Nîrandar, das Erbe der Sonne, Klinge der Einen

Am Anfang war das Nichts.
Und neben ihm da waren die Hohen, die das Nichts nach ihren Vorstellungen formten.
Sie schufen das Licht, die Düsternis, Welten wie unsere, das Leben.
Jeder Welt gaben die Hohen ihre Gottheiten, damit diese für die Ordnung und das Gleichgewicht sorgten. Manche davon waren abgrundtief böse. Andere waren rein wie ein Bergkristall. Es herrschte Gleichgewicht und es war gut.
Unsere Welt aber war in Gefahr, denn die Götterschwestern Nyame und Nazra hassten einander und kämpften um die Macht. Die eine wurde aus dem Pol des Lichts geschaffen, die andere war ihr Gegenstück, geschaffen aus dem Dunkel.
Nyame war das Leben; Nazra war der Tod.
Die Kämpfe der Schwestern erschütterten die Welt und wäre eine gefallen, so hätte sie unsere Heimat mit sich gerissen. Es herrschte ewiger Kampf auf Leben und Tod zwischen den beiden.
Die Hohen bemerkten ihren Fehler bald und so schufen sie Tag und Nacht.
Nyames Macht banden sie an die Sonne, zu der sie wurde, Nazra banden sie an den Mond, denn sie wurde die Nacht.
Niemals würden Tag und Nacht zugleich bestehen können. Kam die eine, musste die andere weichen und den Rhythmus gaben die Hohen vor. Und so kehrte das Gleichgewicht zurück.
Nazra, die durchtriebenere der beiden Schwestern, jedoch ruhte nicht. Wenn es ihr auch nicht möglich war Nyame selbst zu richten, so hatte sie doch Möglichkeiten zu handeln. In der Nacht, als Nyame fern war und ihr Antlitz von der Welt gewandt hatte, beschwor sie Izimrothîl. Lauter Donner grollte und ließ die Erde erzittern. Bäume kämpften gegen Sturm und Regen, der in Bindfäden auf die Erde fiel. Blitze erhellten die Nacht. Es war zu einer Zeit, da unser Volk noch nicht existierte. Aber sie war da – und hatte sie stets über Land und Leben gewacht, so waren ihr in der Nacht die Hände gebunden, denn sie war eins mit der Sonne und es war ihr verwährt zu sehen, was die Nacht brachte.
Nazra, der Tod und die Nacht wollte Nymae nehmen, was ihr am wertvollsten war: Das Leben der Welt. Formeln, wie sie nur die Götter kennen, wurden vom Sturm über die Wälder, die Berge und die Seen getragen, als sich plötzlich die Erde auftat und sich ein Gigant erhob: Izimrothîl. Sein Leib war ein Berg, doch Arme und Beine ermöglichten ihm das Wandeln. Getrieben aus der Kraft zu vernichten, begann er seiner zerstörerischen Wut freien Lauf zu lassen. Bäume wurden niedergewalzt, Tiere unter seinem massigen Körper zerquetscht. Stunden vergingen und die Schöpfung begann zu sterben.
Der göttliche Rhythmus läutete den Tag ein und Nazra musste ihren Blick von ihrem finsteren Frevel wenden. Die Zeit Nyames war gekommen. Als sie sah was die Nacht angerichtet hatte, wurde sie sehr traurig und sie begann zu weinen. Da, wo ihre Tränen die Erde berührten, wuchsen neue Pflanzen und Tiere entstanden wie aus dem Nichts. Aber noch immer wütete Izimrothîl in seinem Wahnsinn. Es würde eine halbe Ewigkeit dauern den Schaden, den er schon jetzt angerichtet hatte, zu kurieren. Mit einem Grimmen Wort, das nur die Götter kennen, entsandte Nyame einen gebündelten Lichtstrahl zur Erde und wo er auftraf, stand kurz darauf eine wunderschöne, unbekleidete Frau. Ihr Haar war golden wie die Sonne selbst und es wellte sich bis zu ihrer Hüfte. Ihr Leib war perfekt und ohne Makel und ihre Augen waren der Himmel. Sie war sie. Oben am Firmament und unten auf der Welt zugleich. Sie, die Fleisch gewordene, griff ins Erdreich, so als sei es nicht. Ihr Arm tauchte hinein, als griffe sie in einen Fluss. Und als sie ihn wieder herauszog, da hielt sie ein filigranes Schwert, das mehr einem Degen glich, in den Händen: Nîradar, das Schwert der Einen.
Mit erschreckender Überlegenheit machte sie sich auf die Suche nach Izimrothîl, um ihn, den Schänder, zu richten. Es war kein Hass, der sie trieb, vielmehr die Liebe zur Schöpfung und zum Leben, der sie lieblichen Zorn verspüren ließ.
Izimrothîl war gewaltig und so dauerte es nicht lange, da sie ihn gefunden hatte. Der Gigant wandte sich der Fleischgewordenen zu und lächelte bösartig herab. Er erkannte nicht, dass es die Sonne war, die vor ihm stand. Sie aber schwieg und betrachtete Izimrothîls zerstörerisches Werk. „Warum hast du das getan?“, fragte die Eine und unendliche Trauer klang in diesen Worten. Eine Stimme wie auf Stein geriebener Stein antwortete: „Weil es meine Bestimmung ist zu vernichten was der Nacht unliebsam ist.“
„Nazra schickt dich?“ fragte die Schöne, was den Giganten verunsicherte. Wissendes Leben war ihm in seiner kurzen Existent noch nicht untergekommen und ihn beunruhigte diese neue Erfahrung tief in seinem steinernen Herzen. „Ja, Nazra, der Mond, die Nacht und der Tod“. Nachdem der Gigant die Frau gemustert hatte, verkündete er, um seinem Zweifel ein Ende zu bereiten: „Und du bist Leben. Also wirst du vergehen“. Er hob eines seiner Beine, mächtiger als ein großer Berg, und trat nach der Fleischgewordenen. Die aber wich mit einem einzigen widernatürlichen Schritt eben so viele Meilen aus, dass der Fuß des Schänders ins Leere traf und ein Loch hinterließ, das so tief war, dass sich bald darauf Wasser darin sammelte.
Nyame konnte nicht länger harren. Jede Sekunde die verstrich, kostete der Schöpfung Kraft.
Also hob sie Nîradar, die Klinge der Einen. Izimrothîls Lachen erschallte wie Donner, als er das winzige Schwert in den Händen der Frau erblickte. Doch dieses Lachen sollte bald vergehen. Die Eine holte aus und mit einem einzigen, gewaltigen Streich durchtrennte sie mit der heiligen Klinge Izimrothîls Leib. Sein Rumpf aus Berg klaffte in der Mitte auseinander und Blut bestehend aus Steinen und Felsen stürzte auf die Erde. Die eine Hälfte des Giganten fiel nach links, die andere weiter nach rechts und an der Stelle, die dazwischen lag wuchsen Bäume dicht an dicht, als sein Blut den Boden berührte. Nîradar war dafür verantwortlich gewesen, denn in ihr Lag ein Teil Nyames Kraft: Die Kraft des Lebens.
Nyame betrachtete ihr Werk und sie wusste dass es nicht das letzte Mal war, dass sie die schrecklichen Pläne ihrer dunklen Schwester vereiteln musste. Für diesen Tag, für diesen Zyklus ihres Seins, hatte sie ihre Aufgabe erfüllt. Die Schöne kniete sich im Wald zwischen Izimrothîls Felshälften nieder und ein zweites Mal glitt ihr Arm in das Erdreich, als sei es gar nicht da. Dieses Mal zog sie ihre Hand zurück, ohne danach etwas in ihr zu halten. Nîradar hatte ihren Zweck erfüllt und wenn sie wieder gebraucht würde, sollte sie noch immer an diesem Orte ruhen.
Die Jahre zogen ins Land und so die Jahrhunderte. Unser Volk, das Volk der Amazonen, wurde geboren, doch noch immer ruht sie, die Klinge der Einen in den Eingeweiden dieser Welt, da, wo Izimrothîl sein unheiliges Leben ließ. Ihre Kraft ist fast versiegt, denn unzählige Nächte hatte der Mond sein Licht auf die Erde in der sie ruhte geschickt, doch noch immer, so heißt es, würden die Kräfte des Lebens schwach durch die Klinge strömen.
Nîradar, das Erbe der Sonne, Klinge der Einen.