Abhandlungen über den Glauben

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Bernard de Molay
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Abhandlungen über den Glauben

Beitrag von Bernard de Molay »

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Das oberste Gebot
 
Die Heiligkeit des Lebens – Ein Eid im Lichte der Tugenden
Der Herr, Ursprung allen Seins, Quelle von Licht und Ordnung, hat mit seinem göttlichen Atem den Funken des Lebens in die Schöpfung getragen. Er formte sie nicht aus Zufall, noch ließ er sie im Chaos verweilen, sondern bestimmte jedem Geschöpf seinen Platz, jedem Wesen seine Aufgabe. Kein Leben ward aus Willkür gezeugt, kein Dasein ohne Sinn gelassen. Denn das Leben selbst, unantastbar und geheiligt durch seine göttliche Gnade, ist das erste Geschenk, das den Sterblichen zuteilwird, und das letzte Gut, das in ihren Händen liegt – ein Pfand von unschätzbarem Wert, das ihnen nur geliehen ist, damit sie es wahren, nicht verderben.
 
So ward den Dienern des Lichts – den Paladinen, den Priestern, den Streiterinnen und Streitern des Herrn, die seine Tugenden auf Erden tragen – ein heiliges Gebot auferlegt:

 
„Schütze das unschuldige Leben mit all deiner Kraft, denn es ist das erste Opfer der Dunkelheit und der letzte Preis der Gerechtigkeit.“


 
Doch wie ein Schwert, das in der Schmiede gehärtet wird, ist dieser Eid nicht ohne Prüfung, und so führen uns die Tugenden, geformt von den Aspekten, auf jenen schmalen Pfad zwischen Licht und Finsternis.
 
 
Das Licht und seine Prüfung – Der schmale Pfad der Tugenden
Die Rechtschaffenheit, das unerschütterliche Fundament göttlichen Wirkens, in dessen Mantel der Glaube gehüllt ist, gebietet, dass der Streiter des Lichts nicht zaudert, wo Unschuld in Gefahr gerät. Sie fordert Entschlossenheit, dass die Hand nicht zögert, wo eine Tat das Verderben abwendet. Doch wo liegt die Grenze zwischen Gerechtigkeit und Vergeltung, wenn ein Feind gefallen ist und kein weiteres Unheil mehr wirkt? Wann wird der gerechte Streich, der das Böse richtet, zur Sünde, weil er nicht mehr Notwendigkeit, sondern Vergeltung ist? Die Rechtschaffenheit mahnt, stets das Richtmaß des Herrn anzulegen, doch was, wenn das Herz zögert und kein menschlicher Blick das Maß der Schuld zu fassen vermag?
 
Die Gerechtigkeit, das Gleichmaß der göttlichen Ordnung, gebietet, dass kein Urteil in Zorn, keine Strafe in Eifer gesprochen werde. Gabriel lehrt, dass wahre Gerechtigkeit keine Augen verschließt, weder vor Schuld noch vor Gnade. Doch wenn das Recht den Täter schützt und die Unschuld zum Opfer macht, wenn eine Regel gebrochen werden muss, um ein Leben zu retten – was ist dann die wahre Gerechtigkeit? Ist ein Gesetz heilig, wenn es zur Kette wird, die die Hände des Gerechten bindet? Und was, wenn ein Unschuldiger geopfert wird, weil das Recht keine Ausnahme erlaubt? Ist es dann noch Gerechtigkeit oder bereits Verrat am Licht?
 
Die Ehre, die goldene Fessel der Disziplin, mahnt, dass ein Schwur nicht gebrochen, ein Gebot nicht leichtfertig missachtet werden darf. Sie erhebt den Streiter des Herrn über List und Betrug, über Unredlichkeit und Feigheit. Doch wenn der Schutz eines Einzelnen das Leben vieler gefährdet, wenn das Gesetz, das die Ehre verlangt, mit dem höheren Gebot des Schutzes kollidiert – wo wiegt die Pflicht schwerer? Was, wenn der heilige Eid einen Paladin zwingt, einen Feind zu verschonen, der sich nur kurz darauf erhebt, um abermals zu morden? Ist es ehrenvoll, ihn zu verschonen, oder bedeutet es, die Unschuld dem Schwert zu überlassen? Kann es eine Ehre geben, die das Licht verrät?
 
Das Mitgefühl, geboren aus Barchiels Weisung, mahnt, dass ein Leben nicht allein durch das Schwert bewahrt wird, sondern durch Gnade und Vergebung. Die sanfte Stimme des Herrn spricht nicht nur in den Kampfesrufen, sondern auch im geflüsterten Wort der Heilung, im ausgestreckten Arm des Erbarmens. Doch was, wenn ein Herz sich der Läuterung verschließt, wenn der Täter nur darauf wartet, erneut Unschuldige zu zerreißen? Ist es dann Mitgefühl oder Torheit, ihm Leben zu gewähren? Ist es eine Tat der Güte, ihn zu verschonen, oder eine Unterlassung, die dem Dunkel dient? Wann wird Mitgefühl zur Schwäche, und wann ist die Gnade das Werkzeug des Herrn?
 
Die Tapferkeit, die Flamme Trithemius’, befiehlt, dass Furcht keinen Platz im Herzen eines Gläubigen finden darf. Der Streiter des Lichts weicht nicht zurück, selbst wenn das Böse in schrecklicher Macht vor ihm steht. Doch in der Schlacht, wenn der Feind die Unschuldigen als Schutzschild missbraucht, wenn jeder Streich, der das Böse niederwerfen soll, zugleich Unschuld trifft – soll die Klinge ruhen oder der Feind fallen? Ist es tapfer, das Schwert zu führen, wissend, dass es Leid verursacht, oder ist es tapferer, sich dem eigenen Zorn zu widersetzen und einen anderen Weg zu suchen? Kann es Feigheit sein, ein Opfer zu vermeiden, oder ist es Feigheit, Unschuld zu opfern, weil die eigene Kraft nicht ausreicht, um beides zu bewahren?
 
Die Demut, die stille Tugend Noaphiels, lehrt, dass kein Sterblicher allwissend, kein Streiter des Lichts unfehlbar ist. Sie bewahrt vor Hochmut, vor dem trügerischen Gedanken, dass ein Mensch den Willen des Herrn vollkommen erfassen könnte. Doch wenn die Zeit zur Entscheidung drängt, wenn die Wahl zwischen Opfer und Schuld in wenigen Herzschlägen getroffen werden muss – kann Demut dann noch ein Führer sein oder wird sie zum Zaudern? Ist es Demut, sich einzugestehen, dass man falsch liegen könnte, oder ist es Schwäche, wenn man sich vor der Entscheidung fürchtet? Was, wenn die Zeit nicht erlaubt, zu beten, nicht zulässt, Rat zu suchen? Wann ist Demut eine Stärke, und wann wird sie zur Fessel, die den Gerechten hindert, das Richtige zu tun?
 
Das Opfer, Nenamiahs Vermächtnis, ist die höchste Gabe des Glaubens, die Bereitschaft, sich selbst aufzugeben, um anderen Leben zu schenken. Kein Paladin darf zögern, sein eigenes Wohlergehen hinter das seiner Brüder und Schwestern zu stellen, keine Priesterin darf scheuen, sich für das Heil der Gemeinde zu verzehren. Doch ist jedes Opfer heilig? Ist es richtig, das eigene Leben zu geben, wenn damit viele andere ins Verderben gestürzt werden? Ist es edel, zu fallen, wenn niemand mehr übrig bleibt, um den Kampf zu führen? Wann ist das Opfer ein Beweis des Glaubens, und wann ist es nur eine Flucht vor der schwereren Last des Überlebens?
 
Die Spiritualität, das Band zwischen den Gläubigen und dem Herrn, erinnert daran, dass keine Tugend für sich allein steht. Sie bindet Rechtschaffenheit an Mitgefühl, Gerechtigkeit an Opfer, Ehre an Demut. Und doch – wenn ein Moment kommt, in dem keine Tugend genügt, kein Gebot den rechten Weg weist, wenn sich Licht gegen Licht stellt, wenn Brüder im Glauben auf entgegengesetzten Seiten stehen, wenn eine Wahl getroffen werden muss, die keine Wahl sein darf – dann bleibt nur der Glaube selbst. Ein Glauben, der nicht im Buchstaben, sondern im Geist lebt. Ein Glauben, der nicht Regeln befolgt, sondern nach dem höheren Sinn der Tugenden strebt. Ein Glauben, der in der dunkelsten Stunde den einzigen Weg weist: den Weg des Herrn, unklar, unergründlich, und doch allein richtig.
  
 
Ein Konflikt der Tugenden – Die Entscheidung eines Paladins
So stehen sie, die Streiter des Herrn, oft an jenen Scheidewegen, wo keine Antwort ohne Preis ist, wo jedes Urteil zugleich ein Vergehen an einer Tugend bedeutet. Hier, wo das Licht selbst von Schatten durchzogen scheint, liegt die wahre Prüfung des Glaubens – nicht in der Schlacht, nicht im Kampf der Klingen, sondern in der Entscheidung, die getroffen werden muss, wo kein Weg rein bleibt.
 
Betrachte nun jenen Paladin, dessen Herz schwer wie sein Harnisch ist, dessen Blick über ein Dorf wandert, das in den Fängen der Finsternis liegt. Seine Bewohner sind nicht nur Gefangene, sie sind lebende Schilde, gebunden an den Willen eines dunklen Magiers, der hinter diesen Mauern lauert, bereit, sein verderbtes Werk zu vollenden. Jeder Atemzug, den der Paladin zögert, ist ein gewonnener Moment für das Böse – ein Moment, in dem Unschuldige ihrer Seelen beraubt werden, ein Moment, in dem Licht in Dunkelheit stürzt.
 
Rechtschaffenheit befiehlt ihm, den Erzfeind des Guten niederzuwerfen, denn er ist der Architekt des Verderbens, der das Geschenk des Lebens verhöhnt und seine Macht missbraucht. Der Glaube an das Gesetz des Herrn verlangt, dass Gerechtigkeit nicht aufgeschoben, sondern vollzogen wird. Doch Ehre flüstert eine Warnung – er darf sich nicht auf das gleiche schändliche Niveau begeben. Unschuldige zu opfern, selbst wenn es dem Sieg dient, wäre eine Schande, eine Makel auf seinem Glauben, eine Sünde, die sein Geist nie mehr tilgen könnte.
 
Mitgefühl drängt ihn, nach einer anderen Lösung zu suchen. Kann es einen Ausweg ohne Blutvergießen geben? Eine List, eine Verhandlung, ein Wunder, das die drohende Katastrophe abwendet? Doch Tapferkeit schreit nach Handlung. Denn jedes Zögern, jede Suche nach einem friedlichen Pfad, raubt jenen in Ketten ihre letzten Augenblicke. Der Feind wird nicht warten. Der Feind wird nicht zaudern. Und wenn der Moment des Zögerns zu lange währt, wird es keine Seelen mehr geben, die er retten kann.
 
Demut mahnt, dass selbst ein Paladin nicht allwissend ist. Dass kein Sterblicher mit Sicherheit sagen kann, was die Zukunft bringt. Ist dies eine Prüfung, in der der Herr eine dritte Lösung bereithält? Oder ist es Feigheit, auf ein Wunder zu hoffen, wo eine Entscheidung gefordert wird?
 
Doch was, wenn es keine dritte Lösung gibt? Was, wenn der Magier im nächsten Moment sein Werk vollendet, die Seelen der Gefangenen in Dunkelheit reißt, und kein Gebet, keine Bitte, kein göttlicher Beistand sie je wieder zurückbringen kann?
 
Was ist gerechter – eine Sünde zu begehen, um viele Leben zu retten, oder dem Gesetz der Tugend treu zu bleiben und damit die Unschuldigen ihrem Schicksal zu überlassen?
 
Und so steht der Paladin dort, gefangen zwischen Tugend und Opfer, zwischen Reinheit und Schuld. In seinen Händen ruht nicht nur das Schwert, sondern das Schicksal aller, die noch atmen.
 
Wie ein Wanderer, der einen zerklüfteten Abgrund erreicht, und die Brücke, die ihn ans andere Ufer führen könnte, in Flammen steht. Geht er hindurch, wird er brennen, und das Feuer wird ihn zeichnen – vielleicht für immer. Doch bleibt er stehen, wird er mit ansehen, wie jene, die auf ihn hoffen, ins Dunkel stürzen.
 
Was ist der richtige Weg? Und wenn es keinen gibt – ist es dann allein der Glaube, der ihn trägt?
  
Die Antwort im Licht
Und dann handelt er – nicht aus Zorn, nicht aus Zweifel, nicht aus Hochmut oder Eifer. Er handelt aus der tiefen Überzeugung, dass es nur einen Weg gibt, der wahrhaft im Lichte des Herrn steht: Der Schutz der Unschuldigen geht über jede Regel, über jedes Gesetz – ja, selbst über die Reinheit der eigenen Seele hinaus.
 
Denn was sind Tugenden wert, wenn sie zum Tode der Unschuldigen führen? Was ist Ehre, wenn sie verlangt, den Schwur des Schutzes zu brechen? Was ist Gerechtigkeit, wenn sie in Untätigkeit endet, weil das Gesetz keine Ausnahme zulässt? Was ist Tapferkeit, wenn sie befiehlt, das Schwert ruhen zu lassen, obwohl es das einzige ist, das die Unschuldigen retten kann? Und was ist Demut, wenn sie ihn daran hindert, sich gegen den Willen der Tugenden selbst zu stellen, um das heiligste Gebot zu wahren?
 
Ja, die Tugenden sind das Fundament des Glaubens, doch wenn sie in einem Moment der Entscheidung den Schutz der Unschuld nicht mehr gewährleisten, dann müssen sie weichen.
 
Seine Klinge fällt – nicht mit Hass, nicht mit Rachsucht, sondern mit der vollen Last der Verantwortung. Er weiß, dass sein Handeln gegen den Kodex verstößt. Dass sein Name unter den Seinen mit Zweifel bedacht werden könnte. Doch kein Zweifel ist größer als der, in den Augen der Unschuldigen zu sehen, dass er sie ihrem Schicksal überlassen hat. Das wäre der einzige wahre Verrat am Licht.
 
Und so spricht er, während er handelt, mit fester Stimme, nicht für sich, sondern für jene, die gerettet werden müssen:

 
„Lass nicht zu, dass das Dunkel die Unschuld verschlingt, wenn du die Kraft hast, es zu verhindern – koste es, was es wolle.“

 
Und in diesem Moment – inmitten von Zweifel und Pflicht, von Gesetz und Glauben – liegt die wahre Prüfung eines Dieners des Lichts nicht in der Unerschütterlichkeit seines Kodex’, sondern in der Bereitschaft, ihn zu brechen, wenn der Herr es verlangt. Denn kein göttliches Gebot ist so rein, keine heilige Regel so unverrückbar, dass sie den Schutz der Unschuld überragen könnte.
  

Nachwort
Diese Wahrheit lastet schwer auf den Schultern der Gerechten, doch sie ist die Bürde derer, die den Weg des Lichts gehen. Ein Paladin, ein Priester, ein Streiter des Herrn darf nicht allein auf die Buchstaben der Tugenden vertrauen, sondern muss verstehen, dass sie alle zusammen das Fundament einer größeren Wahrheit bilden.
Denn die Tugenden sind wie die Strahlen der Sonne – einzeln werfen sie Schatten, doch vereint geben sie das Licht, das die Dunkelheit vertreibt.
  
 
In fide et lumine ambulamus – Im Glauben und im Licht wandeln wir.
 
Bernard de Molay
 
Zu finden in der Bibliothek zu Solgard
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Bernard de Molay
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Re: Abhandlungen über den Glauben

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A’Groniam de Surom – Die Lehre des Gefallenen
 „Ein Schwert im Dienste des Herrn kann ebenso zerschneiden wie ein Schwert, das sich gegen ihn erhebt. Doch der Unterschied liegt nicht in der Klinge – sondern in der Hand, die sie führt.“
  

 I. Das Erbe der Verdammnis – Ein Kind des Namenlosen unter dem Licht des Herrn
 „Kein Mensch wird in das Licht des Herrn geboren – er muss es wählen. Doch ebenso wenig wird jemand als Verräter geboren – er muss es werden.“
 
A’groniam de Surom, Sohn des gefallenen Barons Guiraudet de Surom, war ein Kind der Finsternis, bevor er das Licht des Herrn sah. Sein Name war geprägt von Blut, sein Erbe getränkt in Sünde. Er war geboren inmitten des Verderbens, in jener Stadt, die der Welt als Hochburg des Namenlosen bekannt war. Surom – ein Reich, in dem das Wort des Herrn nicht mehr erklang, ein Ort, an dem Recht nur galt, wenn es durch Klingen erzwungen wurde, und an dem Macht über Leben und Tod in den Händen derer lag, die sich ihres Willens am stärksten bedienten.
Dort, in den Schatten der Paläste, die mit Gold geschmückt, aber mit Blut errichtet worden waren, hatte er seine ersten Schritte getan. Die Straßen, gepflastert mit den Knochen jener, die nicht stark genug gewesen waren, zeigten ihm, was es bedeutete, ein Sohn Suroms zu sein. Die Gesichter der Unterdrückten, die geduckten Gestalten der Sklaven, die Stimmen derer, die nur noch in Flüstern zu sprechen wagten – all das war der Atem, der diese Stadt erfüllte.
Sein Vater, Baron Guiraudet de Surom, war ein Mann ohne Gnade, ein Herrscher, der nicht regierte, sondern befahl. Ein Tyrann, der seine Herrschaft nicht durch Recht, sondern durch Angst aufrechterhielt. Seine Feinde waren zahlreich, doch keiner erhob sich gegen ihn – denn jene, die es wagten, waren längst verstummt. Er führte die Stadt mit eiserner Hand und einer Klinge, die immer nach Blut dürstete.
Doch der Herr hatte Surom nicht vergessen.
Als die Paladine des Lichts durch die Tore brachen, als das Banner des Herrn über den Ruinen der Hochburg des Namenlosen wehte, als das unheilige Land, das Generationen der Finsternis gedient hatte, endlich in göttlichem Feuer gereinigt wurde, fand der Tyrann sein Ende. Sein Schwert, das einst so sicher in seiner Faust gelegen hatte, war ihm nichts mehr wert, als die göttliche Gerechtigkeit über ihn kam. Es gab keine Flucht, keine Gnade, kein Verhandeln. Sein Urteil war gesprochen, und sein Name wurde mit seinem Blut auf den Steinen Suroms ausgelöscht.
Und der Sohn?
Er weinte nicht.
Kein Wort des Protests verließ seine Lippen, kein Schrei der Wut entrang sich seiner Kehle. Er blickte auf das, was von seinem Vater blieb, und doch lag in seinen Augen keine Trauer, keine Verzweiflung – sondern nur Schweigen. Ein Schweigen, das tiefer war als jeder Eid, kälter als jede Rache, stärker als jedes Wort.
Der Herr kennt die Prüfungen, die das Schicksal eines Mannes bestimmen. Er weiß, wann ein Herz verloren ist – und wann es gerettet werden kann. Und so ließ er den Sohn des Verderbten nicht in der Dunkelheit zurück.
Denn ein Kind der Finsternis kann das Licht tragen, wenn es danach greift.
So wurde A’groniam nicht gerichtet, sondern geprüft. Statt Verdammnis erhielt er Läuterung – statt dem Tod das Leben. Der große Paladin Serafim Sala, ein Streiter des Herrn, nahm ihn unter seine Obhut. Doch nicht aus Mitleid, nicht aus Schwäche. Nicht weil er glaubte, der Junge brauche Erbarmen – sondern weil er Hoffnung sah. Denn wer könnte besser das Licht des Herrn tragen als jener, dessen Erbe aus Schatten gewoben war?
A’groniam wurde in den Tugenden des Herrn unterwiesen.
Serafim lehrte ihn das Schwert zu führen, doch mehr noch, er lehrte ihn, warum es geführt werden musste. Der Kampf für das Gute war kein Streben nach Ehre, kein bloßes Richten der Schuldigen. Es war eine Pflicht. Ein Opfer. Eine Bürde, die nur die Stärksten zu tragen vermochten. Nicht der Stärkste im Körper, nicht der Schnellste mit der Klinge, nicht der Kühnste in der Schlacht – sondern der Stärkste im Glauben.
Serafim sah, wie sein Schüler wuchs, wie er stärker wurde – nicht nur in seinem Arm, nicht nur in seiner Kunst mit der Klinge, sondern auch in seinem Herzen.
Doch schon in diesen Tagen keimte in ihm etwas anderes.
A’groniam kämpfte mit glühendem Eifer. Sein Schwert fand seine Feinde mit unnachgiebiger Härte. Wo andere zögerten, führte er seinen Streich zu Ende. Wo andere sich fragten, ob das Urteil gerecht war, vollstreckte er es ohne Zweifel. Seine Taten sprachen für ihn – und doch sprachen sie nicht die Sprache der Tugend.
Jeder Streich seiner Klinge war ein Urteil, jeder Feind, der fiel, ein Beweis für seine Hingabe. Doch war es Hingabe an den Herrn? Oder war es etwas anderes, das ihn antrieb?
Ein Funke, den niemand sah.
Ein Schatten, den niemand bemerkte.
Eine Stimme, die flüsterte.
Nicht laut. Nicht befehlend. Nicht drängend.
Nur ein Flüstern.
Und er hörte zu.
  
  
 II. Die Flamme des Stolzes – Der Pfad zur Finsternis
 „Der wahre Feind des Gerechten ist nicht die Finsternis, sondern der Stolz. Denn Stolz ist die Maske der Tugend, hinter der sich Verderbnis verbirgt.“
 
Der Herr prüft seine Diener nicht durch Gnade, sondern durch Opfer. Wer das Licht trägt, muss durch das Feuer gehen, um seine Reinheit zu beweisen. Wer im Glauben wandelt, wird geprüft, damit seine Schritte nicht fehlgeleitet sind. Und A’groniam wurde geprüft.
Die Mauern der letzten Bastion der Wächterpriester erbebten unter dem Ansturm der Paladine. Die Schreie der Sterbenden hallten durch die von Rauch und Asche erfüllten Hallen, während heilige Schwerter durch das Fleisch jener fuhren, die ihr Leben dem Namenlosen verschrieben hatten. Es war keine Schlacht mehr – es war die letzte Auslöschung. Der Tempel des Belial, einst ein Ort finsterer Anbetung, der mit Blut geweiht worden war, wurde nun zur Bühne des göttlichen Zorns. Die Finsternis, die dort wurzelte, sollte an diesem Tag entwurzelt und in Staub zertrümmert werden.
A’groniam stürmte an der Seite Serafims durch die zerschlagenen Pforten. Sein Schwert war eine Flamme, seine Klinge eine Bestie, die sich nach Sühne sehnte. In den Schatten der hohen Säulen, hinter den uralten Mosaiken, in den Hallen der Verdammnis, erhoben sich die letzten Verteidiger. Dämonen, in Beschwörungen gerufen, warfen sich ihnen entgegen, ihre Klauen durchbohrten die Rüstungen der schwächeren Paladine, zerrissen Fleisch, während schwarze Magie durch die Luft flackerte und Wände aus finsterem Feuer errichtete. Die Wächterpriester standen inmitten des Chaos, murmelten Gebete an ihren ketzerischen Herrn, ihr Antlitz verzerrt in grausiger Ekstase.
Doch nichts konnte A’groniam und Serafim aufhalten. Mit der Kraft des Herrn durchbrachen sie die Dunkelheit. Dämonische Schutzkreise brachen in sich zusammen, als A’groniam mit wütenden Schlägen die Linien der Wächter zerschmetterte. Blut, das den Altar des Belial befleckt hatte, tropfte nun von seinen Stiefeln. Dämonen kreischten, als Serafim ihnen mit unnachgiebiger Gerechtigkeit begegnete, ihre finsteren Formen zerbarsten unter den heiligen Klingen.
Kein Feind blieb ihnen stand. Keines der Monster hielt lange genug, um noch ein Gebet an den Namenlosen zu richten. Der Boden des Tempels war rot getränkt, die Luft schwer vom Gestank der Verlorenen. Es war das Werk der Paladine, das Werk der Tugend, das Werk des Herrn.
Doch dann, als die letzten Schreie verklungen waren und der Rauch sich in den geborstenen Fenstern fing, stand er vor ihnen.
Der letzte Priester.
Ein alter Mann, gebeugt von der Last seines Lebens, doch nicht von Reue, nicht von Zweifel. Seine Gestalt war mager, doch die Dunkelheit um ihn war schwer. Tief in seine Stirn gebrannt leuchtete das Mal des Namenlosen, ein uraltes Symbol der Verderbnis. In seinen toten Augen lag kein Flehen um Gnade, kein Zittern vor dem Ende. Er stand auf den Stufen des Altars, den Blick in die Weite gerichtet, als könne er etwas sehen, das die Paladine nicht wahrnahmen.
Er war nicht einfach ein Diener der Finsternis. Er war ein Teil von ihr.
Sein Leben war nichts als Schuld. Sein ganzes Sein eine Wunde im Gefüge der Schöpfung.
Sein Tod sollte Gerechtigkeit sein.
Serafim trat vor, die Flammen seines Schwertes tanzten auf der Klinge, bereit, die Verderbnis mit einem einzigen Streich auszulöschen. Ein Hauch der göttlichen Kraft lag in der Luft, als der Paladin sein Urteil vollstrecken wollte.
Doch noch bevor sein Schwert niederging – hob A’groniam das Seine.
Die Klinge des einstigen Schülers fing die des Mentors ab. Ein Funkenregen zischte über den Altar, ein Moment des Stillstands, in dem die Luft selbst zu gefrieren schien.
Es war kein Zögern.
Kein Zweifel.
Es war ein Entschluss.
A’groniam stand nicht mehr mit Serafim. Nicht mehr mit dem Herrn. Nicht mehr mit den Tugenden.
Sein Schwert hatte entschieden.
Und mit diesem Hieb, mit dieser einen Entscheidung, mit diesem einzigen Moment, in dem er sich gegen das Urteil des Herrn stellte, begann sein Fall.
  
  
 III. Der Verrat offenbart sich
 „Wer das Licht des Herrn verlässt, glaubt oft, einen anderen Weg zu gehen. Doch er geht nicht – er fällt.“
 
Der Kampf zwischen Serafim und A’groniam entfaltete sich wie ein Sturmbeben in der Halle des gefallenen Tempels. Die Klingen trafen aufeinander mit der Wucht zweier unaufhaltsamer Kräfte, Licht gegen Dunkelheit, Tugend gegen Stolz. Serafim, durch Jahre der Disziplin und des Glaubens gestählt, führte sein Schwert mit der Präzision und Reinheit eines Paladins. Jeder Hieb war durchdacht, gelenkt von der Gerechtigkeit des Herrn, jede Bewegung entsprang nicht nur seinem Können, sondern auch der göttlichen Führung, die ihm innewohnte.
Doch A’groniam, einst sein Schüler, kämpfte mit etwas anderem. Seine Schläge waren nicht weniger präzise, doch es war eine andere Kraft, die ihn antrieb. Nicht die Klarheit des Glaubens, sondern die Unbeugsamkeit des Stolzes. In seinen Bewegungen lag keine Spur von Zurückhaltung, keine Momente der Besinnung. Wo Serafim sich des Zweifels bediente, um sich zu prüfen, kannte A’groniam nur Gewissheit. Wo der Paladin aus Demut seine Klinge führte, ließ sich A’groniam von seinem eigenen Willen treiben.
Die Halle erbebte unter den Schlägen ihrer Schwerter, als ob die Mauern selbst die Tragweite dieses Duells erkannten. Funken sprühten, als Stahl auf Stahl prallte, und der Boden unter ihnen trug bereits die Zeichen des heiligen und unheiligen Kampfes. Serafim kämpfte nicht nur mit seiner Waffe, sondern mit seiner Seele, ringend mit der Erkenntnis, dass der einstige Schüler, den er in die Tugenden des Herrn eingeführt hatte, nun gegen ihn stand.
Mit jedem weiteren Schlag wurde jedoch deutlich, dass A’groniam nicht allein kämpfte. Eine tiefe, ungreifbare Präsenz legte sich auf den Raum, zunächst nur als kaum wahrnehmbares Frösteln, als eine unerklärliche Schwere in der Luft. Doch es war mehr als das. Etwas regte sich in den Schatten, nicht als Gestalt, sondern als eine Macht, die sich von der Schwäche nährte, die A’groniam in sich trug – die Zweifel, die er einst verleugnet hatte, die Wut, die er kultiviert hatte, der Stolz, der in ihm zum Flammenturm geworden war. Und mit jedem Hieb, den er führte, mit jedem Moment, in dem er sich weiter von Serafim entfernte, griff diese Macht nach ihm.
Die Dunkelheit begann sich um seine Gestalt zu winden, kaum sichtbar im ersten Moment, nur ein leichtes Flimmern um seinen Körper. Doch sie nahm zu, sammelte sich, pulsierte in den Bewegungen seiner Klinge. Es war, als ob jede Faser seines Wesens für diesen Moment vorbereitet worden war, als ob etwas, das lange in ihm geruht hatte, nun endlich erwachte.
Serafim erkannte es. Er sah, dass die Finsternis sich nicht nur an A’groniam heftete – sie wurde ein Teil von ihm. Wo seine Klinge zuvor noch aus reiner Kraft und Technik geführt wurde, floss nun eine andere Essenz durch sie, eine, die nicht aus der Disziplin des Schwertes entsprang, sondern aus einer Quelle jenseits der sterblichen Welt. Der Kampf, der bis dahin zwischen zwei Männern aus Fleisch und Blut ausgetragen worden war, wandelte sich. A’groniam war kein einfacher Krieger mehr, sondern ein Gefäß für etwas, das sich nach der Welt streckte.
Dann kam die Wandlung.
Die Luft riss auf wie unter einem unsichtbaren Schnitt, und aus der Leere kroch eine Schwärze, die kein natürliches Licht reflektierte. Es war keine bloße Finsternis, sondern etwas anderes – eine lebendige, atmende Präsenz, die sich auf A’groniam herabsenkte wie ein Mantel aus purer Verdammnis. Der Raum selbst schien sich um ihn zu verziehen, als ob die Realität selbst sich gegen seine Anwesenheit aufbäumte.
Mit diesem Moment war der Kampf entschieden. Nicht durch einen einzelnen Schlag, nicht durch einen plötzlichen Sieg, sondern durch die unausweichliche Erkenntnis: A’groniam hatte seine Wahl getroffen. Und die Finsternis hatte ihn erhört.
Sein Schwert veränderte sich. Die einst makellose Klinge, die einst das Licht des Herrn gespiegelt hatte, wurde schwarz wie polierter Obsidian, durchzogen von feinen Linien pulsierender Dunkelheit, als hätte sich etwas in das Metall selbst eingeschrieben. Seine Rüstung, einst geprägt vom Symbol des Herrn, wirkte nun fremdartig, als hätte sie sich der neuen Macht ihres Trägers angepasst.
Doch es war nicht nur seine Gestalt, die sich wandelte. Es war sein Wesen. A’groniam war nicht länger ein Mensch, wie er es zuvor gewesen war. In seinen Adern floss nun nicht mehr nur sterbliche Kraft, sondern eine Macht, die über den natürlichen Zustand der Welt hinausging.
Es war in diesem Moment, dass der Namenlose ihn für sich beanspruchte.
Die Schatten um ihn verdichteten sich, formten einen dunklen Nimbus, der ihn von der Welt trennte, während etwas Uraltes, etwas Jenseitiges seine Essenz berührte. Es war keine sanfte Berührung, sondern eine, die Besitz ergriff. Es gab keinen Widerstand. A’groniam war bereit gewesen, diesen Pfad zu gehen, und nun gehörte er ihm.
Die Finsternis sprach nicht in Worten, sondern in einer tiefen, lautlosen Offenbarung, die jede Faser seines Seins durchdrang. Sie war keine Bitte, keine Forderung – sie war ein Versprechen. Ein Versprechen von Stärke. Von Macht. Von etwas, das jenseits der Begrenzungen lag, die Serafim ihm einst auferlegt hatte.
Und A’groniam nahm es an.
Von diesem Moment an war er kein Diener des Herrn mehr. Er war kein Paladin mehr. Kein Mann mehr, der zwischen Licht und Schatten wandelte. Er war nicht gefallen – er war übergetreten.
Er war ein Erwählter der Finsternis.
  
  
 IV. Der Schatten kehrt zurück – Der falsche Thron
 „Der Herr prüft nicht nur die Gläubigen, sondern auch jene, die sich gegen ihn erheben. Denn wer einst gefallen ist, mag zurückkehren – aber nicht, um zu herrschen, sondern um das Gericht zu empfangen.“
 
A’groniam fiel. Er fiel nicht durch das Schwert eines Sterblichen, nicht durch List oder Verrat, sondern durch das unausweichliche Urteil des Herrn. Sein Leib, einst ein Instrument des Kampfes, brach unter der Macht des Lichtes. Sein Geist, einst gestählt durch den Hochmut, sank in die Dunkelheit, aus der er einst gehoben worden war. Der Name A’groniam de Surom wurde in den Hallen der Gerechten nicht mehr gesprochen, und seine Taten wurden zu einem Flüstern in den Chroniken – nicht als Lobpreis, sondern als Warnung.
Doch der Namenlose, der Gefesselte, der Verfluchte in den Schatten, hat keinen Bedarf an Helden.
Er hat nur Bedarf an Werkzeugen.
Und so wurde A’groniam nicht vergessen.
Nicht, weil er es wert war. Nicht, weil er unersetzlich war. Sondern weil der Hochmut, der ihn hatte fallen lassen, noch immer in ihm brannte – und Hochmut ist die Fessel, mit der der Namenlose bindet.
Als die Welt ihn für verloren hielt, wurde er in der Dunkelheit neu geschmiedet. Sein Leib, der unter dem Zorn des Herrn gefallen war, wurde erneut aufgerichtet, doch er war nicht mehr, was er einst war. Seine Seele, die einst dem Licht entgegenstrebte, war nun in Ketten gelegt, nicht von Eisen, sondern von dem Willen des Namenlosen selbst.
Er wurde kein Befreiter – sondern ein Werkzeug.
Und mit ihm kehrte Surom zurück.
Eine Stadt aus Stein und Mauern, nicht aus jenen Ruinen, die der Zorn des Herrn einst ausgelöscht hatte. Sondern als Idee, als trügerische Wiedergeburt jener Verderbnis, die einst das alte Surom beherrschte. Das neue Surom ist kein Ort mit den Fundamenten der Vergangenheit – es ist ein Reich aus Schatten, errichtet auf den Seelen der Verführten, die glauben, im Namen A’groniams einen neuen Pfad zu beschreiten.
Doch A’groniam ist kein Herrscher.
Er ist ein Gebundener.
Sein Schwert, einst eine Klinge der Gerechtigkeit, ist nun eine Waffe der Dunkelheit, und sein Schild, einst ein Zeichen des Schutzes, ist zu einem Symbol des Zwangs geworden. Doch am gefährlichsten ist nicht die Waffe in seiner Hand, sondern die Stimme, die aus ihm spricht – nicht die seine, sondern die seines Meisters.
Er spricht nicht in den tobenden Rufen eines Besessenen, nicht mit dem zornigen Eifer eines Predigers, sondern mit der Ruhe eines Mannes, der glaubt, den wahren Weg gefunden zu haben. Er spricht von Stärke, wo einst Demut lag. Von Macht, wo einst Gerechtigkeit wachte. Von Herrschaft, wo einst Treue war.
Und die Gebrochenen hören ihm zu.
Die Zweifelnden, die Wankenden, die Verlorenen – sie sehen in ihm keinen Besiegten, sondern einen, der den Tod überwunden hat. Sie sehen nicht die Ketten an seinen Händen, sondern nur die Waffen, die er führt. Sie sehen nicht den Abgrund, an dessen Rand sie wandeln – sie sehen nur den Pfad, den er weist.
Und so wächst das neue Surom.
Nicht aus Stein, sondern aus Wahnsinn. Nicht aus Fundamenten, sondern aus Lügen.
Dort, wo einst die Tempel der Verderbnis standen, errichten sie neue Schreine – nicht für den Herrn, sondern für die Stimme, die aus den Schatten spricht. Dort, wo einst Blut vergossen wurde, wird es erneut vergossen – nicht für Gerechtigkeit, sondern für Hochmut. Und über all dem, über diesem Reich der Verblendeten, steht A’groniam, in schwarzer Rüstung, mit einem Schwert, das kein Licht mehr reflektiert.
Er steht dort, nicht als Mensch.
Nicht als Herrscher.
Nicht als Befreiter.
Sondern als Prophet der Finsternis.
  
  
 V. Die wahre Bedeutung seines Falls
 „Jene, die sich von A’groniam führen lassen, sehen nicht, dass sie nicht aufrecht stehen – sondern nur auf den Knien vor dem Namenlosen kriechen.“
 
Die Menschen, die in A’groniam ihren Erlöser sehen, glauben, die Fesseln der Tugend abgestreift zu haben. Sie nennen sich Befreite, Erwachte, Erhabene – doch in Wahrheit sind sie nur Gefangene in neuen Ketten.
Sie gleichen jenen Wanderern, die eine Stadt aus der Ferne erblicken, leuchtend und einladend, verheißungsvoll in ihrem Glanz. Doch wenn sie die Tore durchschreiten, erkennen sie nicht, dass die prächtigen Mauern aus geborstenen Gebeinen errichtet sind, dass der Boden unter ihren Füßen nicht Pflasterstein, sondern Asche ist. Das Licht, das sie führt, ist kein Sonnenstrahl – es ist das kalte, verzerrte Schimmern der Lügen, die ihnen versprochen wurden.
Sie glauben, sie hätten den alten Pfad verlassen, dass sie nun auf Straßen schreiten, die kein Mensch zuvor gegangen sei. Doch was ist dieser Weg anderes als der Pfad derer, die vor ihnen kamen? Ein ausgetretener Pfad, auf dem die Spuren zahlloser Verräter, Stolzer, Verblendeter in den Staub gedrückt wurden – all jener, die glaubten, größer zu sein als der Herr, und doch in die Dunkelheit stürzten.
Denn was ist A’groniam?
  
 Er ist kein König.
Sein Thron ist kein Thron, sondern ein Stuhl, auf dem er sitzt, weil es ihm befohlen wurde.
 Er ist kein Prophet.
Seine Worte sind nicht seine eigenen, sondern das Echo eines Geflüsters, das durch ihn spricht.
 Er ist kein Herrscher.
Er herrscht nur über jene, die nicht erkennen, dass ihr Wille nicht mehr ihr eigener ist.
 Er ist ein Gefallener, der sich für einen Erhöhten hält.
Ein gebundener Mann, der seine Fesseln nicht sieht.
Ein Verräter, der glaubt, frei zu sein – und doch nur eine Kette mehr trägt.
  
Jene, die ihm folgen, glauben, eine neue Ordnung errichtet zu haben, doch sie haben nur ein altes Reich wiederbelebt – eines, das nie Bestand hatte und nie bestehen wird. Denn Surom, in welchem Namen es auch errichtet wird, ist nicht von Dauer. Es ist wie eine Stadt aus Sand, aufgetürmt am Rand eines stürmischen Meeres, das unausweichlich kommt, um sie zu verschlingen.
Denn er ist nicht der Erste, der diesen Pfad beschritt, und er wird nicht der Letzte sein.
Die Namen ändern sich. Die Gesichter vergehen. Doch die Sünde bleibt dieselbe.
Und wie alle, die sich über den Herrn erheben, wird sein Schicksal kein anderes sein als das derer, die vor ihm kamen.
Denn der Herr hat keine Eile.
Sei es morgen.
Sei es in tausend Jahren.
Oder sei es an dem Tag, an dem der Himmel sich öffnet und das endgültige Gericht über A’groniam und Surom kommt.
Denn ein Verräter kann zurückkehren – doch er kehrt nicht zurück, um zu siegen.
Er kehrt zurück, um das Ende zu empfangen, das ihm bestimmt ist.
  
  
 Putant se liberos esse, sed graviora vincula ferunt.
 Sie glauben, frei zu sein, doch sie tragen schwerere Fesseln.
 
Bernard de Molay

 
 
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Re: Abhandlungen über den Glauben

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Das vergessene Licht – Die Prüfung der Erinnerung
 
„Nicht, wer das Licht nie sah, sondern wer es sah und sich abwandte, ist wahrlich verloren.“
 
 
I. Das ewige Licht und der lauernde Schatten
Das Licht des Herrn ist keine ferne Legende, kein bloßer Funke in der Erinnerung der Gläubigen, sondern eine lebendige Kraft, gegenwärtig und unerschütterlich. Es brennt seit Anbeginn der Zeit und wird brennen bis zum letzten Tag. Es ist der erste Segen, den der Herr über die Schöpfung legte, die Grundlage aller Ordnung, die Kraft, die Gerechtigkeit formt, die Tugenden erhält und die Seelen der Gläubigen durch die Prüfungen dieser Welt geleitet.
Es gleicht der Sonne, die hoch am Firmament steht – fest, strahlend, unveränderlich. Wolken mögen sich davorschieben, Stürme mögen sie verbergen, doch selbst wenn das Auge sie nicht sieht, bleibt sie da, wärmt die Erde, gibt den Geschöpfen Leben und hält das Chaos in Schach. So ist das Licht des Herrn: gegenwärtig, auch wenn der Mensch es vergisst; wirkend, auch wenn er zweifelt; schützend, auch wenn er zögert.
Doch so gewiss das Licht existiert, so gewiss existiert auch der Schatten. Er ist keine bloße Leere, keine Abwesenheit von Tugend, sondern eine Macht, die sich ausbreitet, sich windet, sich klammert. Der Schatten ist kein Zufall, kein Nebeneffekt der Schöpfung – er ist das Werk des Namenlosen, eine Verderbnis, die nicht aus sich selbst wächst, sondern aus jenen, die dem Licht den Rücken kehren.
Er kommt nicht mit lautem Krachen, nicht mit offenem Sturm. Er kriecht wie Ranken eines unheiligen Gewächses, legt sich um das Herz, umschlingt die Gedanken, gräbt sich in die Seele. Erst ist er kaum spürbar – ein leiser Zweifel, ein kaum merkliches Knistern in der Stille des Geistes. Doch sobald er Wurzeln schlägt, beginnt er zu ersticken, zu rauben, zu zersetzen.
Nicht das Licht schwindet – es wird verlassen. Nicht die Tugend vergeht – sie wird verworfen. Nicht die Wahrheit stirbt – sie wird überhört.
Wer einmal schwankt, wer stolpert, wer für einen Moment den Blick von der Sonne abwendet, ist nicht verloren. Die Hand des Herrn ist ausgestreckt für jene, die zurückkehren wollen, für die, die noch nach seinem Licht greifen, selbst wenn sie es kaum noch fühlen. Doch jene, die weitergehen, die den Zweifel nicht vertreiben, sondern ihm Raum geben, die das Flüstern in ihrem Geist nicht abtun, sondern ihm lauschen – sie öffnen eine Tür, die schwer wieder zu schließen ist.
Denn der Schatten wartet nicht untätig.
 
Er beobachtet.
Er raunt.
Er lockt.
 
Er bietet all das, was dem schwachen Herzen fehlt: Stärke für jene, die sich für schwach halten; Freiheit für jene, die die Gebote als Ketten empfinden; Wissen für jene, die die Geduld der Tugend nicht ertragen können. Und wer einmal diesen Weg beschreitet, wer sich nicht nur entfernt, sondern sich dem Schatten zuneigt, der kehrt selten zurück.
Denn der Namenlose nimmt keine Gabe zurück.
Wenn er einmal Besitz von einer Seele ergriffen hat, wenn seine Saat erst gesät wurde, dann gibt er sie nicht mehr frei. Seine Fesseln sind nicht aus Eisen, sondern aus Verlockung, aus trügerischer Hoffnung, aus dem süßen Gift des Stolzes. Und wer sie einmal trägt, glaubt oft, sie seien seine eigene Wahl gewesen.
So steht der Mensch immer zwischen Licht und Schatten – nicht, weil das Licht sich zurückzieht, sondern weil er selbst die Entscheidung trifft, wo er stehen will.
Und für jene, die zu weit gegangen sind, für jene, die nicht nur vergessen, sondern das Licht verachten, gibt es kaum noch Rückkehr.
Denn wer erst einmal dem Namenlosen gehört, der ist nicht mehr sein eigener Herr.

 
II. Der langsame Weg ins Dunkel – Das Flüstern des Vergessens
„Der Schatten triumphiert nicht, indem er das Licht auslöscht, sondern indem er die Menschen dazu bringt, sich von ihm abzuwenden.“
 
Das Verderben kommt nicht mit Sturm und Feuer, nicht mit einem einzigen Schnitt, der das Licht aus dem Herzen reißt. Es ist kein Sturz in die Tiefe, kein jäher Fall, sondern ein leiser, schleichender Wandel, den kaum einer bemerkt, bis es zu spät ist. Die Seele verlässt das Licht nicht mit einer einzigen Tat, nicht mit einem offenen Verrat oder einer plötzlichen Entscheidung. Sie verliert es langsam, Stück für Stück, wie ein Baum, dessen Wurzeln vom Erdreich getrennt werden, bis er eines Tages umstürzt.
Der Schatten braucht nicht zu kämpfen, nicht zu zwingen, nicht zu brechen. Er wartet. Und er flüstert.
Das Vergessen ist sein erster Schritt. Es ist kein Aufschrei gegen den Herrn, keine Verleugnung seines Namens, keine bewusste Entscheidung für die Dunkelheit. Es ist das Nachlassen der Erinnerung, das Ermatten des Geistes, die schleichende Gleichgültigkeit gegenüber dem, was einst heilig war.
Es beginnt mit einer Kleinigkeit.
Es ist nicht nötig, das Gebet zu sprechen.
Es ist nicht nötig, das Gesetz des Herrn zu hinterfragen.
Es ist nicht nötig, sich der Prüfung der Tugenden zu unterziehen.
 
Denn der Mensch, der sicher in seinem Glauben stand, glaubt sich unangreifbar. Er meint, er könne einen Tag ohne das Licht verweilen, dann zwei, dann eine Woche – und dennoch bleibt er derselbe. Doch die Tage werden Monate, die Monate Jahre, und eines Morgens erkennt er, dass er das Licht nicht mehr kennt.
Und dann wird der Zweifel geboren.
Er kommt nicht mit Gewalt, nicht mit donnernder Stimme, sondern mit einem stillen Raunen in der Tiefe des Herzens. Ein Gedanke, kaum wahrnehmbar, legt sich wie eine dünne Schicht Staub auf die Seele, so fein, dass man ihn anfangs nicht bemerkt. Doch mit jedem Tag, mit jeder Stunde, die vergeht, verdichtet sich der Staub, bis das Licht darunter erstickt.
Dann beginnt das Flüstern.
Es sind keine Befehle, keine Drohungen – nur Fragen. Fragen, die sich einnisten, die bohren, die wachsen.
„Ist der Herr wirklich noch hier?“
„Warst du jemals wirklich geborgen im Licht?“
„Warum solltest du dich an ein Licht binden, dass du nicht mehr spürst?“
Und wenn diese Worte erst einmal Wurzeln schlagen, wenn die Gedanken beginnen, sich um sie zu winden, dann öffnet sich eine Tür, die man selbst nicht einmal sieht.
Der Schatten tritt ein.
Nicht mit einer einzigen Tat, nicht mit einem Pakt, nicht mit einem sichtbaren Mal. Sondern mit dem stillen, kaum spürbaren Wandel, der eine Seele langsam in sein Reich zieht.
Nicht jeder, der vergisst, ist verloren. Manche stolpern, taumeln, aber fassen sich wieder, kehren um, erkennen den Abgrund, bevor sie hineinfallen. Sie ergreifen die ausgestreckte Hand des Herrn, sie erinnern sich an das Licht und entfachen es neu in sich.
Doch es gibt andere.
Jene, die nicht nur zweifeln, sondern beginnen, dem Flüstern zu lauschen. Jene, die nicht nur schwanken, sondern den neuen Gedanken in sich nähren. Jene, die sich nicht nur verirren, sondern sich bewusst umdrehen.
Sie sind nicht mehr bloß Suchende.
Sie sind Gefangene.
Der Schatten hat sie nicht überfallen. Sie haben ihn eingelassen.
Und für die meisten gibt es dann keinen Weg mehr zurück.
Denn der Schatten, der einmal das Herz umschlossen hat, gibt es nicht mehr frei.


 
III. Die fortwährende Prüfung – Erinnerung oder Verdammnis?
Der Herr prüft seine Diener nicht nur durch Prüfungen des Körpers oder durch die Härte des Schicksals. Die schwerste Prüfung ist jene, die niemand kommen sieht – die Prüfung der Erinnerung.
Die Wahrheit ist klar: Der Herr ist da. Sein Licht leuchtet. Sein Wille wirkt in der Welt.
Doch der Schatten wirkt ebenso.
Die Prüfung des Glaubens liegt nicht darin, zu kämpfen oder zu siegen. Sie liegt darin, den Pfad nicht zu verlassen, wenn der Wind der Zweifel bläst. Der Herr spricht zu jenen, die sich erinnern – doch jene, die das Licht in sich ersticken, hören seine Stimme nicht mehr.
Es gibt keine Mitte zwischen Licht und Finsternis. Kein sicherer Pfad zwischen den beiden Wegen.
Die Finsternis kämpft nicht mit Schwertern allein, sondern mit Gedanken. Sie flüstert nicht nur den Namen des Namenlosen, sondern auch den Zweifel, der den Glauben zermürbt.
 
Es beginnt als Frage.
Es endet als Verdammnis.
 
Denn der Herr zwingt niemanden, ihn zu folgen. Wer das Licht verlässt, wird nicht zurückgezerrt.
Doch wer einmal zu tief in den Schatten geht, findet oft keinen Weg zurück.
Denn was einst im Namen des Namenlosen geschworen wurde, was einst ihm geopfert wurde, wird nicht leichtfertig zurückgegeben.
Es gibt kein Zurück für jene, die sich ihm verschrieben haben.
Nur die Ausnahme der Ausnahme – nur der, dessen Herz nicht völlig versteinert ist, der noch nach der Wahrheit greift, auch wenn seine Hände in Ketten liegen – nur ein solcher mag vielleicht, durch das Wunder des Herrn, zurückgeführt werden.
Doch es ist nicht der Schatten, der ihn freigibt.
Es ist allein der Wille des Herrn.
 

IV. Die Lehre – Das Licht muss bewahrt werden
„Nicht die Dunkelheit besiegt den Glauben, sondern das Vergessen. Denn was vergessen wird, kann nicht mehr brennen.“
 
Der Herr verlässt seine Diener nicht. Doch wer sich von ihm abwendet, steht nicht in Leere – er tritt in die Arme des Namenlosen.
Jeder Gläubige trägt die Pflicht, das Licht nicht nur in sich zu bewahren, sondern es zu nähren. Es reicht nicht, einmal zu glauben, um für immer gefestigt zu sein. Das Licht brennt nur, wenn es gehütet wird.
Und es erlischt, wenn es vernachlässigt wird.
Nicht sofort. Nicht in einem einzigen Moment. Sondern Schritt für Schritt, bis der Schatten Raum gewinnt und die Dunkelheit ihre Hand nach der Seele ausstreckt.
Wer einmal in die Fänge des Namenlosen fällt, wer sich nicht nur abwendet, sondern sich ihm öffnet, den wird der Schatten nicht mehr loslassen.
Einige mögen hoffen, dass jeder ins Licht zurückkehren kann. Dass jede Seele gerettet werden kann. Doch das ist nicht wahr.
Der Herr gewährt Gnade. Doch nicht für jene, die ihn absichtlich verwerfen.
Der Herr führt zurück. Doch nicht jeden, der sich unwiederbringlich gebunden hat.
Der Herr prüft. Doch es gibt Prüfungen, die manche nicht bestehen.
Es mag ein Wunder geben, eine Hand, die in die Dunkelheit greift und einen Einzelnen zurückzieht.
Doch für die meisten gibt es keine Rückkehr.
Denn wer das Licht verlässt, mag glauben, noch einen Weg zurückzuhaben.
Doch der Schatten lässt ihn nicht mehr los.


 
Die letzte Wahrheit
Der Herr existiert. Sein Licht leuchtet. Sein Weg ist offen.
Doch so ist auch der Schatten.
Jene, die ihn betreten, glauben, sie könnten ihn jederzeit verlassen.
Doch die Tür, durch die sie treten, schließt sich hinter ihnen.
Und nur wenige finden den Schlüssel wieder.
 
 
 
Qui lumen deserit, umbram non invenit, sed amplexatur.
Wer das Licht verlässt, findet nicht den Schatten – er umarmt ihn.
 
Bernard de Molay
 


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