Schattenherz

Rollenspielforum für Geschichten.
Schattenherz
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Schattenherz

Beitrag von Schattenherz »

Ein Tag in Caer Morlen

 
Caer Morlen lag wie vergessen zwischen sanften Hügeln, wo der Wind Geschichten erzählte und der Morgennebel sich zärtlich über das Dorf legte. Keine Karte nannte seinen Namen. Kein Händler kam zweimal im Jahr. Und doch war es für seine Bewohner die Mitte der Welt.

Die Tage begannen mit dem Klang von Hühnern, dem Geklapper von Eimern am Dorfbrunnen und dem leisen Summen von Liedern, die man nicht sang, sondern lebte. Ravielle wuchs inmitten dieser Melodien auf – Tochter eines Holzschnitzers und einer Heilerin. Das Haus der Familie stand nah am Waldrand, wo das Licht durch die Blätter tanzte und der Wind oft zuerst die Saiten ihrer Laute berührte, bevor er weiterzog.

Ihr Vater, Coran, war ein ruhiger Mann mit starken Händen und einem Blick, der lieber beobachtete als sprach. Seine Figuren – Tiere, Götter, tanzende Kinder – standen in fast jedem Haus. Ihre Mutter, Maelis, war das Lachen des Dorfes: warm, bestimmt, immer in Bewegung, mit heilenden Händen und scharfer Zunge. Ravielle selbst war stiller. Nicht scheu, nur… hörend. Die Welt sprach zu ihr in Zwischentönen. In Vogelrufen. In knarrenden Dielen. In Halbsätzen, die andere übersahen.

Ihr älterer Bruder Lethan war das Gegenteil. Immer mitten im Dorftrubel, mit Pfeil und Bogen auf dem Rücken und Geschichten auf den Lippen, die selbst die Ältesten zum Schmunzeln brachten. Er war es, der Ravielle das Bogenschießen beibrachte. Sie war es, die ihm das Zuhören beibrachte.
Nachmittage in Caer Morlen rochen nach warmem Brot und frischem Holz. Kinder jagten über die Wiesen, Hunde bellten, irgendwo übte jemand auf einer Flöte. Ravielle spielte oft auf der kleinen Bühne am Dorfplatz – meist heimlich, wenn niemand hinsah. Ihre Musik war keine für Feste. Sie war für das, was zwischen den Tagen lag.
 
Am Abend versammelte sich das Dorf oft am Feuer vor dem Versammlungshaus. Es wurde gesungen, erzählt, gegessen. Ravielle saß meist nah bei ihrer Mutter, beobachtete die Schatten der Flammen auf den Gesichtern, lauschte den alten Liedern, die selten ganz gleich klangen. Und manchmal, ganz leise, stimmte sie ein.
 

Es war ein einfaches Leben. Kein ruhmreiches. Kein bedeutendes.
Aber es war echt. Warm. Voll.
 

Niemand hätte gedacht, dass etwas jemals dieses Lied verstummen lassen könnte.
 
 
Zuletzt geändert von Schattenherz am 07 Aug 2025, 21:54, insgesamt 1-mal geändert.
Schattenherz
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Re: Schattenherz

Beitrag von Schattenherz »

Tagebucheintrag ICaer Morlen – Ein gewöhnlicher Tag im Frühling
 
 
„Der Morgen war von Vogelstimmen durchdrungen – der Klang wehte durch die offenen Fenster wie ein erstes Lied.

Lethan hat mich geweckt, wie immer viel zu früh. Er stand schon mit der kleinen Holzharfe im Arm vor meinem Bett, seine Finger ungeduldig auf den Saiten klopfend. Ich habe gelächelt. Man kann ihm nicht lange böse sein.

Wir haben uns draußen auf den flachen Stein gesetzt, unter dem alten Baum beim Brunnen. Seine Harfe klingt heller als meine, fast wie Kinderlachen. Ich spiele tiefer, voller – und gemeinsam haben wir eine alte Melodie aus dem Westen geübt, die Mutter uns beigebracht hat.

Gegen Mittag habe ich Mila beim Backen geholfen. Sie hat sich die Schulter verrissen, also hab ich den Brotteig geknetet, während sie mir wieder eine ihrer endlosen Geschichten erzählt hat – diesmal über einen Mann, der mit einem Wolf sprach.
Danach half ich beim Webstuhl in der Halle, und am späten Nachmittag haben Lethan und ich für die Kinder gespielt. Sie tanzen immer, wenn er spielt – ich bin sicher, sie verstehen ihn besser als ich manchmal.

Heute war nichts Besonderes. Keine Kunde aus dem Süden. Kein Regen. Kein Streit. Nur Lachen, Arbeit, Musik und ein Sonnenuntergang, der golden durch die Blätter fiel.

Ich glaube, es sind diese Tage, die man später am meisten vermisst.“
Zuletzt geändert von Schattenherz am 07 Aug 2025, 22:09, insgesamt 2-mal geändert.
Schattenherz
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Re: Schattenherz

Beitrag von Schattenherz »

 
*Einige dutzende Tagebucheinträge später. Gewöhnliche Tage hat Ravielle irgendwann nicht mehr in ihrem Tagebuchg niedergeschrieben*
 
 Tagebucheintrag – Caer Morlen, Frühling, Jahr des Sonnenregens
„Aleya von nirgendwo“
 


Heute war einer jener Tage, die du kaum bemerken würdest, wenn sie nicht so still und vollkommen wären. Die Sonne hat den Fluss zum Singen gebracht, und ich glaube, selbst die Bienen haben im Takt gesummt.
 
Aber das ist nicht der Grund, warum ich schreibe.
Heute kam Aleya nach Caer Morlen.
 
Sie ist eine Bardin – gerade einmal zwanzig Jahre alt, aber mit einem Lachen, das klingt, als hätte es die Welt schon zehnmal umarmt. Ihr Haar ist schneeweiß, leuchtend wie frisch gefallener Frost im Frühling – und doch wirkt es nicht alt, sondern lebendig, leicht, wie aus Licht gemacht.
 
Sie trägt eine kleine Harfe am Gürtel, zierlich, fast unscheinbar, aber wenn sie sie anspielt, wird die Welt leiser, als wolle sie zuhören.
 
Niemand weiß, woher sie stammt. Ich habe sie gefragt, aber sie lächelte nur und sagte:
„Von irgendwo. Und bald wieder irgendwohin.“
 
Und seltsamerweise… war das genug. Es passt zu ihr.
Wie Wind, der nie einem Ort gehört.

 Wir sprachen fast den ganzen Abend.
 
Zuerst über Musik – Tonarten, Harfenstimmung, alte Lieder, die man nur flüstert.
Dann über Träume – über Orte, die keiner kennt, Namen, die klingen wie verlorene Saiten. Sie erzählte mir von einem Brunnen, der Musik statt Wasser gibt, und von einem Markt, auf dem man Geschichten gegen Brot tauscht.
 
Ich erzählte ihr von den Hügeln hier, vom Apfelkuchen meiner Mutter, vom alten Lied des Brunnens, das nur die Alten noch kennen. Und sie hörte zu, als wäre es eine Ballade aus Gold.
 
Später spielten wir zusammen. Ihre Harfe, meine Laute. Kein Publikum, kein Applaus. Nur Töne, die ineinanderflossen wie Stimmen von zwei alten Freunden, die sich eben erst getroffen haben.

 Sie bleibt noch ein paar Tage.
Ich hoffe… vielleicht noch ein paar mehr.

Sie sagte, ich hätte eine Stimme, die nach Winterlicht klingt. Ich weiß nicht, ob das ein Kompliment war.
Aber sie meinte es warm. Und ehrlich.

Ich habe das Gefühl, ich könnte ihr alles sagen.
Und vielleicht werde ich das auch. Morgen.
Oder übermorgen.


Wenn der Fluss noch singt.
 – Ravielle
nur Ravielle, heute mehr Mädchen als Lied
Zuletzt geändert von Schattenherz am 07 Aug 2025, 22:09, insgesamt 1-mal geändert.
Schattenherz
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Re: Schattenherz

Beitrag von Schattenherz »

Tagebucheintrag – Caer Morlen, Abenddämmerung
 
„Der letzte Tag in Licht“

 
Es war ein goldener Abend.
Der Wind kam vom Süden her, warm und schwer wie der Atem eines ruhenden Riesen. Die Felder waren still, das Laub hing müde an den Ästen, als wollte es den Sommer nicht loslassen. Vater schärfte seinen Bogen am Brunnen, während meine Mutter die Apfelkuchen buk, die nur sie richtig konnte – mit dem Hauch von Honig, den sie in keinem Rezept erwähnte.

Mein Bruder übte an seiner Laute.
Falsch. Wieder falsch. Er fluchte, dann lachte.
Ich schrie ihn an, er solle üben, nicht jammern. Er schrie zurück, ich solle weniger ernst sein. Wir schrien beide, dann lachten wir.

Ich sitze jetzt auf dem Dach unseres Hauses, die Beine über der Kante, mit Blick auf den Horizont.
Ich habe heute einen Vogel gesehen, den ich noch nie hier gesehen habe. Schwarz. Kein Rabe, kein Falke. Er flog tief.
Oma hätte gesagt: „Wenn ein schwarzer Vogel dich anschaut, vergiss nicht, ihn zurück anzusehen.“

Ich sah ihn an. Er blinzelte.
Ich glaube, er weiß etwas, was ich noch nicht weiß.

Es liegt etwas in der Luft. Nicht Sturm. Nicht Regen. Etwas… Leises.
Wie der Moment vor dem Bogenknall.
Wie das Einatmen vor dem ersten Ton.
Wenn morgen wieder so schön wird, will ich mit meinem Bruder draußen spielen. Vielleicht das alte Lied, das Vater nie hören wollte, weil es zu traurig war. Vielleicht wird es morgen gar nicht traurig klingen. Vielleicht...

Ich höre jetzt auf zu schreiben. Mutter ruft. Es riecht nach Apfel und Honig.
 – Ravielle
nur Ravielle
Zuletzt geändert von Schattenherz am 07 Aug 2025, 22:10, insgesamt 1-mal geändert.
Schattenherz
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Re: Schattenherz

Beitrag von Schattenherz »

Seite II – Rückseite, mit zittriger Schrift
 
„Es hat begonnen.“
 
 
 
Etwas stimmt nicht. Ich schreibe das hier im Halbdunkel, weil ich… ich will nicht rufen. Ich will nicht die Erste sein, die es laut macht. Aber da ist Rauch.

Nicht vom Ofen. Nicht aus dem Schornstein.
Vom Süden. Vom Wald.
Nicht weit.


Die Vögel sind verstummt. Die Kühe schreien. Ich habe noch nie gehört, wie eine Kuh schreit, aber sie tun es.


Vater hat sein Bogen genommen. Kein Wort. Einfach aufgestanden. Mutter sagte leise, ich solle meinem Bruder helfen, die Fenster zu verriegeln. Aber niemand hat etwas gesagt von Krieg. Von Feinden. Warum reden sie nicht?


Es ist kein Sturm. Es sind Reiter. Keine Fahne. Keine Farben.
Sie tragen Masken.
Sie brennen den Acker. Unser Acker.


Die Schreie. Ich habe noch nie so viele Menschen gleichzeitig schreien hören. Die Laute meiner Kindheit – sie gehen unter in diesem Grollen, diesem Bersten.


Mein Bruder wollte zur Laute greifen – ich habe sie ihm weggerissen. Was soll Musik in Flammen?


Ich verstecke das Buch hinter dem Kamin. Wenn jemand das liest – bitte… bitte schreib ihren Namen irgendwohin. Schreib: „Caer Morlen war echt.“
Wir waren echt.
Wir waren mehr als Asche.


Sie kommen näher.
Ich höre Stahl.
Ich höre meinen Namen.


Ich muss gehen.
 – R.
vielleicht zum letzten Mal




 
Die Nacht, in der Caer Morlen verschwand
 
Kein Krieg. Kein Banner. Nur Feuer und ein letzter, unterbrochener Ton.
 
 
Der Angriff kam nicht wie ein Sturm – er kam wie ein Flüstern.
Still.
Geplant.
Grausam.

In der vierten Abendstunde, als der Nebel vom nahen Fluss ins Tal sickerte, näherten sich Schatten aus dem Süden. Keine Trommeln. Keine Hufschläge. Nur das leise Splittern von Weidezaun und das zischende Geräusch von Pech auf Stahl.

Sie kamen mit verhüllten Gesichtern, als ob Scham sie selbst im Töten nicht verließ.
Kein Banner. Keine Farbe. Keine Forderung.

Die ersten Pfeile fielen auf das obere Kornfeld. Die Wache – ein alter Mann mit schiefem Rücken – fiel lautlos. Dann die ersten Schreie. Kinder. Frauen. Ein Bellen, abgewürgt von Hufgetrampel.


Feuer traf zuerst das Speicherhaus. Dann den Stall. Dann die Schmiede.
Und mit jedem neuen Flammenstoß schrien weniger Menschen – nicht, weil sie flohen, sondern weil ihre Stimmen vom Rauch verschluckt wurden.


Einige griffen zu Waffen – Väter, Brüder, mutige Dummköpfe mit Mistgabeln und zu dünnen Dolchen.
Aber gegen maskierte Reiter mit geschwärzten Schwertern war Mut nur ein letzter, verzweifelter Akkord in einem Lied, das nie zu Ende geschrieben wurde.



Inmitten dieses Chaos stand ein Mädchen, mit Ruß im Gesicht und einer Laute, die nicht mehr klang. Sie sah ihren Bruder brennen, sah ihre Mutter stürzen, sah ihren Vater bis zum letzten Pfeil kämpfen – und sah zu, wie die Welt, die sie kannte, in sich zusammenfiel.


Sie rannte nicht.
Nicht sofort.

Der letzte Teil von Caer Morlen, der stand, war der alte Baum am Brunnen.
Als der fiel, war alles gesagt, was dieses Dorf je ausgemacht hatte.

Die Angreifer verließen den Ort in der Morgendämmerung – keine Beute, keine Gefangenen. Nur Asche. Nur Stille. Nur eine verkohlte Ruine in einem Tal, das niemand auf der Karte verzeichnet hatte.


Unter einem geborstenen Balken, zwischen Glut und Rauch,
lag Ravielle.

Und schwieg.
Schattenherz
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Re: Schattenherz

Beitrag von Schattenherz »

 
Seite III – Caer Morlen, der dritte Tag nach dem Feuer
 
„Asche von Caer Morlen“
 
 
 
Die Glut ist kalt. Aber der Geruch bleibt.
 
 
 
Ich weiß nicht, wie lange ich unter dem Balken lag. Vielleicht einen Tag. Vielleicht drei. Die Zeit hatte keinen Namen mehr. Nur das Knistern war übrig. Kein Schrei. Kein Lied. Keine Mutterstimme, die mir sagte, ich solle ruhig atmen.
 
 
 
Ich erinnere mich an das Lied, das sie zuletzt sang. Leise, gebrochen, zwischen Ruß und Rauch. Sie wusste, dass niemand überleben würde. Und trotzdem sang sie. Nicht für sich. Für uns.
 
 
Ich habe das Lied nie zu Ende gehört.
Und ich werde es auch nie singen.
 
 
 
Heute habe ich mich befreit. Die linke Hand ist noch taub, aber ich kann greifen. Ich habe die alte Harfe meines Bruders aus der Asche gezogen. Der Lack ist gesprungen. Die Seiten sind schwarz an den Enden. Aber sie klingt noch. Anders. Tiefer. Als würde sie flüstern, nicht singen.
 
 
 
Ich habe keinen Namen mehr, sagte ich mir. Kein Dorf. Kein Haus. Kein Blut.
 
 
 
Und doch lebe ich.
Und ich werde spielen. Nicht für Hoffnung. Nicht für Freude.
Ich werde spielen, damit niemand vergisst.
 
 
 
Möge jeder Ton ein Schatten sein.
 
 
 
– Ravielle Schattenherz
einst von Caer Morlen
Schattenherz
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Re: Schattenherz

Beitrag von Schattenherz »

 
Tagebuch – Caer Morlen, vierter Tag nach dem Feuer
 
„Die Stille ist das Schwerste“
 

 
Der vierte Morgen. Wenn man das, was über mir liegt, noch Morgen nennen kann. Es ist heller, ja. Aber es wärmt nicht. Kein Lachen. Kein Hahnenschrei. Nur das leise Ächzen verkohlter Balken, die im Wind zittern.
 
 
 
Ich habe heute meine Schritte gezählt. Nicht aus Ordnung – aus Angst.
Angst, irgendwo den letzten Schritt zu machen.
Den zu ihrer Leiche.
Den zu seinem verbrannten Instrument.
Den zu meinem alten Ich.
 
 
 
Ich fand Reste:
– Den Ring meiner Mutter im Aschehaufen nahe dem Brunnen.
– Einen halbverkohlten Seitenstrang meines Bruders, den er nie richtig stimmen konnte.
– Vaters Pfeilspitzen, glühend tief im Boden, wo er sie mit letzter Wut verschoss.
 
 
 
Ich habe ein Tuch gefunden. Noch riecht es nach Rauch, aber ich wickelte alles hinein.
Ich kann nicht viel tragen, und die Erinnerungen sind schwer genug.
 

 
Heute habe ich beschlossen zu gehen.
 
 
 
Aber nicht ohne Zeichen.
 
 
 
An der großen Eiche vor dem Dorf – der, an der wir früher unsere Schleifen banden, wenn jemand auf Reisen ging – habe ich einen Haufen aus Steinen gelegt.
Zwölf Steine. Einer für jeden, den ich beim Namen rufen konnte.
Ich habe den Lautenwirbel meines Bruders als Krone darauf gelegt.
Und ich habe gesungen.
 
 
 
Nur eine Strophe. Leise. Gebrochen.
 
Liedfragment: „Zwölf gingen schweigend“
(gesungen am Steinhügel der Gefallenen)

 
Zwölf gingen schweigend in Flammen und Rauch,
kein Abschied, kein letzter Blick noch erlaubt.
 Kein Grabstein, kein Name, nur Asche im Wind,
doch ich singe, solang meine Lieder noch sind.
 Für Mutter, für Bruder, für Vater, für Licht –
ich sing euch zurück, auch wenn niemand euch spricht.
 In Schatten, in Lauten, in Melodie weich –
seid ihr nicht gefallen,
 ihr ruht nur im Reich.
 
Dann bin ich gegangen.
Kein Blick zurück. Nur die Erinnerung, die mitgeht.
 
 
 
Sie sollen vergessen haben, dass Caer Morlen ein Ort war.
Aber ich werde sie daran erinnern, dass es ein Zuhause war.
 
 
 
– Ravielle
Trägerin der letzten Lieder
Schattenherz
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Re: Schattenherz

Beitrag von Schattenherz »

Jenseits der Asche – Ankunft im Kloster
 
 Der Morgen, an dem Ravielle Caer Morlen endgültig verließ, war stiller als jeder zuvor. Kein Krähen der Hähne, kein Ruf von Kindern, nur der Wind, der die verkohlten Balken zum Stöhnen brachte. Ihr schwarzer Umhang roch noch nach Rauch, und doch trug sie in ihrem Herzen bereits das Echo eines Liedes, das sie hinaus in die Welt drängte.
 Die ersten Tage ihrer Reise waren hart. Sie folgte kleinen, kaum sichtbaren Pfaden durch Wälder, in denen das Rascheln von Rehen ihre einzigen Gefährten waren. Zweimal schlief sie in verlassenen Schäferhütten, einmal unter einer knorrigen Eiche, deren Äste im Mondlicht wie Arme wirkten, die sie beschützen wollten.
 In einem Dorf am Rande einer Handelsstraße verdiente sie sich ein Mahl, indem sie die Harfe ihres Bruders spielte und dazu sang – kein Lied von Trauer, sondern ein altes, fröhliches Reiselied, das den Wirtsleuten ein Lächeln entlockte. Ein kleines Mädchen legte ihr heimlich einen Apfel in die Hand, bevor es kichernd davonlief. Solche Augenblicke, so flüchtig sie auch waren, gaben ihr Kraft.
 Doch es gab auch Schatten. In einer Nacht wurde sie von räuberischen Gestalten verfolgt. Ihr Bogen bewahrte sie vor Schlimmerem: Ein Pfeil in den Boden vor den Füßen der Männer reichte, um sie fluchend zurückzulassen. Ravielle aber schlief in dieser Nacht nicht, sondern wachte, den Bogen gespannt, bis die Sonne den Morgenhimmel erhellte.
 Wochen vergingen. Ihre Stiefel waren längst vom Staub der Straßen gezeichnet, und der Saum ihres weißen Kleides trug die Spuren von Regen und Erde. Schließlich führte sie ihr Weg in ein abgelegenes Tal. Zwischen hohen Zypressen erhob sich dort ein Kloster, alt und halb überwuchert von Efeu, doch mit Türmen, die noch immer stolz in den Himmel ragten. Glocken läuteten in der Ferne, dumpf und ehrwürdig.
 Als Ravielle durch das Tor trat, empfing sie nicht etwa ein würdiger Mönch oder eine greise Schwester, sondern ein junger Mann. Er war von schmaler Gestalt, kaum älter als sie, mit Augen, die im wechselnden Licht beinahe silbrig wirkten. Sein Gewand war schlicht, doch an seinem Gürtel hing ein Dolch, der nicht ins Bild eines braven Klosterbruders passen wollte.
 „Du siehst müde aus, Reisende,“ sagte er, und seine Stimme war ruhig, beinahe freundlich. „Dies ist ein Ort der Zuflucht. Komm, wir finden dir einen Platz zum Ausruhen.“
 Ravielle musterte ihn schweigend. Etwas an ihm war seltsam – zu wachsam für einen Klosterjungen, zu wissend für sein junges Alter. Doch der Klang seiner Worte war wie Wasser auf ausgedörrte Lippen. Sie nickte nur und folgte ihm in die Schatten der steinernen Mauern, während über den Türmen die Sonne langsam unterging.
 
 
Tagebuch – „Die Mauern des Klosters“
 
Nach so vielen Wochen auf staubigen Wegen haben mich die Glocken eines alten Klosters hierher geführt. Zwischen Zypressen und grauen Steinen erhobsich dieser Ort, als hätte er schon immer gewartet.
 
Der erste, der mich empfing, war kein Greis in brauner Kutte, sondern ein junger Mann: Edzard. Seine Augen sind von einem seltsamen Silber, sein Lächeln ruhig, fast zu ruhig. Er sprach von Zuflucht und Nahrung – und ich habe ihm geglaubt, weil ich wollte, dass es wahr ist.
 
Diese Woche war die erste, in der ich nicht jeden Bissen zählen musste. Edzard sorgt dafür, dass ich satt werde, und zeigt mir, wie die Brüder in den Gärten arbeiten, wie die Glocken den Tag strukturieren. Abends sitzen wir manchmal am Feuer, und er erzählt von alten Schriften und der Geschichte des Klosters. Er spricht offen, beinahe zu offen, als gäbe es in seinem Leben keine Schatten.
 
Und doch… etwas stimmt nicht. Viele Türen bleiben mir verschlossen, nicht durch Riegel, sondern durch Ausflüchte. ‚Später,‘ sagt er dann, ‚es gibt Zeit.‘ Manche Flure scheinen ins Leere zu führen, und doch liegt dort eine Kühle, als ob Schritte diese Steine noch immer kennen.
 
Ich ruhe, esse, höre zu, und meine Kraft kehrt zurück. Aber in den stillen Stunden frage ich mich, was hinter den Mauern wirklich verborgen liegt. Edzard sieht mich an, als wüsste er, dass ich frage – und er lächelt, als sei dies Teil der Antwort.

 
Tagebuch – „Das Versprechen Edzards“
 
 
Heute war ein langer Tag. Ich habe den Brüdern geholfen, Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen, Kräuter im Garten zu ernten und später in der Schreibstube Tinte zu mahlen. Es tat gut, beschäftigt zu sein – die Arbeit hier ist still, fast heilend, und doch fühle ich mich immer wie eine Fremde in diesen Mauern.
 
Am Abend saßen Edzard und ich wieder am Feuer. Er wirkte gelöster als sonst, beinahe erwartungsvoll. ‚Morgen,‘ sagte er, ‚möchte ich dir etwas zeigen. Etwas, das nur wenige zu sehen bekommen.‘ Seine Worte waren leise, aber fest, und sein Blick war voller Glanz, als ob er mir ein verborgenes Geheimnis anvertrauen wollte. Ich wollte fragen, was er meint, doch er schüttelte nur den Kopf und lächelte.
 
Jetzt sitze ich in meiner Kammer und schreibe dies bei Kerzenlicht. Mein Körper ist müde, aber mein Geist unruhig. Was will er mir zeigen? Etwas im Klang seiner Stimme ließ es wichtig erscheinen, vielleicht sogar gefährlich. Morgen wird es sich enthüll—
Schattenherz
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Re: Schattenherz

Beitrag von Schattenherz »

Die erste Prüfung – Die Kammer der Nacht
 
 
 Als Ravielle die Feder niederlegte, spürte sie ein dumpfes Ziehen hinter den Schläfen. Der Raum verschwamm, die Zeilen ihres Tagebuchs tanzten vor den Augen – dann versank sie in Schwärze.
 Als sie wieder erwachte, war da nichts. Kein Licht, kein Laut, nicht einmal das entfernte Echo einer Bewegung. Ihre Finger tasteten den kühlen Stein unter sich, suchten nach Verletzungen, fanden aber nur den vertrauten Umriss ihrer Laute an ihrer Seite. Erleichterung mischte sich mit der Panik in ihrem Brustkorb.
 Lange geschah nichts. Ravielle saß mit angehaltenem Atem, bis schließlich eine Stimme die Stille durchschnitt – Edzards Stimme, ruhig, beinahe freundlich:
„Du befindest dich in der Kammer der Nacht. Dies ist deine erste Prüfung. Die Dunkelheit und die Stille werden deine Lehrer sein. Du wirst lernen, sie nicht als Feinde, sondern als Verbündete zu erkennen. Und vergiss nicht – die Musik wird dir immer helfen.“
 Dann war er fort. Kein Schritt, kein Geräusch.
 Die erste Nacht – oder das, was sie dafür hielt – brachte ihr nur Panik. Sie glaubte, etwas atmen zu hören, doch es war nur ihr eigener Herzschlag. Sie wollte schreien, wollte gegen die Wände schlagen, aber der Schall erstickte im Nichts. Erst, als ihre Finger über die Saiten der Laute strichen, schien die Stille zurückzuweichen. Jeder Ton blieb wie ein winziger Lichtfunke in der Finsternis.
 Später begann sie mehr wahrzunehmen. Ein kaum spürbarer Luftzug, der anzeigte, wo die Kammer einen Ausgang haben mochte. Ein Tropfen, der in unregelmäßigen Abständen fiel und den Takt der Zeit für sie schlug. Ein fernes Summen, das sie zuerst für Einbildung hielt, doch es wuchs, wenn sie sich konzentrierte – wie ein unsichtbarer Chor, den nur sie hören konnte.
 Mit jedem gezupften Ton ihrer Laute ordnete sich das Chaos in ihr. Sie wagte es, Lieder zu summen – leise, brüchig zuerst, dann kräftiger. In der Dunkelheit hörte sie ihre eigene Stimme deutlicher, reiner als je zuvor. Die Panik wich, und Gelassenheit trat an ihre Stelle.
 „Gut, Ravielle“, erklang nach einer Ewigkeit Edzards Stimme, so nah, dass sie meinte, seinen Atem zu spüren. „Du beginnst, die Dunkelheit zu sehen. Du beginnst, die Stille zu hören.“
 Drei Tage – oder mehr, oder weniger – vergingen in der Kammer, doch sie hatte kein Gefühl dafür. Für Ravielle wurde die Dunkelheit nicht mehr zum Gefängnis, sondern zu einem Resonanzraum für ihre Sinne. Sie wusste nun, wo der Luftzug den Stein streifte, wo das Summen vibrierte, wo der Tropfen aufschlug. Sie spürte Edzards Präsenz, auch wenn er keinen Laut von sich gab – als hätte ihr Körper gelernt, seine Nähe in der Stille zu erkennen.
 Als sich die schwere Tür schließlich öffnete und das erste fahle Licht die Kammer erhellte, kniff Ravielle die Augen zusammen. Der Schein tat beinahe weh. Doch in ihrem Inneren wusste sie: Sie hatte etwas Kostbares gewonnen.
 Sie hatte gelernt, der Nacht zuzuhören.

Die zweite Prüfung – Die Kammer des Frosts
 
 
Diesmal kam es nicht unerwartet. Am frühen Abend klopfte ein Mönch an Ravielle’s Kammer, einer der stillen Männer in grauer Robe, deren Gesicht sie kaum je richtig gesehen hatte. Er sprach kein Wort, doch sein Blick war Aufforderung genug. Ravielle folgte ihm durch einen langen, kalten Steinflur, der wie vergessen wirkte. Moos hing von den Wänden, Wasser tropfte in Rinnsalen auf den Boden. Je weiter sie gingen, desto schärfer wurde die Luft, bis jeder Atemzug wie kleine Nadeln in ihrer Kehle stach.
 Schließlich öffnete der Mönch eine schwere Tür. Ein Schwall eisiger Luft schlug Ravielle entgegen. Drinnen lag nichts als ein steinerner Raum, karg und leer – die Kammer des Frostes.
 Edzard wartete bereits. Anders als in der Kammer der Nacht stand er hier sichtbar vor ihr, ein schwaches Licht schimmerte hinter ihm. Seine Stimme war klar und fest:
„Die Dunkelheit hast du kennengelernt, Ravielle. Nun wirst du den Frost erfahren. Kälte ist nicht nur ein Feind. Sie kann dich töten – oder dir dienen. Du wirst lernen, sie zu ertragen, dich in ihr zu bewegen, von ihr zu nehmen und über sie zu herrschen.“
 Die ersten Stunden waren unerträglich. Der Frost kroch unter ihre Haut, legte sich wie eisiges Gewicht auf jede Gliedmaße. Ravielle’s Finger waren taub, ihr Atem dampfte in weißen Schwaden. Sie klammerte sich an eine dicke Decke, die Edzard ihr überließ – ohne sie hätte sie das Zittern nicht überstanden.
 Doch er lehrte sie, die Kälte zu zähmen. Er zeigte ihr, wie man mit kleinen, kontrollierten Bewegungen Wärme im Körper hält. Wie man Atemzüge lenkt, um den Schmerz in den Lungen zu mindern. Er brachte ihr bei, Schnee im Mund zergehen zu lassen, anstatt hastig zu schlucken, und ihr Hunger wurde gestillt von hartem Brot, das knirschte wie Eis zwischen den Zähnen.
 Ravielle schwächelte oft. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie kaum Saiten greifen konnte. Doch jedes Mal, wenn sie spielte, wenn die Laute ein paar klare, helle Töne durch den Frost sandte, schien die Kälte zurückzuweichen – nicht zu verschwinden, aber gezähmt, als hätte sie Respekt vor der Musik.
 Die Tage – wie viele es waren, konnte sie nicht zählen – zogen wie ein einziger langer Winter vorbei. Manchmal schlief sie zusammengerollt in ihrer Decke, manchmal rieb sie Hände und Arme wund, um die Wärme nicht zu verlieren. Doch sie gab nicht auf.
 Am Ende, als die Tür sich wieder öffnete, stand Edzard vor ihr und nickte.
„Du hast nicht nur überlebt. Du hast verstanden. Kälte ist nicht das Ende. Sie ist ein Werkzeug. Und du hast begonnen, sie zu führen.“
 Ravielle trat hinaus in den wärmeren Flur, und in ihr brannte ein neues Feuer – nicht geboren aus Sonne oder Herdglut, sondern aus dem Wissen, dass sie selbst die Herrin über den Frost geworden war.
Schattenherz
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Re: Schattenherz

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Tagebuch – Die Kammer der Nacht
 
 
 
„Ich weiß nicht, was geschehen ist. Abends noch schrieb ich Zeilen in mein Buch, dann wachte ich in vollkommener Schwärze auf. Kein Licht, kein Laut. Nur kalter Stein unter meinen Händen – und meine Laute an meiner Seite. Ich bin unverletzt, doch mein Herz rast.
 
Edzards Stimme kam zu mir, wie aus der Leere selbst: ‚Du bist in der Kammer der Nacht. Deine erste Prüfung beginnt. Hier wirst du lernen, dass Dunkelheit und Stille keine Feinde sind. Die Musik wird dir helfen.‘ Dann verstummte er, und nur die Leere blieb.
 
Die erste Zeit war Panik. Ich hörte nur meinen eigenen Herzschlag, der mich fast wahnsinnig machte. Doch als ich die Saiten meiner Laute berührte, geschah etwas. Jeder Ton war wie ein Lichtfunke im Nichts.
 
Ich begann, anderes zu hören: einen Tropfen, der in Abständen fiel; ein kaum wahrnehmbarer Luftzug; ein Summen, das nicht aus mir kam, und doch nur ich zu hören schien. Meine Lieder füllten die Dunkelheit, und die Dunkelheit antwortete, indem sie mich lehrte, zu lauschen.
 
Mit jedem Tag – oder war es eine Stunde? eine Woche? – wurde ich ruhiger. Ich lernte, den Tropfen als Uhr, den Luftzug als Wegweiser, das Summen als Begleiter zu nehmen. Die Stille war nicht leer. Sie war voller Geheimnisse.
 
Am Ende spürte ich Edzards Nähe, ohne dass er sprach. Ich wusste, er war da, wie ein Schatten, der sich nur durch meine eigenen Sinne offenbarte.
 
Als das Licht zurückkehrte, schmerzte es in meinen Augen. Aber in mir war nichts mehr von der Panik übrig. Ich habe gelernt, die Nacht zu hören. Und sie hat mir geantwortet.“
 
 
 
Tagebuch – Die Kammer des Frostes
 
 
 
„Diesmal war es kein Überfall wie in der Nacht. Ein Mönch holte mich am Abend, schweigend, durch lange, feuchte Gänge. Es roch nach altem Stein und Moder, und je weiter wir gingen, desto kälter wurde die Luft. Schließlich öffnete er die Tür – und ich trat in die Kammer des Frostes.
 
Edzard erwartete mich dort. Er sprach davon, dass Kälte kein bloßer Feind sei. ‚Sie kann dich brechen,‘ sagte er, ‚doch auch stärken, wenn du lernst, sie zu führen.‘
 
Die ersten Stunden waren die Hölle. Meine Finger taub, jeder Atemzug wie Eis in der Brust. Ich klammerte mich an die Decke, die er mir ließ, wie an mein Leben selbst. Ohne sie hätte ich versagt.
 
Doch Edzard lehrte mich, den Frost nicht zu fürchten. Ich lernte, meine Bewegungen klein und stetig zu halten, den Atem zu zügeln. Er zeigte mir, Schnee im Mund schmelzen zu lassen, statt gierig zu schlucken, und gab mir hartes Brot, das wie gefroren zwischen den Zähnen knackte.
 
Oft zitterten meine Hände so sehr, dass ich die Laute kaum halten konnte. Doch wenn ich spielte, wenn meine Finger auch nur einen klaren Ton fanden, war es, als ob die Kälte lauschte. Sie wich nicht – aber sie schien zu erkennen, dass ich nicht bereit war, ihr Opfer zu werden.
 
Ich weiß nicht, wie viele Tage vergangen sind. Alles war eine einzige weiße, brennende Stille. Doch ich habe durchgehalten. Ich habe gelernt, die Kälte nicht nur zu ertragen, sondern in mir ein Feuer zu entfachen, das stärker ist als sie.
 
Heute sprach Edzard: ‚Du hast nicht nur überlebt. Du hast verstanden.‘
 
Ich verlasse die Kammer erschöpft, aber lebendig. Der Frost gehört nun zu mir. Und ich weiß: Auch die Kälte kann singen.“
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