Auch wenn bereits das liebliche Lied der Amseln von den Baumspitzen durch die Sala der Waldelfen drang, war es noch dunkel draußen, als Serafein am Tisch im Gemeinschaftshaus saß und über düsteren Gedanken brütete. Vor ihm lag bereits seit Stunden eine Abschrift des Schreibens von Thalandir, das ihm Thala'faer am Abend zuvor überreicht hatte. Die Nachruhe, zu der er sich irgendwann zurückgezogen hatte, wollte ihn jedoch nicht finden, ließ ihn sich unruhig wenden und drehen, bis er schließlich aufgegeben hatte. Seitdem saß er hier und machte sich Gedanken darüber, wie es nun vorzugehen galt. Die Gespräche in den letzten Tagen und Stunden waren zahlreich gewesen, und das Gefühl von Dringlichkeit machte sich in Serafein breit, bis er es nicht mehr ertragen konnte.
Die Zeit des Redens war vorbei, beschloss er. Nun galt es, Fakten zu schaffen.
Und so holte er die Schatulle mit seinem Schreibwerkzeug und begann, Schreiben um Schreiben aufzusetzen. Er begann mit dem einfachsten, formlosesten, das er auf dem Tisch der Sala für die anderen Waldelfen liegen ließ:
Gwethil nîn,
gwedyr nîn,
die Zeiten sind düster und die Not ist groß in diesen Tagen, und genauso wie ihr sehne auch ich mich mit meinem ganzen Herzen nach Ruhe und der Geborgenheit der Sala,
damit wir die Wunden, die der Verlust von Gwaindamir uns geschlagen hat, endlich in Frieden heilen können. Das ist uns jedoch nicht vergönnt. Edain trachten nunmehr nicht nur unserem
Bruder Wald nach dem Leben, sondern auch nach dem unseren. Ich bin zutiefst besorgt und ich fühle, wie die Notwendigkeit nach Taten uns unwillkürlich einholt.
Doch weil wir so sehr mit dem Aufbau unserer Sala beschäftigt waren, dass wir bisher weder Rat noch Lamath unter uns bestimmen konnten, ist es an jedem einzelnen von uns,
seinen Teil dazu beizutragen, die Sala, den Eryn und unsere aufknospende Gemeinschaft zu behüten und zu schützen.
So will ich das meine tun, um dem Schwur, den ich einst im Kreise der Wahrheit Gwainamdirs geleistet habe, die Gemeinschaft der Lindhel mit meinem Leib und meinem Leben
zu behüten, gerecht zu werden. Ich werde Schreiben verfassen an jene wenigen Freunde, die mir noch geblieben sind und jene, die ich das Privileg hatte, in den letzten Wochen zu machen.
Vielleicht, und das ist der Hoffnungsschimmer in diesen dunklen Zeiten, kommen neue hinzu. Ich wünsche es mir und uns.
'Man erntet, was man säht', sagen die Edain - und auch wenn dem jungen Volk nicht unbedingt die allergrößten Einsichten nachgesagt werden können, weiß jeder Lindhel um die
Wahrheit und Weisheit dieser Worte. Das gilt für den Adan Golga, der uns nun offen eine Drohung ausgesprochen hat, als auch für die Rotkappen, die anderenorts beobachtet
wurden, weite Flächen des Eryn zu roden, hinterhältig und feige in den frühesten Stunden des Tages, während noch alles friedlich ist und schläft,
und sich hinter den Palisaden Nebelhafens verschanzen.
Doch das gilt gleichermaßen auch für uns, und es ist an der Zeit, dass wir die Früchte der Freundschaft ernten, deren Samen wir über Monate, Jahre und Jahrzehnte hinweg
ausgebracht haben. Ich ersuche jeden einzelnen von euch, hinaus zu gehen und jene zu finden, die euch und uns in Wohlwollen verbunden sind und ihnen unsere Not zu klagen.
Knüpft alle eure Bande fester und lasst sie von unserer Not wissen.
Und so will ich den Anfang machen und auch versuchen, unsere Hand in Freundschaft nach den Edhil auszustrecken. Auch wenn wir uns mit unseren Vettern in Vielem uneins
sein mögen, so können wir es uns in diesen Tagen nicht leisten, alleine zu stehen. Jeden möglichen Schaden, der daraus vielleicht entstehen mag, nehme ich in eigene Verantwortung -
kein Leid, das mir vielleicht als Konsequenz daraus erwachsen mag, kann schlimmer sein als jenes, das es abzuwenden gilt.
Bleibt achtsam. Schützt euer Leben.
Euer Bruder und Diener,
der eure in Herz, Verstand und Seele,
Serafein
An diesem Morgen folgten dann noch andere Schreiben, die allesamt im Morgengrauen von einer weißgefiederten Eule lautlos in die Ferne getragen wurden.
Das erste erging an
Kratt von den Zwergen, und es lautete:
Meister des Berges,
Freund Naugrimm,
die Not ist groß in diesen Tagen unter den Elfen, denn der Raubbau an den Wäldern nimmt überhand und unsere Bemühungen, die Erin
zu schützen hat Zorn und Hass geschürt, der sich nun in all seiner Hässlichkeit über unser Volk ergießt.
An einem unser Zusammentreffen, die mein Herz stets mit Freude und Zuversicht erfüllten, sprachst du von dem Band der gegenseitigen Unterstützung, das unsere
Völker verbindet und das in deinen Augen nach wie vor Gültigkeit hat. Im Geiste dieses Bandes mag ich dir und den deinen vom Menschen Golga und anderen
berichten, die die Wälder roden und nun gar uns Elfen bedrohen und uns nach dem Leben trachten. Die Gefahr ist groß.
So bitte ich um ein Treffen mit dir an unserem üblichen Ort unserer zufälligen Begegnungen. Ich werde Ausschau halten.
Das Licht der Sterne und der Segen des Berges mit dir,
Serafein Vinyamar
Es folgte ein sehr ähnliches Schreiben an die Hünin
Rhandra vom Nordvolk:
Mae govannen Rhandra,
ich hoffe, dein Stammesgefährte hat dir die Grüße, die ich dir bei einer zufälligen Begegnung in den Katakomben des Friedhofs bestellen ließ,
überbracht - und dass ihr auf der Suche nach einer Heimat für dich und die deinen erfolgreich gewesen seid.
'Wenn ihr Hilfe braucht, sagt Bescheid', hast du uns bei unserer Begegnung vor Nebelhafen wissen lassen. 'Randra ist immer für kleine Freunde da'. Diese Worte
ringen mir in diesen Tagen mit bedauerlicher Schwere in den Ohren, denn die Not ist groß und es gibt Mächte, die den Elfen dieser Tage
nach dem Leben trachten. Ausgerechnet aus den Reihen der Menschen.
Ich ersuche dich daher um ein Treffen, um dir die Geschehnisse zu unterbreiten. Der Wald, unser aller Lebensraum, steht auf dem Spiel. Lass uns
Gemeinsamkeiten finden und darüber sprechen, wie wir einander unterstützen können.
In Freundschaft,
Serafein Vinyamar
Und so ging es den ganzen Morgen weiter, Brief um Brief wurde verfasst, Schriftrolle und Schriftrolle trug seine treue Eule Fein'gwess in die Ferne, um jene anzurufen, die ihm und den Lindhel wolhgesonnen waren.
Golga mochte vielleicht mächtig sein, ja - es galt herauszufinden,
wie viel Wiederstand er
tatsächlich zu überwinden in der Lage war. Wenn die Elfen ihn allein nicht schreckten... nun, dann musste er wohl größer denken.
Zuletzt verfasste Serafein wohl die bedeutendsten und delikatesten Briefe - und zwar jene an die Tarcils der Elfen,
Amathlan, Munar und
Liltha. Alle drei laßen sich ähnlich:
Mae govannen Tarcil en Edhil,
mit großem Bedauern und noch größerer Unruhe erreichte uns das Schreiben Thalandirs und die Kunde über die Drohungen Golgas gegen euch
wie auch gegen uns. Es klingt, als wäre sogar ein Krieg nicht mehr auszuschließen.
Auch wenn es euch befremdlich wirken mag, dass ausgerechnet ein Dûredhel diese Zeile schreiben mag, so verbirgt sich mehr unter meiner schwarzen Haut, als es
vielleicht den Anschein haben mag. Ich versichere Euch: Unter dieser vielleicht irreführenden Hülle schlägt das Herz eines Lindhel.
Und als solcher wende ich mich an euch im Geiste der Verwandtschaft und Verbundenheit, um in Zeiten dieser Not zueinander zu finden.
Auch wenn ich keinen Titel mehr halten mag, der in diesen Tagen noch außerordentliche Bedeutung hätte, so stehe ich doch, wie jeder andere Lindhel auch,
im Dienste der Gemeinschaft. Als solcher möchte ich mich mit Euch besprechen und beraten.
Bitte lasst mich wissen, ob ihr Willens seid, über die Farbe meiner Haut hinwegzusehen und mich als Lindhel bei euch zu empfangen. Vielleicht wäre es von Vorteil,
den Caledhel Ba'thal aus diesen Treffen herauszuhalten. Er scheint mir nicht sonderlich zugetan, und sein Beisein wenig förderlich für ein gegenseitiges Verständnis.
In Verbundenheit,
Träger des Funkens Raniuals, Caledhel und Erzdruide der Altehrwürdigen
Lamath en-noss Vinyamar
Beron e-govannas Gwainamdir
Ithilrana en-Avalon
Ion en-Eryn
Wie immer fühlte sich Serafein auf gewisse Weise schmutzig und dreckig, wenn er mit Titeln um sich warf - doch wusste er auch um deren Bedeutung und diplomatischer Tragweite. Es war Zeit, hatte er beschlossen, sein gesamtes, vielleicht nicht ganz unerhebliches Gewicht in den Ring zu werfen. Das Leben seiner gwedyr und gwethil stand auf dem Spiel und die Zeit, auf seine persönlichen Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen, war vorüber.
Draußen war es hell geworden. Die Amseln waren verstummt und dem feinen 'Zilpzalp' des Weidenlaubsängers gewichen.
Ein weiteres Treffen, so entschied er, würde er ohne jeglichen Schriftverkehr herbeiführen. Vielleicht, so ahnte er, war es gar das wichtigste von ihnen allen.
Eine Abschrift jedes dieser Schreiben ließ er unter seinem Zettel für die anderen Waldelfen liegen, sodass sie nachlesen konnten und sich seiner Korrespondenz gewahr waren.