwickelte keine Sprache für das eigene Innenleben. Emotionen wurden als Krankheit gesehen. Nähe war ein Konzept ohne Fleisch. Einmal streichelte ein anderes Kind heimlich seinen Rücken, während sie nebeneinander lagen. Später wurde das andere Kind nie wieder gesehen.

Man lernte früh, sich nicht zu erinnern.

Ein Geräusch in der Nacht bedeutete nicht Hilfe, sondern Prüfung. Licht war keine Erlösung, sondern Kontrolle. Und Dunkelheit war nicht das Gegenteil davon, sondern bloß die andere Seite derselben Münze.

Eines Tages jedoch geschah etwas, das nicht im Buch der Stunden stand. Während eines nächtlichen Rituals flackerte das ewige Feuer im Herz des Tempels – etwas, das laut Legende unmöglich war. Die Flamme zuckte, zuckte erneut, und erlosch. Für exakt drei Herzschläge war es vollkommen dunkel. Kein Laut, kein Atem. Nur Leere. Und in dieser Leere spürte das Kind etwas. Kein Licht. Kein Schatten. Nur eine Erkenntnis, die keinen Namen trug.

Ein junger Akolyth schrie. Der Hohepriester trat hervor und schlitzte ihm ohne ein Wort die Kehle auf. Blut auf dem Altar. Die Ordnung war wiederhergestellt.

Doch etwas hatte begonnen. Etwas, das nicht gelöscht werden konnte. Keine Glut. Kein Gedanke. Kein Name.
Gaviel
Beiträge: 10
Registriert: 04 Mär 2024, 10:39
Been thanked: 10 times

Re: Indoktrination

Beitrag von Gaviel »

Kapitel 2: Die Tiefe der Formung

Mit dem Erlöschen der ewigen Flamme hatte sich etwas im Tempel verschoben – nicht sichtbar, nicht greifbar, aber spürbar wie ein feiner Riss in einem Spiegel, den man nicht sieht, aber dessen Spiegelbild sich verändert. Die Gesichter der Novizen wurden starrer, die Schritte der Wächter schwerer. Die Predigten wurden länger, kryptischer, durchdrungener von Warnungen vor „inneren Verformungen“. Das Kind wusste nicht, was das bedeutete. Es wusste nur, dass es sich selbst weniger fühlte als je zuvor.

Der Hohepriester verhängte eine Zeit der Einkehr: Drei Wochen der Schweigsamkeit. Keine Stimmen, keine Fragen, kein Blickkontakt. Die Kinder trugen schwarze Masken aus Leinwand, deren einziger Schlitz nach innen zeigte – auf die Augen. Es war, als sollten sie sich selbst nicht mehr erkennen. Essen wurde stumm gereicht, unter dem Tisch gegessen. Jeder Schritt, der ein Geräusch verursachte, wurde mit einem Splitter unter dem Fingernagel bestraft. Die Tage verschwammen, wurden breiig, wurden leer.

Dann begann die zweite Phase: Das Auflösen der Zeit.

Uhren wurden abgehängt, Glocken verstummten. Der Tag wurde zu einem Kreis, ohne Anfang, ohne Ende. Das Kind wurde Teil einer neuen Gruppe: Der Spiegelzelle. Sie bestand aus sechs Jungen und sechs Mädchen, alle mit rasierten Köpfen, alle ohne Namen, ohne Stimme. Die Aufgabe war einfach – man setzte sich einander gegenüber und sagte das auswendig Gelernte der letzten Woche auf. Falsch ausgesprochen? Dann durfte der andere zuschlagen. Es war kein Spiel. Es war das Einüben von Zurechtweisung. Es war das Einpflanzen des Glaubens, dass der andere die eigene Schwäche war.

Eines Nachts wurde das Kind aus dem Schlaf gerissen. Zwei Novizen führten es in einen Raum, den es nie zuvor gesehen hatte – fensterlos, rund, mit einem Boden aus poliertem Obsidian. In der Mitte stand eine Gestalt. Vermummt. Stumm. Die Stimme kam aus den Wänden, tief und vibrierend, ohne Ursprung: „Du wirst nicht geprüft. Du wirst geklärt.“

Das Kind wurde gezwungen, in einen Sarg aus Glas zu steigen. Die Gestalt legte ihm eine schwarze Flüssigkeit auf die Stirn. Dann wurde der Sarg verschlossen. Eine Stunde? Ein Tag? Es wusste es nicht. Der eigene Atem wurde zum einzigen Geräusch. Dann begann das Licht zu flackern – nicht außen, sondern innen, im Kopf. Visionen: Seine Mutter, die ihre eigenen Augen zerdrückte. Der Vater, der mit leerem Blick sein eigenes Fleisch aß. Und er selbst, aufgelöst, durchscheinend, ein einziger Wille, der flüsterte: „Ich bin nur, was mir gesagt wird.“

Als der Sarg geöffnet wurde, zitterte das Kind. Es sah in die Augen der vermummten Gestalt. Und erkannte sich selbst. Es schrie.

Danach wurde es anders behandelt. Es bekam ein eigenes Bett – ein Privileg. War es eine Belohnung? Oder eine neue Prüfung? Andere Kinder begannen es zu meiden. Ein Novize sagte im Vorbeigehen: „Die Leere hat dich berührt.“

Die Tage wurden zu Labyrinthen aus Symbolen. Man lernte nicht mehr bloß Psalmen – man lernte, sie rückwärts aufzusagen. Man schrieb mit Nadeln in die eigene Haut. Man ließ Worte durch Schmerz einbrennen. Man wurde nicht mehr belehrt – man wurde umgeformt. In einem Raum, der nur „Der Widerhall“ genannt wurde, wurde das Kind angekettet, während Stimmen aus versteckten Öffnungen verschiedene Wahrheiten schrien: „Du bist der Verrat!“ – „Du warst nie geboren!“ – „Dein Schmerz ist dein Beweis!“

Nach Tagen im Widerhall hörte das Kind auf, die Stimmen als fremd zu empfinden. Sie wurden sein Innenleben.

Am Tag des 13. Zyklus – einem Datum ohne Zeit – wurde es zum Hohepriester gerufen. Zum ersten Mal ohne Zwischenstation. Die Halle war leer. Der Hohepriester stand nicht auf dem Podest. Er saß. Auf einem Stuhl aus weißem Holz, vor einem Spiegel. Ohne Maske. Sein Gesicht war alt. Verletzlich. Augen wie Nebel. Er sprach nicht. Er sah. Minutenlang.

Dann sagte er: „Glaubst du?“
Das Kind nickte.
„Nein. Du funktionierst. Das ist nicht dasselbe.“

Das Kind zitterte. Etwas regte sich in ihm. Etwas, das weder Erinnerung noch Gedanke war. Nur ein Riss. Eine Ahnung.

Der Hohepriester stand auf. Reichte dem Kind einen Schlüssel. „Das ist dein nächster Kreis. Öffne, was verschlossen ist.“

In der folgenden Nacht träumte das Kind zum ersten Mal in Farben. Eine Hand aus Licht, die es zog. Und eine andere aus Dunkelheit, die es hielt.

Am nächsten Morgen war der Spiegel im Schlafraum zerbrochen. Niemand sagte ein Wort. Etwas war erwacht. Nicht im Kind. Sondern gegen die Form, die es geworden war.
Antworten