Der Abend lag still über Solgard.
Nur das leise Tropfen des Regens an den Fenstern begleitete den Boten, der das Pergament mit dem Siegel des Ordens überreichte.
Lydia erkannte sofort das Zeichen Amarius’.
Sie nahm den Brief behutsam entgegen, bedankte sich wortlos und schloss die Tür hinter dem Boten.
Dann setzte sie sich an den alten Eichentisch, entzündete eine Kerze und legte die Engelsflügel aus Wachs daneben, die sie vor Wochen modelliert hatte – ein Symbol für Trost, Reinheit und die Zerbrechlichkeit des Glaubens.
Langsam brach sie das Siegel und begann zu lesen.
Amarius berichtete von Dervyns Zorn gegen Bathor, von seinem Missmut über die Pflichten im Orden, von der Sehnsucht nach der Statthalterin, die mit Knut verbunden war, und von der Abwendung von allem, was Lydia und andere ihm einst nahegebracht hatten.
Mit jedem Wort spürte Lydia, wie sich ihr Herz schwerer anfühlte.
Sie erinnerte sich an Gespräche , in denen sie ihm zugehört hatte, seine Beichten entgegengenommen, seine Sorgen getragen.
Sie hatte versucht, seinen Hass auf Bathor zu verstehen, ihn zu lenken, ihn zu beruhigen, wenn er von Sehnsucht und Neid überwältigt war.
Und nun waren diese Bemühungen vergeblich gewesen.
Dervyns letzten Worte zu ihm , wie Amarius ihn übermittelte, lag schwer auf ihr: „Je heller Ihr scheint, desto blinder werdet Ihr für die Schatten.“
Lydia schluckte schwer.
Keine Reue, kein Flehen um Vergebung – nur Spott und Trotz.
Sie spürte die Enttäuschung tief in sich, ein bitterer Schmerz über einen Menschen, dem sie so oft ihr Ohr geliehen, ihr Herz geöffnet und ihre Hoffnung geschenkt hatte.
Sie hatte seine Liebe zu der Statthalterin gesehen, wusste um die Sehnsucht, die niemals erwidert dürfte solang sie vergeben sei , und dass er gleichzeitig ihre Nähe suchte, um Trost und Verständnis zu finden.
Doch ihr Blick fiel auf den Brief selbst und auf Amarius’ Worte dazwischen – Ruhe, Würde, Sorge.
Ein Hohepriester, der solche Bitterkeit ertragen musste, ohne dass sein Herz zerbrach.
Ihre Augen füllten sich mit stillem Respekt.
Sie faltete die Hände und begann zu beten.
Herr, segne Amarius, der den Spott und die Bitterkeit ertragen musste, der das Herz festhält, auch wenn andere es verhöhnen.
Stärke ihn, dass seine Hand unerschüttert bleibt, dass sein Geist klar bleibe im Angesicht von Trotz und Zorn.
Und gewähre Dervyn, der dem Schatten folgt, dass er eines Tages wieder das Licht erkennt.
Das Wachs der Engelsflügel tropfte leise auf den Tisch, doch Lydia sah darin kein Ende, sondern eine leise Erinnerung daran, dass selbst das Zerbrechlichste durch Geduld und Glauben getragen werden kann.
Sie stand auf, blickte noch einmal auf das Pergament und flüsterte: „Amarius hat getan, was recht war. Ich habe getan, was ich konnte. Dervyn aber… er hat die Schatten gewählt.“
Und während draußen der Regen sanft nachließ, verharrte Lydia noch lange, zwischen Engelsflügeln, Kerze und Pergament, in stillem Gebet für den Hohepriester und den Mann, der einst ihr Vertrauen besaß, es nun aber verschmäht hatte.
Vom Schatten zum Licht – Die Wege der Lydia Magdalena
- Lydia Magdalena
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