
Vor einigen Monaten...
Neben einigen überraschenden Kleinigkeiten hatte Leonhard vor allem drei Dinge gelernt, seit er sein Dasein als Buch mit dem Titel “Der Fuchs” in der Bibliothek des Herrn der tausend Dinge fristete.
Das Gefühl war unbeschreiblich, anders als alles was er in seinem Leben durchgemacht hatte. Als würden spindeldürre Finger seine Seele berühren, ein nervöses Jucken an einer unerreichbaren Stelle tief in sich selbst, der Impuls zusammen zu zucken, den Kontakt zu unterbrechen, das Weite zu suchen...die Form des leblosen Objektes in der er von der Magie des hohen Fae gefangen gehalten wurde hinderte ihn allerdings an jeglicher Handlung. Tatsächlich schien die wundersame Bibliothek des mächtigen Wesens mehr zu sein als nur ein persönlicher Trophäenschrank, denn in regelmäßigen Abständen wurde dieses oder jenes Schriftstück aus dem Regal genommen, geöffnet, und dessen Inhalt kopiert. Einmal, da war sich Leonhard sicher, hatte er sogar mitbekommen dass die entstandene Kopie gegen einen anderen Gegenstand getauscht worden war.
Die alte Agathe, die ebenfalls in der Gestalt eines Buches auf dem Regalbrett neben ihm ruhte, schrieb den beobachteten “Kauf” dem Wunsch der Fae nach neuen Erfahrungen zu. Die wandelnden Weiten waren durch die Hecke von anderen Orten abgeschnitten, selbst innerhalb des Konglomerats aus lose zusammenhängenden Sphären waren stabile Reisewege rar. Kein Wunder also, dass ein Ort wie dieser, ein Haus des Wissens und immer neuer Geschichten, einen besonderen Stellenwert in den Herzen der Fae einnahm. Die greise Magierin schien einiges an Erfahrungen über diese Wesen angesammelt zu haben. Zum Leidwesen ihres Lehrlings hatte sie außerdem beschlossen seine Ausbildung fortzusetzen, beginnend mit ihren ständigen Nörgeleien dass er den falschen Pfad der Magie eingeschlagen hätte. Es war ein sehr einseitiges Lernerlebnis - immerhin war er ein Buch, konnte keine Fragen stellen, keine Antworten geben. Wie Agathe es geschafft hatte die Art und Weise zu meistern mit der Fae sich oftmals unterhielten, eine Mischung aus projizierten Gedanken, Emotionen und Bildern direkt in den Geist des Gesprächspartners, war ihm nach wie vor ein Rätsel.
Dieser Erkenntnis überraschte ihn. Als der Herr der tausend Dinge ihn vor über einem Jahr verzauberte, hatte der Vorgang wie ein schreckliches Wunder gewirkt. Nun wusste er es besser. Über die Zeit hatte er zwar immer noch nicht gelernt wie seine Meisterin mit anderen Gegenständen zu kommunizieren, doch es war ihm leichter gefallen seine Gedanken zu fokussieren, den Schleier zu durchbrechen der aufgrund der Verwandlung auf seinem Geist lag. Diese neu gewonnene Klarheit war nicht unbedingt nur ein Segen, ohne die ständige Interaktion um die sich Agathe bemühte wäre er wohl verrückt geworden, gefangen in ewiger Bewegungslosigkeit. Stattdessen konnte er die Zeit nutzen um zu beobachten. Zuerst dachte er die Fae in der Bibliothek würden ohne Worte der Macht zaubern, ohne Paraphernalia. Mit jedem Tag wurde jedoch klarer, dass dies alles nur Tricks waren, eine geschickte Verschleierung der Tatsachen. Die Worte der Macht waren immer noch ein Muss, manchmal in einer ihm unbekannten Sprache oder gar in den Gedanken-Projektionen bestimmter Fae. Die Reagenzien wiederum fehlten nicht, sie waren überall! Nachtschatten blüte auf den Wänden, Blutmoos wurde dekorativ in Mosaiken auf dem Boden angepflanzt. Wenn ein Fae beim Sprechen eines Zaubers beiläufig eine Säule berührte, einen Vorhang von Ranken beiseite strich, so war dies tatsächlich eine Handlung die aus purer Absicht und Notwendigkeit getätigt wurde. Jeder Zauber der Fae brachte die Vegetation die in diesen Hallen allgegenwärtig war zum Welken und Diener mühten sich ab, Tag ein Tag aus, die verbrauchten Reagenzien zu ersetzen.
Masken, Kleidung, Muster, einmal hatte er den hohen Fae sogar mit einem Paar schillernder Flügel durch die Räume schreiten sehen - und Leonhard war sich ziemlich sicher, dass diese Schwingen nur Dekoration gewesen waren. Die Bibliothek war zudem voll mit gefühlten Millionen an Schmetterlingen, Motten, Flügelkäfern aller Art und Größe. So viel Eitel, so viel Arroganz...der Herr der tausend Dinge hatte ganz Eindeutig etwas zu Kompensieren. Irgendwo tat es gut zu wissen, dass auch Kreaturen solcher Macht ein Sklave ihrer eigenen Emotionen waren, nicht besser als ein Bauernjunge aus einem Dorf im hohen Norden, oder ein…
Raue Finger berührten seinen Umschlag und rissen sprichwörtlich den Faden dem sein innerer Monolog gefolgt war entzwei.
Hastig versuchte er sich zu sammeln, seine Aufmerksamkeit nach Außen zu richten, doch er bekam nur eine verschwommene Rückmeldung. Ein Fae...der männliche Oberkörper unbekleidet und geformt mit sehnigen Muskeln, ein olivgrüner Stoffumhang lag lose auf den Schultern, die Beine endeten in Hufen. Ein Faun stand vor dem Regal, eine hölzerne Maske auf dem Gesicht. Mehrere vermummte Personen waren im Raum, eine Welle aus Nervosität, Entschlossenheit, Angst und Wut schwappte ungestüm über die Szene vor ihm, er fühlte sich...Nass. Nass? Panik stieg in ihm auf. Bücher und Feuchtigkeit vertrugen sich bekanntlich nicht besonders gut, doch der Faun war anscheinend gerade damit beschäftigt den Inhalt einer kleinen, gläsernen Phiole auf seinem Einband zu entleeren. Leonhard wollte sich winden, sich schütteln, die Tropfen wie ein Hund in alle Richtungen verteilen und, vor Allem zu seinem eigenen Schock...gelang es.
Seine nackten Hände berührten kalten Stein, seine Stimme ein keuchendes Krächzen das an fleischgewordene, seine, Ohren drang. Entgeistert hob der junge Mann den Blick, starrte durch einen Vorhang seines eigenen verfilzten roten Haares hinauf zu dem Fae, seinem Retter.
“Hier, zieh das an.”
Der Faun warf ihm eine Tunika zu, kaum mehr als ein Kartoffelsack mit Löchern, und erst jetzt wurde sich Leonhard seiner Nacktheit bewusst. Mit fahrigen, ungeschickten Bewegungen schlüpfte er in das behelfsmäßige Kleidungsstück, während er versuchte seiner Zunge die ersten Worte seit zwei Jahresläufen zu entlocken.
“Wer bist du?”
“Oisín. Beeil dich, wir haben nicht viel Zeit.”
Ohsheen. Ein seltsamer Name. Der Faun sprach mit einem fremdartigen Dialekt, seine Stimme gedämpft hinter der massiven, hölzernen Kopfbedeckung, doch war da auch ein Hauch von Triumph, welcher nur zu schnell abgelöst wurde von der berechnenden, geübten Aura eines Anführers als zwei weitere vermummte Gestalten in die Bibliothek hasteten.
“Wir wurden entdeckt, am oberen Ende der Wendeltreppe! Sie sind direkt hinter uns!”
Leonhard schien für den Moment vollkommen in Vergessenheit geraten zu sein, langsam richtete er sich auf, seine Gedanken taumelten bei dem Versuch die Situation zu erfassen. Ein starker Kontrast zu Oisín, der sofort begonnen hatte mit befehlsgewohnter Stimme Aufgaben zu verteilen, nur um in der nächsten Sekunde ein Schwert mit hölzerner Klinge zu ziehen, dass bis jetzt in einem Rückengurt geruht hatte.
“Priorisiert die Gefangenen! Schnappt euch was ihr tragen könnt! Wer sich im Stande fühlt zu Kämpfen, an die Waffen!”
Es lag keine Magie in seiner Stimme und doch spornte der routinierte Ton auf wundersame Weise die umstehenden Personen zu Taten an. Selbst der junge Dracon, gerade erst wieder im Besitz seines eigenen Körpers, griff entschlossen nach “Dem Kirchengrimm”, dem Buch das so lange neben ihm auf dem Regalbrett geruht hatte, Agathe in anderer Gestalt, bevor er mit nun ungetrübtem Blick die Lage sondierte. Er erspähte kaum Andere die wie er in grob gewobene Tuniken gehüllt waren, die meisten Anwesenden trugen braune oder dunkelgrüne verhüllende Umhänge, sowie hölzerne Masken von ähnlicher Machart wie sie auch Oisín nutzte. Kaum jemand schien so gut mit der Situation zurecht zu kommen wie der anführende Faun, doch ihre Bewegungen deuteten auf eine gewisse verbissene Entschlossenheit hin.
Donnernde Schritte und ein seltsam schleifendes, mahlendes Geräusch drangen inzwischen aus einem der Durchgänge und kündigen damit die Wachen des Herrn der tausend Dinge an. Wie in Zeitlupe schien die Szene sich vor Leonhard abzuspielen, die flüchtende Gruppe auf der einen Seite, während er fast schon die Silhouetten ihrer Verfolger im Dunkel ausmachen konnte...doch der Rotschopf hatte zwei Jahre lang gewartet. Hatte fantasiert, Pläne geschmiedet, Ideen in seinem Kopf herum gewälzt. Er hatte genau den Zauber für diese Situation. Ein Griff zu wildem Knoblauch der am Rande eines dekorativen, schalenförmigen Artefakts in die Höhe spross, die Finger gruben sich in den freiliegenden Boden zwischen zwei makellos platzierten Steinen, ein wenig Blutmoos, der Mutterboden dick unter seinen Fingernägeln, den trotzigen, stechenden Blick seiner grünen Augen gerichtet auf den Eingang in die Bibliothek, als Jahre angestauter Wut und Frustration sich in seinen Worten entluden.
“Kal Sanct Xen.”
Die Zeit schien für einen Moment der Stille zu gefrieren, das ruhende Auge des Sturms, bevor die Welt mit dem Flattern tausender Flügel explodierte. Ein Orkan aus feingliedrigen Faltern sammelte sich aus allen Ecken und Nischen des Saals, eine stetig anwachsende Masse von winzigen Körpern, in ständiger Bewegung, wirr, wild und wuselnd wie das Leben selbst, eine schützende Ablenkung die ihre Verfolger zumindest für kurze Zeit zurückhalten sollte. Ein müdes, raubtierhaftes Grinsen breitete sich auf Leonhards Zügen aus, als die verwirrten Rufe und Schreie der Wachen durch den Raum halten. Zu seinem Leidwesen konnte er sein Werk nur für kurze Zeit genießen bevor ihn Oisíns Hand grob auf die Füße riss.
Kurze Zeit später, nach einer chaotischen aber gelungenen Flucht, bestaunte der junge Dracon zum ersten Mal den dunklen, freien Himmel der wandelnden Weiten. Es sollte nur der Erste von vielen Vorstößen in die Ländereien des Herrn der tausend Dinge gewesen sein. Schon bald fand sich Leonhard als fixer Bestandteil der rebellischen Freiheitskämpfer wieder, über Monate hinweg wurden unterschiedliche Pläne erprobt um nicht nur weitere Personen zurückzuverwandeln, sondern auch einen Weg durch die Hecke zu etablieren.
“Damals, auf der ersten Mission, als du mein Buch ausgewählt hast. Wieso gerade mich?”
Oisín blickte überrascht von seinem kargen Abendbrot auf, bevor er den Magier über die glühenden Kohlen des heruntergebrannten Lagerfeuers schelmisch angrinste.
“Ich mag Füchse.”