Einem unruhig funkelndem Lichterspiel gleich, zogen die Sterne wie eine Decke über den nächtlichen Himmel und boten Beobachtern eine atemberaubende Sicht. Die Nacht war so klar, dass die Ansammlung der unzähligen Himmelskörper in Form eines breiten, sichtbaren Streifens zu erkennen war. In Nächten wie diesen hätte Livius sich die Zeit genommen, die Sterne zu beobachten und zu studieren, bestenfalls gemeinsam mit Shira’niry.
Stattdessen lag er jedoch zu einem Fellknäuel eingerollt unmittelbar am Fusse der riesigen Blütenknospe und wachte schlummernd über die Umgebung. Die Ohren zuckten regelmässig ob der Geräusche der nachtaktiven Lebewesen des Feenwaldes und hier und da schlugen die Augenlider hinauf, um das gülden leuchtende Bernstein des Wolfes preiszugeben, das aufmerksam die nähere Umgebung sondierte - wachend, wie ein Drache es mit seinem Hort tun würde.
Die vergangenen Abende waren ereignisvoller, als ihm lieb war und zeigten einmal mehr auf, warum der miesepetrige Drachemagier Überraschungen nicht ausstehen konnte. Dabei erhoffte er sich noch ruhigere Zeiten, nachdem Akelei durch die Mithilfe der Forschergruppe von ihren Ketten befreit wurde. Doch dass ihm dieser Wunsch nicht gewährt werden würde, vermutete er bereits, als Shira’niryn den Samen von Hornblume überreicht bekam. Es würde ihren innigsten Wunsch erfüllen, so versprach der Götterdrache. In Anbetracht dessen, dass Livius diesen kannte und bestens um die Natur der Kristalldrachin bescheid wusste, konnte er nur erahnen, dass das, was kommen mag,einen grossen Einschnitt darstellen würde.
So kam es selbstverständlich.
Vor einigen Tagesläufen brach Shira’niryn in den Feenwald auf. Ihr Entscheid rief bei ihm bereits ein Gefühl des Unwohlseins aus, welches sie mit ihrer optimistischen Ader und der Überzeugung, es würde alles gut werden, nur bedingt abflachen liess. Die Tatsache, dass Akelei nicht preisgeben wollte, was sie erwarten würde, verärgerte ihn zutiefst. Daran ändern konnte er allerdings nichts, daher blieb ihm nur übrig, ihr Handeln zu akzeptieren.
Zu dem Zeitpunkt sass er in ihren gemeinsamen Haus in Calad’lorn und lenkte seine Konzentration auf die seelische Bindung zu Shira, mithilfe derer er lokalisierte, wo sie sich befand. Doch plötzlich und ohne Vorwarnung schwächte diese ab und übrig blieb eine Leere, die sonst von den von ihr übermittelten Gefühlen und Eindrücken gefüllt wurde. Ohne zu zögern liess er von seiner Arbeit ab und bündelte die arkanen Energien der Umgebung um seine Finger, um durch den Zugang zur Astralebene eine Abkürzung zum Feenwald zu nehmen. Shira hätte ihm für diese kurze Strecke den Vorwurf gemacht, dass er seine geschenkte Gabe missbrauchte und er hätte es womöglich mit einem Widerspruch von sich abgewiesen. Doch diesmal kam nichts. Keine Reaktion, kein Vorwurf, nichts.
Es dauerte eine Weile, bis er die Lichtung mit dem mächtigen Yew-Baum erreichte, der sich einem König gleich über alle Baumkronen hinweg in die Höhe reckte. Auf den ersten Blick schien alles, wie beim letzten Besuch - unberührt, natürlich. Doch dann, als er die Stelle ausmachte, an der er die Verbindung zu Shira zuletzt wahrnahm, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Inmitten des Steinkreises befand sich eine riesige Blütenknospe, die zuvor noch nicht da gewesen war. Zunächst leugnete er seine Vermutungen, versuchte sich eine andere Erklärung für die Blüte aus den Fingern zu saugen. Doch je länger er sich in der Nähe aufhielt, desto mehr bröckelte die Fassade und die Erkenntnis, dass Shira’niryn sich darin befinden musste, wurde widerwillig angenommen.
Langsam, aber stetig begann in seinem Inneren ein Samen der Wut aufzukeimen. Ärger darüber, dass sie seinen Bedenken keine Beachtung schenkte und stattdessen abwimmelte. Ärger, dass er nun ohne Anweisungen oder Hinweise vor einem unbekannten Problem stand. Die Ungewissheit, was bevorstünde und ob Shira’niryn überhaupt zurückkehren würde. Bedenken und Sorgen brachen wie stürmische Wellen über seinen Geist, benebelten die Sinne und verschwemmten damit die Barriere zwischen seinem Bewusstsein und der Beherrschung des Wolfes. Um ein Haar hätte er dieser Wut nachgegeben, zugelassen, dass sie sich in Form einer Wandlung an die Oberfläche bahnte - doch obsiege zuletzt die Vernunft. Unterdrückt wurde der Ärger und hinter schweren, mentalen Ketten versiegelt. Bereit, diese in einem entscheidenden Moment wieder zu entfesseln. Doch fürs Erste brauchte er Hilfe.
Stunden um Stunden wurden damit verbracht, Briefe für die Befreier Hornblumes zu verfassen und sie über die Entwicklung aufzuklären. Zweifel kamen auf, ob es die richtige Entscheidung wäre. Immerhin konnte die Anzahl an Personen, denen er vollstes Vertrauen schenkte, an einer Hand abgezählt werden. Zu gross war die Gefahr, dass es gebrochen werden würde. Immerhin würde er seinem eigenen Ich, stünde dieses vor ihm, nicht über den Weg trauen - geschweige denn anderen.
Am Ende des Tages fand er sich trotz allem in Nebelhafen wieder, nachdem er in Loriendor und Calad’lorn keinen Erfolg hatte, um Elira und ihre Freunde aufzusuchen. Sie hatten mit der infizierten Lin wahrlich genug zu tun, doch suchte er sie in der Überzeugung auf, dass sie alles in ihrer Macht stehende tun würden, um zu unterstützen. Etwas, das sich nach einem kurzen Austausch bereits bestätigte, als Elira ihre Hilfe versicherte.
Sonnenaufgang, Sonnenuntergang - Mondaufgang, Monduntergang. Ein kontinuierliches, abwechselndes Schauspiel zweier celestischer Riesen, die um die Herrschaft des Firmaments kämpften. Zwei Dinge, zu denen er eine Verbindung aufwies. Durch verschiedene Schicksalsschläge und seiner Ansicht über das astrale Geflecht waren sie ihm schon länger ein Weggefährte und auch in diesen Tagen begleiteten sie den Drachenmagier und wurden Zeuge davon, wie der zuvor noch von Gras überwucherte Boden am Fusse der Blütenknospe mit jeder Stunde unter dem Gewicht der Wolfsform litt. Ein stummer Zeichen dafür, dass er nicht von ihrer Seite wich.
Die fehlende Bindung zu seiner Erdungsquelle, die Shira’niryn als seine Gefährtin für ihn darstellte, liess den sonst nach Aussen hin eher gefühlskargen Magier nicht unberührt und blieb auch von seinem Umkreis nicht unbemerkt. Dieser Tage war er noch gereizter, als er es ohnehin schon immer war - übrigens der Grund für den Beinamen ‘Grummeling’, den Shira ihm gab, eine Mischung aus Schmetterling und Grummeln. Die Ernährung schien ebenfalls darunter zu leiden, fehlte es immerhin an Appetit.
Elira bemühte sich nicht nur um die Pflege der Pflanze, während andere sich um den Schutz kümmerten, sondern sie war es auch, die sich nach Livius Befinden erkundigte. Eine liebgemeinte Geste, die allerdings den Ärger in seinem Inneren schürte, ohne dass dieser nach ihr gerichtet war. Vielmehr eine Abwehrhaltung, die er aufgrund von Ereignissen in der fernen Vergangenheit annahm und durch die dadurch entstandene Abkapselung dazu führte, dass der Drachenmagier kaum jemanden an sich heranliess. Und doch nahm er das Angebot zu einem gemeinsamen Essen im Beisammensein ihrer Freunde an. Nicht, weil er Bedarf darin sah, sich mit anderen zu treffen, sich abzulenken oder Beziehungen zu pflegen. Nein, aus einem Grund, der für Aussenstehende womöglich nicht direkt ersichtlich war: Eine Geste der Dankbarkeit und Wertschätzung für die Unterstützung, die sie ihm zukommen liessen.
Vielleicht aber, auch wenn er es sich selbst niemals eingestehen würde, brauchte der Grummeling gerade etwas Gesellschaft als Ablenkung.