-= Yndis'legjar von Brat'ack =-
Auf zu neuen Ufern
Als jüngste von Vieren wuchs das Nesthäkchen im Schatten ihrer älteren Geschwister auf. Eine Nachzüglerin, die fünf Jahre Altersunterschied von der zuletzt Geborenen trennten und die auch sonst mit den übrigen Kindern Tormod‘s und Tyrva‘s so gar nichts gemeinsam zu haben schien.
Während die Söhne – Einar und Fjell - auf dem Weg der Berserker wandelten und ihrem Vater nacheiferten, hatte es sich ergeben, dass der älteren Tochter, Synni, schon früh die Gabe des zweiten Gesichts geschenkt worden war. Die Eltern blickten voller Stolz und Wohlwollen auf die Entwicklung ihrer ersten drei Nachkommen herab, waren sie doch mit ihnen wahrlich gesegnet, doch der jüngste Spross der Familie tanzte gänzlich aus der Reihe und bereitete vor allem Tormod Kopfzerbrechen.
Tyrva, die über ein sonniges Gemüt verfügte und stets mit Hingabe die Aufgaben erledigte, die ihr als Kräuterkundige und Vaertind auferlegt waren, versuchte stets, die schweren Gedanken ihres Gefährten mit einem aufmunternden Lächeln zu zerstreuen. Aber es half nichts, allzu oft schallte der Name Yndis’legjars, die zumeist nur Yndis gerufen wurde, weil es prägnanter und einfacher zu schreien war, durch die Siedlung – und geschrien wurde der Name wirklich sehr oft, da das Mädchen mit dem kastanienbraunen Haar ständig für Verärgerung bei Tormod sorgte!
Die Kleine stahl sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit vom Lager fort und streifte durch die angrenzende Flora und Fauna. Wann immer das störrische Kind dann den Weg zurück ins Lager fand, hatte sie die Taschen voller Federn von Greifvögeln, hübscher Kiesel, Muscheln und – noch viel schlimmer als der übliche Tand – sehr oft schleppte sie auch noch kleine, verletzte Tiere an, was dann jedes Mal dicke Tränen die pausbäckigen, roten Wangen hinabkullern ließ, wenn der Vater beschloss, dass der Hase oder das Kitz wenigstens eine kärgliche Mahlzeit abgeben würde, statt dass die Tochter Zeit damit vergeuden sollte, das gefundene Getier wieder aufzupäppeln.
Wann immer also der Name gebrüllt wurde, konnte man davon ausgehen, das Tormod die gewaltigen Hände direkt im Anschluss an die Stirn führte und leiser die Frage stellte: „Was stimmt bloß neyt mit diesem Kind?“
Auch als sie den Kinderschuhen entwachsen war und langsam zu einer jungen, hübschen Frau heranreifte, wurden die Sorgen des Vaters nicht weniger. Wenngleich gerade Tormod es nicht gern sah, dass ausgerechnet seine Tochter einen Bogen oder Wurfspeer als Waffe gewählt hatte, aber immerhin hatte sie überhaupt eingewilligt, sich mit der Jagd zu beschäftigen und ausbilden zu lassen. Es mangelte ihr nicht an Geschick, nein, aber sie war.. ach, so störrisch und ganz einfach anders.
Noch immer war sie viel mehr damit zu begeistern, stundenlang durch die Natur zu wandern, sich das Lesen von Fährten anzueignen, das Vertrauen von Tieren zu gewinnen, diese abzurichten und an ihrer Seite auf die Jagd zu gehen. Wenn er nur an diesen zotteligen, alten Wolf mit dem einen verbliebenen, trüben Auge dachte, den sie gerettet und er schon einige Male bei ihr gesehen hatte, keimte wieder leichter Groll in ihm auf. Eines Tages würde der Wolf sie zum Dank gewiss noch fressen! So ein törichtes Kind.
Lange Zeit hatte er gehofft, dass sie doch noch zur Vernunft kommen und die überschäumende Liebe zum Kampf entwickeln würde, die ihn stets angetrieben hatte und sich mit Feuereifer ihren Brüdern anschließen würde, doch inzwischen hatte er einsehen müssen, dass diese Hoffnung vergebens war, denn ihre Statur allein schon ließ sie dafür nicht in Frage kommen. Eine gute Handbreite fehlte ihr an Größe, um wenigstens das Mindestmaß zu haben, was es brauchte, um eine gute Berserkerin abgeben zu können – er hatte dafür immerhin ein Auge – nein, sie war zu klein, zu schmächtig.
Er hatte längst schon Rat und Beistand bei den Ahnen suchen wollen, doch der Sjaman hatte nur milde gelächelt und als hätte er geahnt, mit welcher Frage im Kopf er auf seine Hütte zu gestapft kam, gesagt, dass nicht alle Kinder gleich seien, dass er sich aber nicht zu sorgen brauche; auch Yndis würde ihren Weg finden.
Also hatte Tormod kehrt gemacht und sich mit dem Rücken zu seiner Hütte in grüblerischer Stimmung niedergelassen. Ja, wenn er so darüber nachdachte, Yndis hatte nie viel übrig gehabt für das Spiel der Brüder, die sich stets und ständig prügelten, um ihre Kräfte zu messen. Natürlich, auch sie war ein Kind Sarmatijaschs, Kampfgeist und Stolz waren ihr in die Wiege gelegt worden, aber wenn der Kampf nicht ihr Weg war, sie auch nicht mit dem zweiten Gesicht gesegnet worden war – was war dann ihr Weg, wo war ihr Platz?! Sollte sie, wie ihre Mutter das Bestellen von Äckern und die Viehzucht erlernen? Wie wollte sie zu Ruhm und Ehre gelangen, um sich einen Platz im Ahnenreich zu verdienen?
Nun, Yndis war sehr hübsch, inzwischen hatte sie 21 Sommer erlebt. Sie war nun mehr als alt genug, um einen Kerl zu wählen! An Bewerbern hatte es nicht gemangelt, nein, einige junge Kerle hatte es gegeben, die ein Auge auf sie geworfen hatten, doch das sture Mädchen hatte offenbar nichts als Kräutersammeln, das Zusammentragen von Steinen, Perlen und das Aufpäppeln von verletztem Vieh im Kopf! Das war doch nichts, was einen Nordmann oder eine Nordfrau mit Befriedigung erfüllen könnte!
Da ihre Brüder bereits einen Bund eingegangen waren, der Stamm wohl bald mit vielen weiteren Nachkommen gestärkt werden würde, Synni das zweite Gesicht besaß und somit nicht zwangsläufig einen Bund eingehen würde müssen und Yndis der Mutter tatkräftig zur Hand gegangen war, hatte man es in ihrem Falle nicht so eilig gehabt, sie dahingehend zu einer Entscheidung zu drängen und einem der jungen Kerle zu versprechen. Zeit, dies ein für alle Mal zu ändern!
Sollte sich nun ruhig jemand anderes mit ihr herumärgern. Der Erste, der Interesse an seiner Tochter bekunden würde, würde sie bereitwillig hergeschenkt bekommen.
„Yndiiiiiis.“
Ein weiteres Mal erklang die tiefe, kräftige Stimme Tormods, doch die Gerufene folgte dem Ruf des Vaters nicht, sondern huschte in entgegen gesetzter Richtung davon- wohl beschlich sie die Befürchtung, dass der Vater endgültig die Geduld mit ihr verloren hatte und seine bereits einige Male ausgesprochene Drohung nun wahr machen würde.
Nachdem ihr Schlafplatz auch am nächsten Morgen unberührt geblieben war und dies über das übliche Maß an Ungehorsamkeit hinausging, ließ das nur einen Schluss für ihn zu: Yndis hatte nicht nur die Insel Thule, die bislang ihre Heimat gewesen war, sondern auch den Stamm der Brat’ack verlassen und war aufgebrochen, um an neuen Ufern ihr Glück zu suchen.
Ein letztes Mal verklang der Name der Tochter, doch diesmal schwang darin kein Hauch von Groll mit, eher Wehmut ließ ihm das väterliche Herz schwer werden. Denn in dem Augenblick, in dem er auf die zurückgelassenen Habseligkeiten blickte, verspürte Tormod die Gewissheit, dass er die stets so störrische, wie auch gutmütige, Tochter nicht wiedersehen würde.
Aber diesmal fragte er sich nicht insgeheim, was mit diesem Kind nicht stimmen mochte, vielmehr fragte er sich, was mit ihm selbst nicht stimmte, dass ihm entgangen war, dass Yndis schon immer weitaus mutiger als die Söhne, die sich furchtlos in jeden Kampf warfen, gewesen war, denn sie war es, die zeitlebens den Mut aufgebracht hatte, sich ihm zu widersetzen, ihm zu trotzen - trotz all der Schelte und den Drohungen seinerseits, gleich was es für Konsequenzen nach sich gezogen hatte, und war nun letzten Endes wohl ihrer inneren Stimme in eine ungewisse Zukunft gefolgt.