Gedankenverloren starrte Vyktorya auf die Leichen vor sich auf dem Seziertisch. Es war schon eine Weile her, seit sie für ihre Experimente dem Heiler in Silberburg zur Hand ging und dabei einiges über die Leichenschau lernte. Aber sie konnte es noch. Beruhigend.
Wenigstens eine Gewissheit zu dieser Zeit.
Kaum war der Kristalldrache als Gefahr gebannt, bahnte sich schon die nächste an. Livius‘ Nachricht mit dieser offensichtlichen Drohung und gleichzeitigem Hilferuf war höchst alarmierend gewesen. Sofort machten sich Rorek und sie Gedanken, welcher der ihren so idiotisch gewesen sein könnte, einen Wolf auszubluten und ihn direkt vor den Nasen der Köter liegen zu lassen. Aber so wie sich die Sache nun darstellte, war es keiner der Ihren. Als sie die zweite Leiche selbst vor einigen Stunden hinter den Feldern Ansilons im Wald gefunden hatte, war der Verdacht ausgeräumt, denn diesmal war es eindeutig ein Unsterblicher, welcher das Ende seiner Existenz gefunden hatte. Und er trug augenscheinlich Wunden von einem Kampf mit einem riesigen Tier. Einem Wolf? Als sie Livius und Nimue die Leiche präsentiert hatten, hatten beide bestätigt, dass die Wunden von einem Werwolf stammen könnten. Dabei war das „könnten“ sehr ausschlaggebend. Denn alle vier – Livius, Nimue, Rorek und sie selbst – kamen zum Schluss, dass keine der beiden verfeindeten Seiten hierfür verantwortlich war. Vielmehr sah es so aus, als wolle irgendwer, der von ihrem Krieg wusste, dafür sorgen, dass sie sich gegenseitig an die Kehle gingen.
Und vermutlich hätte das auch wunderbar funktioniert, wären die Leichen von wesentlich weniger beherrschten und vernünftigen Vertretern ihrer Rassen gefunden worden. Vyktorya wollte sich gar nicht ausmalen, welcher Krieg losgebrochen wäre, wenn einer der Crew oder Itharus den toten Vampir gefunden hätte. Oder einer der wesentlich unbeherrschteren und vom Hass völlig verblendeten Wölfe den anderen Kadaver. Das wäre zu einer blutigen Jagd geworden, welche die Maskerade nur unnötig gefährdet hätte und vermutlich wäre man niemals jemand auf den Gedanken gekommen, dass alles nur inszeniert war.
Doch von wem, zum Teufel?
Genau über diese Frage brütete Vyktorya, seit dem Treffen mit den beiden Wölfen. Irgendwer oder etwas war auch definitiv in ihrer Nähe gewesen. Erst in dem kleinen Wald bei Ansilon… dann bei der Bibliothek Silberburgs. Erst hatte Vyktorya es für ihre Einbildung gehalten, doch Livius und Nimue hatten ebenso wie Rorek den Schatten und das Rütteln an den Fensterläden der Bibliothek bemerkt. Und diese Blutspur davor… die definitiv, als sie eingetroffen waren, noch nicht dagewesen war. Aber nirgends war der Mensch zu finden, von dem das Blut stammte. Wer hielt sie da nur zum Narren?
Schließlich hatten Nimue und Livius zugestimmt, dass Vyktorya den Wolfsleichnam ebenfalls mitnehmen durfte, um ihn näher zu untersuchen. Einerseits war das eine gute Gelegenheit die Anatomie der Wölfe zu studieren, aber primär ging es ihr darum, herauszufinden, wie das Blut aus der Leiche verschwunden war. Magie, Ausblutung oder war doch irgendeiner so dämlich und saugte ihnen das Blut aus? Unwahrscheinlich, denn das Wolfsblut war für Vampire giftig. Und umgekehrt das Vampirblut für Wölfe auch, zumindest vermutete sie das, aufgrund ihrer früheren Experimente mit Mahribars Blut.
Zum Vergleich hatte sie Rorek aufgetragen, drei Menschen von der Sklaveninsel zu besorgen. Einen würde sie vollständig aussaugen, den zweiten wie bei einer Einbalsamierung ausbluten lassen und dem Dritten würde sie versuchen das Leben mit ihrem Zauber „Vampirgriff“ zu entziehen, bis dieser starb. Danach würde sie sich die physischen Auswirkungen näher ansehen und mit den Spuren an der Wolfsleiche vergleichen.
Was die Bisse an der Vampirleiche - oder vielmehr dem, was davon übriggeblieben war – anging, so konnte sie lediglich die Wunden selbst untersuchen und herausfinden, ob sich in diesen irgendwelche Spuren fanden. Schmutzpartikel, Dreck… irgendwelche Rückstände, die darauf schlossen, dass vielleicht ein Werkzeug hierfür benutzt wurde. Sie würde das Aussehen der Wundränder notieren und sie ausmessen.
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Leichenbeschau – Unbekannter Vampir
- Name: unbekannt
- Geschlecht: Männlich
- Alter: unbekannt
- Größe: Schätzungsweise zwischen 170 und 180 Fingerbreit
- Gewicht: Schätzungsweise zwischen 70 und 80 Waagsteinen
Vom unbekannten Vampir konnte lediglich der Torso gefunden werden. Die übrigen Gliedmaßen fehlen augenscheinlich. Der Torso selbst weißt schwere Wunden auf, welche vom Aussehen her offensichtlich von einem Tier zugefügt wurden. Die Kieferlänge beträgt dabei geschätzt etwa 30 bis 40 Fingerbreit, die Breite ungefähr 15 bis 20. Die Länge der Fänge wird auf ungefähr drei bis fünf Fingerbreit geschätzt. Die Wunden wirken an den Rändern deutlich ausgefranst, was auf eine typische Schüttelbewegung hindeutet, mit der ein Raubtier an seiner Beute reißt.
Die Wunden überlappen sich teilweise: Ein Biss zieht sich über die linke obere Hälfte des Torsos, während der andere die rechte untere Hälfte überzieht. Dazwischen entstellen tiefe Kratzwunden von gut drei bis vier Fingerbreit langen Klauen das Fleisch. Die Stellen, an denen die Extremitäten entfernt wurden, deuten darauf hin, dass diese abgerissen oder abgebissen wurden. Die Wundränder sind zerfetzt und die Sehnen zerrissen und nicht sauber durchtrennt. Knochensplitter befinden sich ebenfalls in den Wunden. Arme und Beine wurden eindeutig jedoch post mortem entfernt.
Die Halswunde lässt darauf schließen, dass die Enthauptung ante mortem passierte und damit auch die Todesursache ist. Außerdem ist die Wunde deutlich sauberer und präziser, also eher mit einem Werkzeug verursacht.
Im Allgemeinen ist der Verwesungsprozess schon sehr weit fortgeschritten. Berücksichtigt man den Fundort der Leiche und die klimatischen Bedingungen, liegt der Todeszeitpunkt zum derzeitigen Moment ungefähr fünf bis sechs Tage zurück.
Leichenbeschau: Unbekannter Werwolf
- Name: unbekannt
- Geschlecht: Männlich
- Alter: optisch etwa Mitte 30
- Größe: 178 Fingerbreit
- Gewicht: 83 Waagsteine
Der Leichnam weißt auf dem ersten Blick lediglich einen Schnitt am linken Arm auf, welcher post mortem zugefügt wurde. Hier wurde nach Aussage von Livius Quintus geprüft, ob der Körper tatsächlich blutleer sei. Auch sonst sind die körperlichen Merkmale unauffällig. Keine Narben oder ähnliches sind zu erkennen. Lediglich die Hände weisen leichte Schwielen auf, was darauf hindeuten könnte, dass der Werwolf einer schweren Arbeit nachging. Vielleicht ein Handwerk oder Kriegskunst. Der körperliche Zustand ist tadellos. Die Muskulatur ist ausgeprägt und kräftig.
Der Körper wird geöffnet. Auffällig ist sofort das fehlende Blut. Die Lunge ist eingefallen, die inneren Organe kaum verwest, da sie regelrecht vertrocknet sind. Die Verwesung erfolgte rein äußerlich. Auch die Adern sind trocken, regelrecht zusammengefallen, da der Druck des schlagenden Herzens sie nicht mehr weitet.
Es benötigte verschiedene Versuche, um die mögliche Ursache für das Fehlend es Blutes zu finden.
Versuch 1:
Aussaugen eines Opfers durch den vampirischen Biss
Diese Methode bewirkt zwar nach einigen Minuten das Ableben des Opfers, jedoch konnte nach der Leichenschau festgestellt werden, dass das Opfer keineswegs vollständig blutleer ist. Ein gewisser Anteil Restblut ist weiterhin vorhanden. Dies ist darauf zurück zu führen, dass das Herz nicht mehr ausreichend Blut erhält, welches durch die Blutbahnen gepumpt wird. Der Druck in den Blutbahnen fällt ab und diese erschlaffen, wodurch das Herz und alle anderen Organe nicht mehr ausreichend versorgt werden. Es ist nur bis zu einem gewissen Grad möglich, das Blut aus den Adern zu saugen, selbst wenn man den Biss an verschiedenen Stellen ansetzt.
Die Organe des Opfers sind zwar unterversorgt, doch keinesfalls weisen sie dieselben Merkmale wie bei der Leiche des unbekannten Werwolfs auf.
Zudem ist das Blut von Werwölfen für Vampire giftig. Die Menge an Blut, die getrunken werden müsste, wäre tödlich.
Durch den Biss entstehen zudem typische Wunden, welche jedoch durch Magie oder Vampirblut wieder verschlossen werden können.
Versuch 2:
Ausbluten eines Opfers nach der Methode von Leichenbeschauern zur Einbalsamierung
Leichen werden zum Zwecke der Einbalsamierung und Verlangsamung der Verwesung ausgeblutet, um sie für einen letzten Blick der Hinterbliebenen ausreichend ansehnlich herzurichten oder um sie in bestimmten Totenkulten für die Ewigkeit zu erhalten. Das vollständige Ausbluten ist langwierig und benötigt fachmännische Kenntnisse. Außerdem hinterlässt diese Methode sehr deutliche Wunden an den entsprechenden Hauptschlagadern am Körper. Diese Wunden könnten jedoch durch Magie oder Vampirblut verschlossen werden.
Jedoch führt auch diese Methode nicht dazu, dass das gesamte Blut restlos vom Körper entweicht. Tatsächlich bleibt auch hier eine geringe Menge zurück. Dies ist davon abhängig, die lange und fachkundig die Methode angewandt wird. Außerdem sind auch die Organe nicht vollständig blutleer, da diese in der Regel entnommen werden, um den Fäulnisprozess von Innen zu verlangsamen.
Versuch 3:
Anwendung des Zaubers „Vampirgriff“
Dieser Zauber bewirkt den Transfer von Lebenskraft des Opfers auf den Zaubernden. Dabei wird durchaus ein winziger Teil des Blutes des Opfers „entfernt“, da die Lebenskraft – Vitae – sich im Blut befindet.
Der Versuch an einem Mensch mit dem herkömmlichen Zauber bewirkt lediglich genau dies. Das Opfer starb weder an den Folgen, noch blieb es blutleer zurück.
Nun wurde der Versuch an einem deutlich kleineren Wesen, einer Maus, wiederholt, wobei die Wirkung des Zaubers mittels Blutmagie nochmals verstärkt wurde. Die Maus wies im Anschluss eine deutliche Blutarmut auf, welche sie tödlich schwächte. Die Organe wiesen erste Anzeichen einer Austrocknung auf, die jenen des unbekannten Opfers sehr ähnlich sind.
Fazit:
Wenn man also nun diese Ergebnisse näher betrachtet, könnte es möglich sein, den Effekt auf ein humanoides Opfer durch eine Modifikation des Zaubers zu verstärken. Hierzu wäre ein entsprechendes Ritual sowie eine entsprechende Macht notwendig.
Einige Tage später wird bei Dylan dem Bankier ein Brief für Livius hinterlegt.
Meinen Gruß, Livius,
ich habe mir euren gefallenen Kameraden wie besprochen näher angesehen. Dabei versichere ich Euch, dass ich mit dem nötigen Respekt für den Toten ungeachtet seiner Gesinnung vorging.
Wie wir schon vermutet haben, ist euer Kamerad nicht durch die Hand unserer Leute umgekommen. Es benötigte einige Experimente, doch nach allem was ich nun herausgefunden habe, kann ich euch dazu folgendes sagen:
Vermutlich wurde Euer Kamerad durch eine Abwandlung des Zaubers "Vampirgriff" getötet. Wie der Name schon lautet, entzieht dieser Zauber die Lebensenergie eines Opfers und überträgt sie auf den Zaubernden. Mit entsprechenden veränderten Ritualen und einer entsprechend großen Macht, ist es sicher möglich, die Lebenskraft eines Opfers auch auf einem Schlag zu entziehen, so dass das Opfer regelrecht ausdörrt.
Ich befürchte also, dass wer oder was auch immer dahintersteckt, magisch begabt ist. In einer Art und Weise, dass er sich Roreks Zaubern entziehen und die unsrigen überwältigen kann.
Was die Leiche des Unseren angeht: Die Wunden wurden definitiv von einem großen Tier gerissen. Zumindest ist mir kein Werkzeug oder Waffe bekannt, die das Gewebe auf diese Art zerreißen könnte. Gewöhnliche Wölfe sind jedoch dazu zu klein.
Jedoch wirken die Bisse schon fast gezielt, nichts deutet darauf hin, dass das Opfer sich gewehrt hat und die Halswunde lässt darauf schließen, dass die Enthauptung auch die Todesursache war.
Ich schätze also, damit ist das bewiesen, was wir ohnehin bereits vermutet oder befürchtet hatten: Keiner von uns ist der Schuldige. Welche Motive jedoch dahinterstecken? Ich fürchte, das konnten die Leichen mir nicht beantworten.
Und bevor die Frage aufkommt: Nein, ich kann sie auch nicht befragen. Die Seelen sind weitergegangen und es bedeutet für mich immensen Aufwand sie im Äther zu erreichen. Ehe ich das in Betracht ziehe, sollten wir andere Wege für eine Aufklärung finden.
Ich hoffe, dass wir schnell noch mehr Antworten finden und keiner von uns oder kein Mensch zu Schaden kommt.
gez.
VA