Das Treffen mit Evalynn war nun einige Tage her. Die junge Frau hatte nicht nur mit ihrem Wissen, sondern auch mit ihrer Bescheidenheit und ihrem unerschütterlichen Eifer, die Wahrheit zu suchen, beeindruckt. Nighean war sich sicher, dass Evalynn bereit war, den nächsten Schritt zu gehen, den Weg der Dienerschaft, der Hingabe und des Lernens.
Mit diesen Gedanken vollendete Nighean das Schreiben und las es noch einmal leise vor sich hin:
An Evalynn Steingreif,
Barchmon Suchende,
Euer Wissen und Eure Hingabe haben mich tief beeindruckt. Ihr habt gezeigt, dass Ihr würdig seid, einen weiteren Schritt auf dem Weg der Erkenntnis zu gehen. Aus diesem Grunde lade ich Euch ein, Euch mir erneut anzuschließen.
Lasst uns am elften Tage dieses Mondlaufs bei der achten Abendstunde im inneren Tempelkreis von Surom zusammentreffen, um die Einzelheiten zu besprechen. Dort werdet Ihr mehr über den großen Weg erfahren, der Euch erwartet.
Bereitet Euch darauf vor, am zwölften Tage des Mondlaufs der Dienerschaft gegenüberzutreten. Dies wird Euer erster Schritt in eine größere Gemeinschaft sein, in der Ihr nicht nur Wissen, sondern auch Bestimmung finden werdet.
Ser B´scheino.
In Hochachtung, Treue und Unterwerfung dem EINEN,
Nighean, Maga des Nordwinds, Chronistin und Dienerin des Namenlosen.
Zufrieden legte sie das Schreiben zur Seite und griff zur kleinen Glocke auf ihrem Tisch. Das leise Läuten hallte kaum merklich im Raum wider, doch es dauerte nicht lange, bis sich die schwere Holztür nahezu lautlos öffnete.
Ein alter Mann trat ein. Sein kahlgeschorener Kopf war bedeckt mit filigranen, dunklen Runen, die sich bis über seinen Hals und seine Hände zogen. Trotz seines hohen Alters bewegte er sich mit einer Würde, die nichts von seiner Vergangenheit als Diener des EINEN verriet.
„Alfonso,“ sagte Nighean und erhob sich, um ihm mit einer leichten Verneigung Respekt zu zollen.
Der Mönch erwiderte ihren Gruß stumm. Seit er sich in einem Akt der Selbstaufopferung die Zunge genommen hatte, sprach er nicht mehr. Doch die Augen, die tief in ihrem Runennetz lagen, waren lebendig und voller Ausdruck.
Nighean reichte ihm das Pergament. „Dies ist für Evalynn Steingreif. Sie ist eine Suchende, Alfonso. Bringe ihr dies, und achte darauf, dass sie es persönlich erhält.“
Alfonso nickte langsam, nahm das Schreiben entgegen und hielt es in seinen von Runen bedeckten Händen, als wäre es ein heiliger Gegenstand. Bevor er ging, richtete er seinen Blick auf Nighean, und für einen Augenblick schien es, als läge unausgesprochene Zustimmung in seinen Augen, eine stille Bestätigung, dass er ihre Wahl verstand und unterstützte.
Während Alfonso zur Tür schritt, hob Nighean unwillkürlich ihre Hand und fuhr mit den Fingerspitzen sanft über die unteren Augenlider, wo die Runen des Belial einst von Alfonso selbst in ihre Haut tätowiert worden waren. Die Berührung erinnerte sie an die Hingabe und das Opfer, das sie gemeinsam mit dem Mönch vollbracht hatte.
Alfonso verschwand lautlos, und Nighean blieb noch einen Moment stehen, bevor sie sich zurück an ihren Tisch setzte. Sie war sich sicher, dass Evalynn das Schreiben bald erhalten würde und dass der nächste Schritt auf ihrem Weg beginnen konnte.