Es war wie ein Déjà-vu: abermals kroch die handtellergroße schwarze Spinne durch das dichte, hohe Gras und erklomm inmitten der Nacht die Überreste des zerfallenen und von Säure zerfressenen Lattenzauns. Noch immer standen die beiden Wachen an Ort und Stelle und bewachten eher missmutig den Kristall der Legion. Ein dankbarer Dienst. Zumindest für die Legion. Undankbar für die beiden Männer, denn sie hatten die Gefahr stets im Nacken und allmählich merkte man ihnen die Anspannung und den ständigen Einfluss des Kristalls an, auch wenn sie scheinbar außerhalb seiner Reichweite standen. Doch das Böse fand immer seinen Weg.
So wie auch heute.
Unermüdlich näherte sich die Spinne dem Kristall und störte sich nicht im Geringsten an seiner boshaften Ausstrahlung, im Gegenteil. Es fühlte sich an, wie nach Hause kommen. Innerlich wohlig seufzend umrundete der Arachnoide das Artefakt und beäugte das Erdreich darum herum. Mhm… das würde ein ganz schönes Stück Arbeit werden, aber ohne Fleiß kein Preis, nicht wahr?
Es dauerte tatsächlich eine ganze Weile, denn Spinnen waren nun mal keine Tiere, die sich durch das Erdreich gruben, doch mit angemessener Mühe schaufelte sie mit den kleinen Beinen und puhlte mit dem dicken Spinnenleib Stück für Stück eine kleine Aushöhlung unterhalb des Kristallfußes. Es musste ja nicht weit sein… nur so weit, dass eine kleine Kuhle entstand, in die sie sich kauern konnte, um den Markierungszauber zu wirken.
Kal Por Ylem
Der Spinnenleib zitterte vor Anstrengung als sie sich wieder hervorquälte. Die Nacht war inzwischen ziemlich weit fortgeschritten, es hatte doch eine ganze Weile gedauert. Aber es war noch immer dunkel genug, als Vyktorya sich wenig später auf der Insel der Greifen manifestierte. Diesmal nutzte sie die Schatten der Unsterblichkeit, um sich unbemerkt über die Insel zu bewegen. Ohnehin waren um diese Uhrzeit nur wenige Wachen unterwegs. Auch die kleine Arena im Nordosten der Insel lag nun recht verlassen da. Gut so. So bemerkte niemand sofort die Gestalt die sich dort manifestierte und mit einem kalten Lächeln den nächsten Zauber intonierte:
Vas Rel Por!
Flimmernd erhob sich das Portal aus dem Erdreich und beinahe zeitgleich spürte Vyktorya die herrliche Ankunft des Kristalls, welcher sich Stück für Stück aus dem Portal – welches sich dank ihrer Vorarbeit nun direkt unter seinem Sockel öffnete – hervorschälte.
Einem inneren Impuls folgend, schlüpfte Vyktorya – kaum dass der Kristall nun auf dieser Seite angekommen war – durch das Portal und lächelte zufrieden, als sie in die verdutzten und verängstigen Gesichter der beiden Wachen blickte. Sie hatten selbstverständlich bemerkt, wie sich das leuchtende Portal in der Dunkelheit öffnete und die schlechte Energie des Kristall schlagartig verblasste. Daher waren sie törichterweise näher gekommen. Ah… ihr Pech… denn als sie in das gehörnte Antlitz der Legionärin blickten, hüllten die schattenhaften Blitze ihrer Aura sie bereits ein und eine betörende wiederhallende Stimme drang befehlend in ihr Ohr: „Kommt zu mir…folgt der Legion!“
Es war ein kurzer, kräftiger Schups durch das sich beinahe schon schließende Portal und beide gestandenen Nordhainer Bürgerwachen stürzten direkt auf die glatte Oberfläche des Kristalls. Hinter ihnen schälte sich aus den letzten Resten der Portalenergie die Gestalt der Legionärin. Die Schreie der beiden Männer, die von der dunklen Macht der Kristalle gequält wurden, lockten natürlich die ersten Greifen an, doch Vyktorya hatte nicht vor hier zu lange mit den neuen Soldaten zu verweilen. Während diese noch verwirrt waren, von dem was passierte, packte sie diese am Kragen und warf sie schlicht durchs nächste Portal, in das sie sogleich nachfolgte, um es von der anderen Seite mit einer Mauer zu verschließen.
Sie fanden sich in der Vergessenen Bucht wieder, dort wo ein morscher alter Steg ins Meer reichte, umschlossen von den massiven Gebirgen im Osten des Kontinents. Von hier gab es für die beiden frisch Korrumpierten kein Entrinnen. Sie hatten nur die Wahl zwischen dem offenen Meer… oder der Legionärin, die ihnen den einzigen Weg durch den Bergpass versperrte. Hier würde sie ausharren, im Geiste nach Jerka rufen, um die beiden neuen Soldaten abzuholen. Sie direkt ins Lager zu bringen war zu gefährlich. Zum einen wusste sie nicht, welche Mittel die Greifen verfügten, um Portale zu verfolgen. Zum anderen konnte sie nicht sicher sein, ob die kurze Berührung ausreichte. Bis dahin würde sie ein wenig Spaß mit den beiden haben… und sich den ein oder anderen Schluck Nordblut gönnen…
Ein grausames Lächeln umspielte ihre Lippen, während die Schattenblitze um ihren Leib zuckten. Jerka würde gewiss zufrieden sein…