Jenseits der Asche – Ankunft im Kloster
Der Morgen, an dem Ravielle Caer Morlen endgültig verließ, war stiller als jeder zuvor. Kein Krähen der Hähne, kein Ruf von Kindern, nur der Wind, der die verkohlten Balken zum Stöhnen brachte. Ihr schwarzer Umhang roch noch nach Rauch, und doch trug sie in ihrem Herzen bereits das Echo eines Liedes, das sie hinaus in die Welt drängte.
Die ersten Tage ihrer Reise waren hart. Sie folgte kleinen, kaum sichtbaren Pfaden durch Wälder, in denen das Rascheln von Rehen ihre einzigen Gefährten waren. Zweimal schlief sie in verlassenen Schäferhütten, einmal unter einer knorrigen Eiche, deren Äste im Mondlicht wie Arme wirkten, die sie beschützen wollten.
In einem Dorf am Rande einer Handelsstraße verdiente sie sich ein Mahl, indem sie die Harfe ihres Bruders spielte und dazu sang – kein Lied von Trauer, sondern ein altes, fröhliches Reiselied, das den Wirtsleuten ein Lächeln entlockte. Ein kleines Mädchen legte ihr heimlich einen Apfel in die Hand, bevor es kichernd davonlief. Solche Augenblicke, so flüchtig sie auch waren, gaben ihr Kraft.
Doch es gab auch Schatten. In einer Nacht wurde sie von räuberischen Gestalten verfolgt. Ihr Bogen bewahrte sie vor Schlimmerem: Ein Pfeil in den Boden vor den Füßen der Männer reichte, um sie fluchend zurückzulassen. Ravielle aber schlief in dieser Nacht nicht, sondern wachte, den Bogen gespannt, bis die Sonne den Morgenhimmel erhellte.
Wochen vergingen. Ihre Stiefel waren längst vom Staub der Straßen gezeichnet, und der Saum ihres weißen Kleides trug die Spuren von Regen und Erde. Schließlich führte sie ihr Weg in ein abgelegenes Tal. Zwischen hohen Zypressen erhob sich dort ein Kloster, alt und halb überwuchert von Efeu, doch mit Türmen, die noch immer stolz in den Himmel ragten. Glocken läuteten in der Ferne, dumpf und ehrwürdig.
Als Ravielle durch das Tor trat, empfing sie nicht etwa ein würdiger Mönch oder eine greise Schwester, sondern ein junger Mann. Er war von schmaler Gestalt, kaum älter als sie, mit Augen, die im wechselnden Licht beinahe silbrig wirkten. Sein Gewand war schlicht, doch an seinem Gürtel hing ein Dolch, der nicht ins Bild eines braven Klosterbruders passen wollte.
„Du siehst müde aus, Reisende,“ sagte er, und seine Stimme war ruhig, beinahe freundlich. „Dies ist ein Ort der Zuflucht. Komm, wir finden dir einen Platz zum Ausruhen.“
Ravielle musterte ihn schweigend. Etwas an ihm war seltsam – zu wachsam für einen Klosterjungen, zu wissend für sein junges Alter. Doch der Klang seiner Worte war wie Wasser auf ausgedörrte Lippen. Sie nickte nur und folgte ihm in die Schatten der steinernen Mauern, während über den Türmen die Sonne langsam unterging.
Tagebuch – „Die Mauern des Klosters“
Nach so vielen Wochen auf staubigen Wegen haben mich die Glocken eines alten Klosters hierher geführt. Zwischen Zypressen und grauen Steinen erhobsich dieser Ort, als hätte er schon immer gewartet.
Der erste, der mich empfing, war kein Greis in brauner Kutte, sondern ein junger Mann: Edzard. Seine Augen sind von einem seltsamen Silber, sein Lächeln ruhig, fast zu ruhig. Er sprach von Zuflucht und Nahrung – und ich habe ihm geglaubt, weil ich wollte, dass es wahr ist.
Diese Woche war die erste, in der ich nicht jeden Bissen zählen musste. Edzard sorgt dafür, dass ich satt werde, und zeigt mir, wie die Brüder in den Gärten arbeiten, wie die Glocken den Tag strukturieren. Abends sitzen wir manchmal am Feuer, und er erzählt von alten Schriften und der Geschichte des Klosters. Er spricht offen, beinahe zu offen, als gäbe es in seinem Leben keine Schatten.
Und doch… etwas stimmt nicht. Viele Türen bleiben mir verschlossen, nicht durch Riegel, sondern durch Ausflüchte. ‚Später,‘ sagt er dann, ‚es gibt Zeit.‘ Manche Flure scheinen ins Leere zu führen, und doch liegt dort eine Kühle, als ob Schritte diese Steine noch immer kennen.
Ich ruhe, esse, höre zu, und meine Kraft kehrt zurück. Aber in den stillen Stunden frage ich mich, was hinter den Mauern wirklich verborgen liegt. Edzard sieht mich an, als wüsste er, dass ich frage – und er lächelt, als sei dies Teil der Antwort.
Tagebuch – „Das Versprechen Edzards“
Heute war ein langer Tag. Ich habe den Brüdern geholfen, Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen, Kräuter im Garten zu ernten und später in der Schreibstube Tinte zu mahlen. Es tat gut, beschäftigt zu sein – die Arbeit hier ist still, fast heilend, und doch fühle ich mich immer wie eine Fremde in diesen Mauern.
Am Abend saßen Edzard und ich wieder am Feuer. Er wirkte gelöster als sonst, beinahe erwartungsvoll. ‚Morgen,‘ sagte er, ‚möchte ich dir etwas zeigen. Etwas, das nur wenige zu sehen bekommen.‘ Seine Worte waren leise, aber fest, und sein Blick war voller Glanz, als ob er mir ein verborgenes Geheimnis anvertrauen wollte. Ich wollte fragen, was er meint, doch er schüttelte nur den Kopf und lächelte.
Jetzt sitze ich in meiner Kammer und schreibe dies bei Kerzenlicht. Mein Körper ist müde, aber mein Geist unruhig. Was will er mir zeigen? Etwas im Klang seiner Stimme ließ es wichtig erscheinen, vielleicht sogar gefährlich. Morgen wird es sich enthüll—