Müde stieg die Rothaarige die Holzstufen hinauf. Leise knarrten sie unter ihren Sohlen und aus reiner Gewohnheit hielt sie inne, um zu lauschen. Doch es blieb still in der Holzhütte, welche am Rande des Trolleichenwalds in Nordhain stand. Sie war allein. Wann war sie das zuletzt? Das war schon ewig her.
Die Kinder waren noch mit Pan irgendwo im Wald unterwegs und suchten nach Abenteuern. Vielleicht waren sie auch bei den Hochelfen – wer wusste schon was den dreien einfiel. Mirja war das ganz recht. So konnte sie sich um das Haus kümmern… welches wirklich in einem furchtbaren Zustand war.
Über ein Jahr war es nun her, seit sie zu ihren Eltern aufgebrochen waren. Nachdem ihre Mutter im Winter vor zwei Jahren schwer krank war, wurde sie nie wieder richtig gesund und Mirjas Vater hatte ebenfalls abgebaut. Im letzten Frühling waren sie schließlich beide verstorben. Noch immer bereitete es Mirja einen tiefen Stich ins Herz, doch sie war auch froh, dass sie bei ihnen sein konnte, als sie gingen und wünschte sich, dass ihr und Pan ein ähnliches Ende vergönnt war. Nun ja, vielleicht nicht friedlich in einem Bett, viel eher inmitten einer Schlacht… aber… gemeinsam.
Mirja lächelte wehmütig, als sie einmal mehr an ihre Eltern und das kleine Jägerdorf zurückdachte. Sie waren nach dem Tod ihrer Eltern nicht lange dortgeblieben. Mirja konnte die kleine Hütte und die Erinnerungen darin nicht ertragen, also hatten sie die Hütte einem jungen Paar aus dem Dorf überlassen und waren weitergezogen. Sie schlossen sich einer Truppe aus Spielleuten und Vagabunden an, die friedlich durch die Lande zogen und sich über den Schutz zweier Krieger und das Lachen der Kinder freuten.
Und Mirja liebte es… Oh was waren die letzten Monate doch herrlich… Es gab keine Verpflichtungen, die ihre Schultern niederdrückten. Keiner erwartete von ihr die korrekte Etikette, keiner erwartete Befehle oder folgenträchtige Entscheidungen… Nein… es ging lediglich darum in den Tag hinein zu leben, das Leben zu genießen und Freude zu verbreiten. Und wenn man irgendwo nicht willkommen war, zog man einfach weiter. Schon bald kam es ihr vor, als wäre das Leben als Unteroffizierin der Stadtwache Silberburgs und ehemalige Großmeisterin Der königlichen Ritterschaft ein völlig anderes gewesen. Nicht ihr Leben gewesen.
Tatsächlich kehrten Pan und Mirja mit den Kindern nur deswegen nach Nordhain zurück, weil doch eine gewisse Sehnsucht beide packte. Hier lebten ihre Freunde und der Rest ihrer Familie. Golga, Aru und die anderen. Armon, Thamion, Fenria und Robin. Ja, ein bisschen vermisste Mirja sogar Alirion, seines Zeichens König von Silberburg und den rauen Drill ihrer Stadtwache.
Es war daher ein Schock festzustellen, dass von all diesen niemand mehr hier zu sein schien. Es war, als wären die Dörfer und Städte in einen Schlaf gesunken. Die Bewohner gingen ihrem Alltagstrott nach. Nicht mehr und nicht weniger. Von irgendwelchen Katastrophen hat man schon lang nicht mehr gehört. Die Schwarzelfen, die Winterberg besetzt hatten? Weiß der Henker was aus denen geworden war. Von den Schwingen der Verdammnis und den Dienern Asmodans hatte man auch länger nichts gehört. Vom Magierbund ganz zu schweigen. Es wirkte fast, als würde das Land sich… langweilen.
Verrückt… denn nun, wo sie wieder im Land war, erinnerte sie sich wieder lebhaft an all die Konflikte… die Stunden, die sie im Ratssaal der Elfen verbracht hatte. Die diplomatischen Gespräche, die sie gemeinsam mit Thamion mit den Hochelfen und Amazonen geführt hatte… die Tränen, die flossen, als ihr Blutsbruder verschwand und Robin sich von ihr abnabelte. Ach Robin… wo steckte das Mädchen wohl?
In ihrem Schlafzimmer setzte Mirja sich vor ihre Frisiertruhe und musterte ein wenig überrascht ihr Spiegelbild. Seit Monaten war das einzige Bild, was sie von sich selbst gesehen hatte, jenes verzerrte auf einem Wasserspiegel. Bei den Spielleuten war es egal wie man aussah. Und wenn die Schminke verschmiert und die Haare zerzaust waren, war die Nacht umso besser.
Jetzt jedoch sah Mirja das gesamte Ausmaß. „Jävla…“, murmelte sie leise und beugte sich weiter vor, bis ihre sommersprossige Nasenspitze das Spiegelglas fast berührte und ihr Atem die Fläche beschlagen ließ. Sie kniff die Augen zusammen, kräuselte die Nase und runzelte die Stirn und begutachtete kritisch wie ihre Haut falten schlug. Ihre Haut war mittlerweile dunkler – noch immer für eine Rothaarige typisch hell – doch man sah ihr die Wochen unter freiem Himmel an. Und diese Falten… Himmel… Sie streckte sich selbst die Zunge raus und grinste anschließend, was die tiefen gekünstelten Furchten auf ihrer Stirn wieder glätteten und sympathische kleine Lachfältchen um ihre Augen hervorbrachten. Ja, die gefielen ihr schon besser!
Und waren das wirklich graue Haare? Mirja zog sich eine ihrer roten dicken Locken dicht vor die Augen. Schielend beäugte sie die Strähne und seufzte gespielt wehleidig.
„Du wirst alt, Vildaban.“, grinste sie sich schließlich selbst im Spiegel an.
Jede andere Frau wäre wohl in Tränen ausgebrochen und wer weiß, noch vor einigen Jahren wäre es Mirja vielleicht ähnlich ergangen. Bevor die Kinder auf der Welt waren und zu einer Zeit, als ihre Welt aus dem harten Marsch von Soldatenstiefeln, Befehlen, Berichten und politischen Ränken bestand. Damals, als sie das Gefühl hatte, die Last und Zukunft Silberburgs auf ihren Schultern zu tragen. Heute? Heute war ihre einzige Verantwortung ihrer Familie geschuldet. Zumindest bis jetzt… Denn noch immer war sie zumindest dem Rang nach Unteroffizierin und ein Mitglied der Ritterschaft. Der Gedanke allein ließ sie die Nase kräuseln und ihr Magen zog sich zusammen, wenn sie einen Blick auf ihre Uniform warf.
Sie seufze leise. Darum würde sie sich auch bald kümmern und mit Pan darüber sprechen müssen. Jetzt aber wollte sie ihren Abenteurern ein Abendessen machen und weiter gegen den Staub ankämpfen, welcher sich im Haus angesammelt hatte.
Und morgen war der Garten dran… das Unkraut hatte die Zeit dreist genutzt und sich bis in den letzten Winkel ausgebreitet…