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Die eisige Stille des Nordens

Verfasst: 03 Nov 2025, 10:54
von Erzähler
 Die Luft im Norden war nicht bloß kalt – sie war ein beißender, stählerner Griff, der jeden Atemzug auf der Zunge gefrieren ließ. Die Nebelschwaden waberten nicht einfach nur, sondern krochen als schwere, bleierne Schleier über die eiskalte, erstarrte Landschaft, die selbst unter dem Gewicht des Himmels zu ächzen schien. Es war eine Stille, die so dicht und unnatürlich war, dass sie in den Ohren schmerzte, eine Stille, die tief und unheilvoll trog. Selbst die sonst widerstandsfähigen Tiere des Nordens verhielten sich auffällig geduckt und scheu, verbargen sich tiefer in ihren Bauen und brachen ihre gewohnten Pfade ab.​

Dort, wo vor Kurzem Grimlas Spross – eine Kreatur von mythischer Reinheit – ihr Leben aushauchte, waren die Spuren des Frevels noch immer grausam deutlich sichtbar. Der Schnee, der sonst so blendend, makellos weiß die Ebene bedeckte, war nicht nur benetzt, sondern durchtränkt und tiefrot getränkt vom dunklen, geronnenen Blut der heiligen Kreatur. Es war ein blutiges Mahnmal mitten in der Unschuld der Natur.

​Diejenigen, die empfänglich für die tiefen Herzschläge der Natur und ihre uralten Kräfte waren, spürten es nicht nur als Ahnung, sondern als einen nagenden, zerreißenden Schmerz in der Seele, sobald ihre Füße den Boden des Nordens berührten. Doch die Störung reichte weiter: Auf der gesamten Insel und selbst an ihren entferntesten Küsten war das Beben zu spüren. Die Natur war nicht nur im Aufruhr – sie war aus den Fugen geraten, ihr Gleichgewicht  gestört.​

Sollte ein Naturmagier an dieser frevelhaften, abscheulichen Tat beteiligt gewesen sein, so würde er die Konsequenz besonders deutlich spüren: Seine tiefe, vitale Verbindung zu den Naturgeistern und zur Natur selbst war brüchig, fast durchtrennt. Fortan würde es ihm immense Anstrengung und quälende Mühe kosten, auch nur den leisesten Kontakt wiederherzustellen.​

Und während die eisige Stille herrschte, mochten gelegentliche Besucher des Nordens eine flüchtige, kaum merkliche Bewegung im Schnee wahrnehmen, die gegen jede Logik verstieß. Kein lebendes, irdisches Wesen schien diese ausgelöst zu haben. Es war lediglich der ätherische, schimmernde Umriss einer geisterhaften Hirschkuh, die als leuchtendes Trugbild still und unhörbar über die blutbefleckte Ebene zu wandeln schien, eine schattenhafte Wächterin des verlorenen Gleichgewichts….   

Re: Die eisige Stille des Nordens

Verfasst: 03 Nov 2025, 13:14
von Shira'niryn
Nach und nach tauchten die Wälder sich von einem satten Grün in einen herbstlichen roten bis goldenen Ton, als würde den ganzen Tag über eine satte Abendsonne die Wipfel streichen und die Blütenschwinge fühlte den nahenden winterlichen Schlaf, der auch in ihr den Wunsch weckte, sich ein Nest zu suchen, wo sie sich den Winter über einrollen konnte... nachdem sie ausreichend gegessen hatte. Dieser Hunger!
Mit einem kleinen, unzufriedenen Murren hockte sie auf einem tiefer hängenden Ast eines kräftigen Walnussbaumes, während sie einen Hasen beobachtete, der flink durch das Unterholz huschte. Ein Zucken in ihrem Inneren, ein unterdrückter Jagdinstinkt und ein abwägen, ob diese Jagd eine gute war, bis sie etwas aus den Gedanken riss.

Verlust.

Das nächste Zittern, welches durch den perlmuttgeschuppten Leib der Blütenschwinge ging, war nicht geboren aus einem unterdrückten Instinkt, sondern vielmehr aus einer unguten Ahnung, die sich an die Oberfläche kämpfte. Sie war eins mit dem Faer, eins mit der urtümlichen Kraft, die alles Leben verband und sie spürte diesen... Missklang. Ein Missklang in einem alten, sonst so reinen und harmonischen Lied. Ein Klang, getragen von Schmerzen, tief unter der Haut dieses Kontinents.

»Etwas ist passiert.«

Die Nachricht, die sie dem grummeligen Drachenmagier übermittelte, war knapp und doch geprägt von einer gewissen Sorge, die sich aus ihrem Inneren an die Oberfläche kroch. Hastig drückte sie sich vom dicken Walnussast ab, um in möglichst kurzer Zeit den gesamten Feenwald einmal abgesucht zu haben. Vergessen war der Hunger und der Jagdtrieb, vertrieben von der keimenden Sorge, dem losen Faden, der sich im Nichts verlor, als wäre etwas abgeschnitten worden. Sie fand nichts. Zum Glück, aber sie hatte es fast schon vermutet, denn der Schmerz kam aus einer anderen Richtung... und doch musste sie sichergehen. Sichergehen, dass nicht wieder der Feenwald, IHR Wald das Zentrum einer Katastrophe war.

Norden.

Sie musste nachsehen, was dort geschehen war und doch hatte sie vorher noch etwas anderes zu tun. Mit kleinen spitzen Zähnchen hatte sie das lose Stückchen Stoff von einem wachhabenden Elfen abgeschnorrt und dann ging das Geflatter so richtig los. Sie huschte zwischen dem Turm der Gemeinschaft im Dschungel, Caladlorn und der Druidenmühle in Solgard hin und her, bis der Stofffetzen in ihrem Maul immer praller wurde, gefüllt mit allerlei Kleinigkeiten, so viele, dass sie ihn zwischendrin abladen musste. Zu viel gab es in diesem Moment sicherlich nicht!

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Nach einer kleinen Ewigkeit erreichte die Blütenschwinge schließlich den Ort ihrer Wiedergeburt, die Feenwiese im Zentrum des Feenwaldes, wo sie, wie so oft, kleine Gaben in der Mitte des Steinkreises hinterließ. Auch wenn sie dieses Mal reichhaltiger ausfielen. Weizen, Heu, Beeren, Äpfel, Sonnenblumenkerne, Hasel- und Walnüsse, sowie kleine Samen, die mit scharfen Klauen in der Erde vergraben wurden. Dieses Mal nicht nur als kleine Hilfe für den nahenden Winter, sondern auch um ihr Mitleid gegenüber der Natur irgendwie zum Ausdruck zu bringen. Von Wehmütigkeit geprägt verharrte sie eine Weile an der mit Moos und Ranken überwucherten Stelle, lauschte dem trägen Rascheln der Blätter im Wind, fühlte den immer kälter werdenden Herbstwind auf ihrem Schuppengeflecht. Es roch nach feuchter Erde, frischem Obst und doch... war da dieser lose Faden, der sich verlor, als würde etwas fehlen.

Was war nur im Norden passiert?
Vielleicht sollte sie nachsehen gehen.

Vorerst fühlte sie sich in ihrer ursprünglichen Gestalt wesentlich wohler. Hier war sie näher am Faer, näher an ihrem Ursprung und so konnte sie wenigstens diesen Verlust ein wenig besser ertragen, der sich unerklärlicherweise in ihr festgefressen hatte.

Re: Die eisige Stille des Nordens

Verfasst: 03 Nov 2025, 17:05
von Varyariel
Aber ihr, ihr lauscht immerzu?
Konnte der junge Menschenmann ahnen, wie viel mehr Wahrheit in dieser kleinen Frage ruhte, als er zu ergründen beabsichtigte?

~

Mit jedem Hufschritt den Mithloss sie näher an die Grenze des Nordlandes trug, wog die Stille schwerer, wie eine unsichtbare Last die sich gleich eines Umhangs über die Schultern der Waldelfe legte.
Die Winde trugen keinen Gesang, sondern ein dumpfes, unvollendetes Echo.

Das Land selbst war in Disharmonie verfallen.

Vor dem Schild, welches den Pass von dem Nordland trennte, eine der vielen Grenzen darstellte, welchen sie sonst weniger Beachtung schenkt, ließ sie sich vom Rücken des Pferdes gleiten.
Kein Fuß und kein Huf wurden über diese Schwelle gesetzt. Zum Teil aus Respekt vor den Worten des Barbaren, den sie zuvor antraf. Sie verstand den Schmerz, die Trauer, welche dem Verlust folgten.
Auch sie hatte Fremde, Wanderer und Reisende des Feenwaldes verwiesen, als er litt.
Der andere Grund… wog tiefer. Kein Laut, kein Vogelruf, kein fernes Knacken von Ästen. Selbst der Schnee schien innezuhalten, als fürchtete er, zu laut zu fallen.
Diesen Fehlklängen wollte sie lauschen, sie ergründen, sie verstehen.
Doch die Ruhe sollte nicht lange anhalten.

Der Barbar des Vortages, der Zwergenkönig und der junge Menschenmann aus Solgard.

Ihre Pfade hatten sich alle zur selben Zeit vor dem Pass gekreuzt, doch nur einer blieb.
Und als er die Geschichte offenbarte, formte sich das Bild in Gänze, welches zuvor nur einer leisen Ahnung entsprang.

Er erzählte von einem Trupp aus Solgard, der ausgezogen war, um das Nordvolk zur Rede zu stellen. Eben jenen kleinen Trupp, den sie selbst an dem Abend nahe Servastae antraf, angeführt von Jaster.
Was als Suche nach Antworten begann, war in Zorn übergegangen, in jene menschliche Hitze, geboren aus Überzeugung, in Rechtschaffenheit zu handeln, die schneller entzündet als verstanden ist.
Und irgendwo zwischen Stolz, Missklang und Angst fiel der weiße Hirsch. Grimlas Spross, wie ihn das Nordvolk nannte, Symbol des Lebens und der Reinheit, Wächter des Gleichgewichts und vielleicht auch Teil der Wälder selbst.
Nicht aus Hunger, nicht aus Not. Nur als… Provokation?

Als die Geschichte endete, war der Schnee nicht weißer, die Luft nicht klarer, die Stille hatte nicht zur vorigen Harmonie zurückgefunden.
Mit den Worten des Mannes veränderte sich nichts an der Welt.

Die Natur unterschied nicht zwischen Schuld und Unschuld, sie litt einfach unter denen, die diese Unterscheidungen für sich beanspruchten.

Re: Die eisige Stille des Nordens

Verfasst: 03 Nov 2025, 17:55
von Gwendolyn
Gwen traf sich mit Tarsnjor zu einem Ritual. Eigentlich sollte es eine Kleinigkeit werden, denn Tarsnjor hat das erste Ritual auch allein problemlos bestritten.
Doch erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.
Dass der weiße Hirsch kaltblütig ermordet wurde hat man Gwen schon erzählt. Allein das hat ein Loch in ihre Brust gerissen. Sie hat Jaster bereits eine lange Standpauke gehalten. Auf seine Einwände war sie gar nicht eingegangen. Die waren ihr auch ziemlich egal. Die Begründungen warum er den Hirsch getötet hatte, zeigten Gwen nur, dass ihre Skepsis gegenüber den Paladinen mittlerweile wohl begründet waren.

Und dann kam das Ritual:
Schon am Anfang zeigt sich, dass es gut, das Gwen zumindest als Kraftgeber mit anwesend war. Recht rasch zog Gwen Ceanag – ihr Seelentier – hinzu um sich besser konzentrieren zu können. Denn durch die Nachricht vom Hirschen war sie selbst schon unruhig genug. Das durfte sie nicht auf Tarsnjor und das Ritual übertragen. Das Ritual war nicht nur kräfteraubend, es war trotz aller Bemühungen Ruhe zu bewahren von sich aus Unruhig. So sehr, dass es auch Gwen mitbekam. Der Nebel, der aufzog war durchzogen von kleinen Stürmen. Es war so, als würde etwas noch zusätzlich auf das Ritual drücken. Gwen war auch immer wieder abgelenkt von Schemen, die durch den Nebel huschten. Konturen, die durch den Nebel sprangen. Sobald man den Fokus jedoch auf diese Stelle legte waren sie auch schon wieder weg. Entfernt konnte sie im Nebel auch ein fernes röhren vernehmen, auf das Ceanag sofort reagierte.

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Der Ritualkreis, den Tarsnjor akribisch gezogen hatte – Gwen hat es selbst gesehen – war an einer Stelle „undicht“. Auch der Nebel begann wieder unruhig in der Höhle hin und her zu tanzen. Segimer hatte große Mühe seinen Geist im Ritual zu behalten. Die undichte Stelle im Ritualkreis bekam weitere Risse. Es sah fast so aus als würden sich Adern darin abzeichnen. So als würde ein Rinnsal aus Blut sich seinen Weg bahnen. Im Nebel bildeten sich an dieser Stelle Schemen, die an kleine lebensfroh herumspringende Kitze erinnert. Nur eines davon lag am Boden. Gewaltsam aufgeschlitzt und seiner Vitalität beraubt. Die Höhle war geschwängert von Klagelauten, tiefer Trauer, die im Ritual mitschwingen und immer wieder an den Kräften der Druiden zerren. Mühevoll vermochten Tarsnjor, Gwen und auch Segimer die Lücke im Ritualkreis zu schließen. Tarsnjor erhielt was sie brauchte, doch die beiden Druidinnen brachen völlig erschöpft noch in der Höhle das erste Mal zusammen.
 
Völlig erschöpft, tränenüberströmt und fast gebrochen lagen die beiden nun im Heilerhaus und versuchten sich zu erholen.

Totenwacht ...

Verfasst: 03 Nov 2025, 18:52
von Selenja Vildaban
Früh am nächsten Morgen erwachte die Sechzehnjährige aus einem eher unruhigen Schlaf.

Die Nachricht vom Abend zuvor hatte ihr Albträume beschert. Die Worte aus dem Gespräch mit Gwendolyn und Tarsnjor hingen ihr noch immer in den Gedanken. Sie zog sich etwas über und ging hinaus in den Garten. Das Blöken, Gackern und Muhen der Tiere empfing sie und ließ ihre Gedanken kurz von den Albträumen abschweifen und so versorgte sie zuerst die Tiere. Dann ging sie hinüber zum Waschtrog und wusch sich das Gesicht mit dem kalten Wasser, auf dem vereinzelte Eiskristalle glitzerten. Sie sah hinüber nach Osten, wo die Sonne in ein paar Stunden über die Berge klettern würde und dann fasste sie einen Entschluss.

Sie betrat den Wohnraum, der unter den persönlichen Zimmern lag. Der Brief, den sie Mirja und Pan an der Tür hinterlassen hatte, hing noch dort - erdolcht - wie sie ihn am Abend zuvor mit dem Küchenmesser angebracht hatte. Sie packte ein paar Dinge ein, Speis und einen warmen Trunk, dann ging sie hinab in die Werkstatt und holte ein kleines Windlicht mit einer sehr dicken und massiven Kerze darin, die lange brennen würde. Dann ging sie hinauf, packte ihre Ausrüstung zusammen und zog sich zusätzliche warme Kleidung an. Kurz prüfte sie noch den Sitz der Kleidung und Rüstung und sattelte dann ihr Pferd.

Kurz hinterließ sie Mirja und Pan noch eine zweite Nachricht, die sie an den Zettel vom Abend anheftete:

Ich bin im Eis.
Ich bin zur Versammlung heute Abend wieder zurück.

Dann schloss sie die Tür, führte das Pferd aus dem Garten und schwang sich dann in den Sattel.
Das Traben der Hufe entfernte sich vom Haus, führte sie durch das noch verschlafene Nebelhafen und dann hinaus aus der Siedlung, den Gebirgspass hinauf in die weiten aus Schnee und Eis.

Sie hatte das weiße Tier erst vor wenigen Tagen gesehen gehabt. Dort würde sie mit der Suche beginnen. Eine Suche von der sie selbst nicht wusste ob sie etwas bringen würde, aber es fühlte sich richtig an. Sie trieb das Tier durch den Schnee und hielt Ausschau nach allem, was ihr eigenartig erschien. Dabei kam sie auch an den Minotauren vorbei, die noch immer um die Sphäre postiert standen. Erstarrt wie zu Eis erstarrte Wachen. Doch an den Wolken vor ihrem Gesicht, wenn diese gewaltigen Tiere ausatmeten war klar zu sehen, dass sie keineswegs erstarrt waren. Sie lenkte das Tier etwas südlich, dorthin wo sie das weiße Tier erst Tage zuvor gesehen hatte und es dauerte nicht lange, bis sie die blutgetränkte Stelle im Schnee fand.

Sie sah vom Rücken ihres Pferdes hinab zu der blutigen Stelle im Schnee. Sie musste zugeben. Das Blut hier im Schnee sah fast schon schön aus. Das rot zu dem weiß im Kontrast. Das Glitzern. Und doch war es ein Ort der Schande und des Frevels. Sie führte ihr Pferd etwas zur Seite und ging dann zurück zu der Stelle im Schnee. Sie sah sich noch einmal um und ließ sich dann auf die Knie sinken. Sie nahm das Windlicht aus dem Rucksack und mit Feuerstein und Zunder entzündete sie die Kerze, ehe sie das Windlicht dann im Schnee abstellte.

Eine Kerze, so hatte sie einst Mal gehört würde jenen den Weg weisen, die nicht wissen wohin sie mussten.

Als sie den Kopf hob meinte sie eine Bewegung erkennen zu können. Doch nach einem Blinzeln war nichts mehr zu sehen. Noch einen Moment beobachtete sie die Stelle, dann ließ sie den Blick wieder auf den Schnee sinken und schloss die Augen. Sie war keine Druidin und mit Sicherheit war sie auch nicht so naturverbunden, wie es andere waren. Doch Tiere hatten ihr schon immer am Herzen gelegen und seit sie dem Pfad des Waldläufers folgte hatte sie viele neue Dinge und auch Fähigkeiten erlernt oder entdeckt. Ob ihr hier etwas davon helfen würde? Wer weiß ... und selbst wenn? Was sollte sie tun?
Sie hatte gelernt sich gegen Dämonen und Drachen zu behaupten und doch fühlte sie sich in diesem Moment klein, unendlich jung und hilflos.

Eine Träne rann ihr über die Wange, die eine Spur aus Eis auf ihrem Gesicht hinterließ.
Die dicke Kleidung die sie trug würde sie nicht ewig warm halten.
Doch es war richtig und wichtig dass sie hier war.
Und so begann sie ihre Wacht.

Das mitgebrachte Windlicht würde später bleiben.
Ein Leuchten am Tag und auch in dunkler Nacht.
Ein kleines Licht am Ort der Dunkelheit.

Re: Die eisige Stille des Nordens

Verfasst: 03 Nov 2025, 22:39
von Rashka|Brom
Der weiße Hirsch sprang sorglos durch die schneebedeckte Landschaft. Trotz der kargen Weite huschten Hasen durchs Unterholz, und in der Ferne hallte das Heulen der Wölfe über die Hügel. Vom Himmel sanken schwere Schneeflocken herab und kleideten die Welt in ein frisches, weißes Gewand.

Er stand am Rand dieser Szenerie und betrachtete sie mit stiller Zufriedenheit. Der Hirsch drehte munter seine Runden, leichtfüßig und unbeschwert – doch plötzlich blieb er stehen. Seine dunklen Knopfaugen richteten sich auf den Mann, starrten ihn an, fast anklagend. Dann fiel das Tier – ohne Laut, ohne Grund, als hätte das Leben es einfach verlassen.

Verwirrt trat er näher. Der Schnee dämpfte jedes Geräusch, und auch die Wölfe verstummten. Kein Laut, kein Wind, kein Leben mehr. Der Hirsch lag reglos da. Vorsichtig kniete er sich hin und legte die Hand auf das weiße Fell. Es war kalt – zu kalt. Der Körper war leblos. Erschrocken zog er die Hand zurück, und wo er ihn berührt hatte, blieb ein Abdruck aus Blut, tiefrot im Hirschfell.

Er blickte auf seine Hand – auch sie war rot, triefend vom Blut des weißen Hirsches.
„Du bist schuld …“ wisperte eine Stimme, kaum hörbar, ganz nah an seinem Ohr.

Ein schmatzendes Geräusch ertönte. Der Leib des Hirsches barst auf, und dunkles Blut quoll aus der Wunde, breitete sich rasch über den Schnee aus, kroch auf ihn zu.
„Du bist schuld!“ Das Flüstern wurde lauter, kam von überall, aus jeder Richtung zugleich.

Er wollte antworten, seine Unschuld beteuern, doch kein Laut kam über seine Lippen. Er wich zurück – und aus der klaffenden Wunde des Hirsches erhob sich sein Ebenbild. Mit blutverklebtem Haar und einem Messer in den Händen schnitt es sich den Weg aus dem Kadaver frei. Tropfend, von Kopf bis Fuß in Blut getränkt, stürmte es auf ihn zu – das Messer erhoben, das Gesicht verzerrt zu einer Fratze des Zorns.

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Er schreckte hoch. Atemlos, schweißgebadet, die Hand schützend erhoben. Die Felle, in denen er gelegen hatte, waren zur Seite geschoben, kalter Schweiß klebte auf seiner Haut. Der Raum war dunkel und still. Metall klirrte leise, als er sich bewegte und etwas umstieß. Orientierungslos blickte er umher, dann öffnete er die Tür, um etwas Mondlicht hereinzulassen.

Nackt bis auf den Lendenschurz trat er hinaus in die eisige Nordnacht. Ein Schauer durchfuhr ihn, als der Frost seine Haut biss. Er sog die klare, kalte Luft tief ein – sie brannte in der Brust, und doch fühlte sie sich rein an. Dann kehrte er zurück, legte Rüstung und Kleidung an. Schlaf fand er keinen mehr.

Unruhig ging er zum Stall, ließ seinen Reitbären satteln und ritt fort, als das Zwielicht den Norden in fahles Grau tauchte. Es war jene Stunde, in der die Nacht sich noch weigert zu gehen und der Tag kaum Mut findet, zu beginnen. Die Welt lag still. Die Tiere der Nacht ruhten, die des Tages waren noch nicht erwacht.

Eigentlich war diese Ruhe nichts Ungewöhnliches – und doch lag eine andere, tiefere Stille über dem Land. Die Kälte war ungewöhnlich scharf für diese Jahreszeit, aber nicht fremd. Etwas anderes war es, etwas, das ihn innerlich frösteln ließ.

Er war kein Schamane, kein Druide, und doch spürte er in seinen Knochen, dass hier etwas Unheiliges erwachte. Rastlos ritt er durch den grauen Morgen, ließ die Zeit vergehen, während der Nebel nicht wich. Die Sonne kämpfte sich kraftlos über den Horizont, vermochte aber weder Trost noch Wärme zu spenden.

Mehrmals führte ihn sein Weg an Orte, die er besser gemieden hätte. Der Tag verging, und wenn er Hunger verspürte, stieg er ab, aß von seiner kargen Wegzehrung, und ritt weiter. Gegen Abend erreichte er den Bergpass nach Nebelhaften. Eine Weile hielt er dort Wache, doch auch dies brachte keine Ruhe. Schließlich wandte er den Bären, bereit, nach Fjellgat zurückzukehren – bis er zwei Gestalten sah, genau an jener Stelle, an der der Hirsch gefallen war.

Ein Mädchen – und ein Wolf.

Er sprach sie an, wollte wissen, was ein Menschenkind hier, im frostigen Norden, zu suchen hatte. Sie sprach von Trauer und einer Totenwache. Ihre Worte waren schlicht, aber ehrlich. Tarabasch war hinzugetreten, hatte das Gespräch schweigend verfolgt.

„Bring sie nach Fjellgat“, sagte er schließlich zu ihm in der Sprache des Nordens. „Sie soll sich vom Grimla-Spross verabschieden.“

Dann wandte er sich ab und ritt weiter – nicht zurück nach Fjellgat, wie er es vorgehabt hatte, sondern in die entgegengesetzte Richtung.
Er wusste nun: Ruhe würde er nicht finden, ganz gleich, wohin er ging. Doch zurückkehren – das konnte er noch nicht.