Mit einem Liedschlag verschwand das Bernstein aus den Augen des Drachenmagiers. Als sein Augenpaar sich dann wieder öffnete, blickte er den Anwesenden aus stellaren Augen entgegen. Sie waren ein Spiegelbild der unendlichen Tiefe des Universums mit seinen Millionen von Sternen, Universen und Sternennebel. Ein Zeichen für seine Verbindung zur Brut der Sternendrachen.
Sie alle, die gemeinsam mit ihm am Tisch sassen, konnten beobachten, wie sich die einzelnen Sterne mittig seiner Augen sammelten, um etwas nachzubilden, was einer Iris gleichkam. Der Grund, weshalb er auf seine Gabe zurückgriff, war die Untersuchung des hölzernen Herzens. Nachdem Lyna diesen auf elementarer Ebene analysierte, war es an der Zeit, dass er es auf der astralen Ebene tat.
Der Raum, im den er sich zuvor noch aufhielt, wurde in ein dunkles, blaues Schimmern gehüllt. Ein Meer aus Knotenpunkten zeigte sich vor den stellaren Augen des Drachenmagiers. Nichts mehr sah so aus, wie es vor wenigen Augenblicken noch tat. Die Objekte vor ihm, der Tisch, die steinernen Wände, sie alle bestanden nur noch aus kleinen Knotenpunkten. Punkte, die im Grunde die Umrisse der Objekte und Personen nachbildeten und einem Sternenbild gleich miteinander verbunden waren. Der Astralraum, der sich einem Schleier gleich über die reale Ebene zog und vor den Blicken der Meisten verborgen blieb.
Der Anblick, der sich ihm zeigte, stimmte Livius nachdenklich. Es brauchte nicht viel, um zu erkennen, dass sie es mit etwas Unbekanntem zu tun hatten. Das hölzerne Herz hatte einen Astralknoten, wie jedes andere Objekt oder Lebewesen auch. Doch das, was ihn so lange stumm blieben liess waren die Partikel, die das Herz umgaben und durchdrangen. Kleine, glimmende Funken, vergleichbar mit Glühwürmchen. Einzeln betrachtet wirkten sie nicht gefährlich, aber eines war klar: sie waren eindeutig fremd und einer Magie zuzuordnen, die der Drachenmagier nicht wiedererkannte.
Langsam hob er die Hand mit dem hölzernen Kern in die Höhe und verfolgte den glimmenden Partikeln fasziniert mit der astralen Sicht. Sie bewegten sich vereinzelt auf die Anwesenden in der Runde zu, die er einzeln betrachtete. Bis die Erkenntnis kam. Shira’niryn wurde durch die Partikel infiziert.
Shiras astrales Abbild war das einzige, dass neben ihm selbst «richtig» auf der Ebene dargestellt wurde und nicht nur aus einem Knotenpunkt bestand. Eine ausgewachsene und imposante Kristalldrachin, die im blauen Schleier des astralen Raumes grünbläulich schimmerten, befand sich zu seiner Linken. Er spürte ihren Blick auf ihm, wie sie lauernd und neugierig zu ihm spähte – im Wissen, dass sie selbst gerade zu geschwächt war, um ihre Sicht zu nutzen. Und da waren sie wieder, die Partikel. Sie umrundeten den Leib der Kristalldrachin wie motten, die um ein Licht in der Nacht schwirrten. Dabei schienen sie nicht nur an ihr zu kleben, nein. Zu seinem Bedauern musste er feststellen, dass sie bereits ihren Kern durchdrangen. Sie waren ein Teil von ihr.
Könnte es der Grund gewesen sein, warum sie immer mehr ihrer Kräfte verlor? Livius glaubte, dass es das gewesen sein muss. Dass sie den entscheidenden Hinweis fanden, um verstehen zu können, wo das Problem lag. Doch wie würde man diese Partikel wieder loswerden? Wie geht man mit Magie um, die man nicht kannte? Eines war klar; Es würde einiges an Zeit und vermutlich Experimente benötigen um in Erfahrung zu bringen, bis man eine Lösung finden würde.
Noch am gleichen Abend untersuchten sie das Buch über das Märchen des Kirchengrimms. Der Gedanke kam Livius wie ein Gedankenblitz. Er erinnerte sich daran zurück, wie die Brüder sich im Museum stritten und keiner wusste, wie das Buch in ihren Besitz gelangte. In Verbindung mit den Ereignissen und Erkenntnissen zu den Form- oder Gestaltwandler, wie die Pflanzenwesen inzwischen bezeichnet wurden, kam die Vermutung auf, dass es womöglich von Leons neuem «Ich» dorthin gebracht wurde oder anderweitig in ihren Besitz kam. Die Vermutung wurde nur bestärkt, als Livius sich das Buch genauer ansah und realisierte, dass es in der Tat verzaubert war. Doch nicht von gewöhnlicher Magie, nein. Der Wirker musste ein höheres Wesen sein, denn die Magie die auf dem Buch lag wies darauf hin, dass Livius, selbst Shira’niryns, Mächte nicht daran heranreichten.
Was spielte sich vor den Augen der Bewahrer ab? Wie konnte all das in der Zeit unerkannt bleiben? Was hatten diese Pflanzenwesen vor? Und wer wurde alles Opfer dieser Formwandler? Es gab so viele Fragen und doch so wenig Antworten. Ungewissheit. Ein Zustand, den Livius nicht leiden konnte. Doch es blieb nichts anderes übrig, als die Probleme Stück für Stück anzugehen.
Shiras Zustand bereitete Livius zunehmend mehr Sorge, was er nur schwer von ihr verbergen konnte. Doch in Zeiten wie diesen war es wichtig, den Fokus vor den Augen nicht zu verlieren. Auch wenn eine gewisse Skepsis gegenüber den anderen Bewahrern vorhanden war, da die Möglichkeit bestand, dass sie von Formwandlern übernommen wurde, sagte ihm sein Gefühl, dass er sich auf sie verlassen könnte.
Selbstredend war es dem Drachenmagier wichtiger, zunächst für Shira eine Lösung zu finden und ihr zu helfen, bevor sie sich um Leon kümmern würden. Er war ohnehin geflüchtet, wie sie erfahren hatten. Spurlos, ohne auf sich aufmerksam zu machen. Sein Zimmer wirkte so, als wäre es gar nie bewohnt gewesen. Nicht nur Tyvurn hatte das Bedürfnis, sich den jungen Druiden oder was auch immer er war, vorzuknüpfen. Nein. Livius Zorn staute sich immer weiter an und wer wäre schon ein besseres Ziel als das Wesen, dass womöglich dafür verantwortlich ist, dass die Kristalldrachin ihre Kräfte verlor? Er würde brennen. Die Entscheidung stand.
Doch zunächst ging es darum, die Probleme Stück für Stück anzugehen. Angefangen bei Thrilmanduil, den er dringen kontaktieren musste.
So geschah es, dass er noch am Folgetag eine Nachricht verfasste, die er an den Rand des Calen’aeron schicken liess, in der Hoffnung, dass eine Waldelfenwache den Boten aufhalten und das Pergamentstück entgegennehmen würde.
Wissen und Weisheit, Thrilmanduil
Zu meinem Bedauern muss ich dir mitteilen, dass dich dieses Schriftstück nicht aus erfreulichen Gründen erreicht.
Der Tarcil der Hochelfen, Fürst Naeldir Tir’Daer, besuchte uns am gestrigen Abend und berichtete uns über die Gegebenheiten vor dem Ankerplatz der Hochelfen und jenen, die sich in der Höhle des braunen Quarzes zutrugen.
Es gibt wichtige Dinge zu besprechen, solche die ich hier nicht niederschreiben möchte. Zu gross ist die Gefahr, dass die Botschaft jemandem in die Hände fällt, der oder die nicht mehr das sind, was sie vorzugeben scheinen.
Lass mir eine Nachricht zukommen, ob du am heutigen Abend etwas deiner Zeit für uns erübrigen kannst.
Gez.
Livius Quintus
Drachenmagier
Schlüsselhüter der Bewahrer