Im Herzen des alten Kontinents lag die geschäftige Handelsstadt Ansilon, ein Knotenpunkt, wo die Fäden der alten Welt zusammenliefen. Hier kreuzten sich die Wege von Händlern und Reisenden aus allen Ecken des Landes. Zwerge aus den fernen Bergreichen brachten ihre fein gearbeiteten Schmuckstücke und robusten Werkzeuge mit, als wären sie die Schätze aus den Tiefen der Erde selbst. Elfen aus den dichten Wäldern boten seltene Kräuter und exquisite Textilien feil, als ob sie das grüne Herz ihrer Heimat in ihre Waren eingewoben hätten. Menschen aus nah und fern, sowie andere Völker, füllten die gepflasterten Straßen und den riesigen Marktplatz der Stadt, auf dem ein endloses Treiben herrschte.
Vor dem Kataklysmus war der Marktplatz von Ansilon ein lebendiger Wirbel aus Farben und Geräuschen. Händler riefen lautstark ihre Waren aus, exotische Düfte stiegen von den Ständen auf und die geschäftigen Gespräche der Händler erfüllten die Luft. Am anderen Ende der Stadt lag der Hafenbezirk, wo hin und wieder Schiffe anlegten und ihre Güter entluden. Hier, in den engen, verwinkelten Gassen, lebten und arbeiteten die Brüder, ihre Schicksalsfäden untrennbar miteinander verknüpft.
Die beiden stammten ursprünglich aus einer wohlhabenden Familie. Einst war ihr Vater ein erfolgreicher Händler, der mit klugen Investitionen ein beachtliches Vermögen aufgebaut hatte. Doch irgendwann trieb ihn die Gier zu immer riskanteren Geschäften. Er verfiel der Spielsucht und umgab sich mit falschen Freunden. So jagte eine falsche Entscheidung die Nächste und das Vermögen der Familie schwand rasant. In dieser Zeit erkrankte die Mutter der Jungen, eine sanftmütige und gütige Frau. Sie starb vor den Augen ihrer Söhne und im Schatten des riesigen Schuldenberges, den ihr Mann mittlerweile angehäuft hatte. Der Verlust seiner Frau ließ den Vater in eine immer tiefere Trink- und Spielsucht fallen. Er trank sich durch all den Kummer, folgte seiner Frau in Windeseile ins Grab und ließ die beiden Jungen mittellos zurück, wie ein Schiff ohne Anker, das in einen Sturm geriet.
Die Brüder waren zu diesem Zeitpunkt noch Kinder. Gerard, der Ältere von beiden, war erst zehn Jahre alt, als sie zu Waisen wurden. Sein jüngerer Bruder war damals noch ein kleiner Junge, abhängig von seinem großen Bruder, der plötzlich die Verantwortung für ihren Lebensunterhalt übernehmen musste. Gerard zeigte eine erstaunliche Reife und Entschlossenheit für sein Alter. Er fand Gelegenheitsarbeiten bei Händlern und Schmieden, organisierte kleine Diebstähle, wenn nötig, und stellte sicher, dass die Beiden stets zu essen hatten. Er wurde zu einem Fels in der Brandung, einem Vorbild, dem der Jüngere nacheifern wollte. Er lehrte ihm nicht nur, wie man überlebte, sondern auch, wie man trotz allem seine Menschlichkeit bewahren konnte.
So vergingen Wochen, Monate und Jahre. Mit der Zeit verblassten auch die letzten Erinnerungen an die spärlichen Tage des Glücks und wurden überschattet von einem täglichen Kampf ums Überleben. Doch obgleich das Leben den beiden Brüdern übel mitgespielt hatte, fanden sie miteinander und ineinander Trost und immer wieder etwas zu lachen.
Eines Abends, als sie sich in einem verlassenen Gebäude versteckten, bemerkte der jüngere Bruder die ersten Stoppelhaare im Gesicht seines älteren Bruders. Sie saßen auf einem alten, staubigen Teppich, als er plötzlich kicherte und Gerard neugierig ansah.
„Gerard, warum schneidest du die paar Stoppel nicht einfach ab?“ fragte der jüngere Bruder mit einem leichten Grinsen. „Sieht aus, als hättest du Dreck im Gesicht.“
Der Ältere lachte und strich sich stolz über die kratzigen Haare. „Das sind keine Dreckflecken, ich lasse mir einen Bart stehen!“
Daraufhin verzog der Jüngere das Gesicht und schüttelte den Kopf. „Ein Bart? Die paar Stoppel? Schneid die ab, das sieht blöd aus.“
Gerard entgegnete entschieden mit einem Kopfschütteln.
Der jüngere Bruder seufzte und rollte die Augen. „Du siehst aus wie ein Ziegenbock, der in einen Tintenklecks gefallen ist.“
Da musste der große Bruder nun doch grinsen und betrachtete sich dabei stolz in einem kleinen, angeschlagenen Spiegel, den sie im Haus gefunden hatten. „Vielleicht, aber bald werde ich aussehen wie ein richtig harter Hund. Wart’s nur ab.“
„Wenn du meinst,“ murmelte der Jüngere, genervt von dem Stolz seines Bruders, doch in seinen Augen glomm ein kleines Stück Bewunderung.
Gerard wollte um jeden Preis beweisen, dass er trotz seines jungen Alters die Verantwortung tragen und als Mann ernst genommen werden konnte.
Dass das Leben seinen Mut und seine Entschlossenheit schon bald auf die Probe stellen würde, hatte er an diesem Tage noch nicht ahnen können
Eines schicksalshaften Abends erhielten sie von einem der hiesigen Händler den Auftrag, ein altes Buch zu stehlen, das in dem Haus eines Kaufmanns in Ansilon verborgen war. Der Händler hatte ihnen eine großzügige Belohnung versprochen, wenn sie das Buch beschaffen könnten, Münzen, die sie bitter nötig hatten in Anbetracht des nahenden Winters. Dass es sich bei dem Kaufmann um einen der Männer handelte, über den ihr Trunkenbold von Vater sich oftmals zu Hasstiraden hinreißen ließ, war ein hübsches, kleines Sahnehäubchen.
Die Nacht war still, als sie durch ein zerbrochenes Fenster in das prächtige Haus schlüpften. Gerard führte den Weg, ein scharfes Messer in der Hand und bereit, jedes Geräusch zu bekämpfen, während sein kleiner Bruder leise hinter ihm her schlich. Sie durchsuchten die Räume und fanden schließlich einen Raum voller kleiner Schätze. Wie bestellt befand sich auch das gesuchte Buch in diesem Raum, fein säuberlich auf einem Beistelltisch zur Abholung platziert. Es war definitiv das gesuchte Schriftstück, unverkennbar aufgrund der seltsamen Runen auf dem Einband, die sich mit jenen spiegelten, die ihnen ihr Auftraggeber auf ein Stück Pergament gezeichnet hatte.
Doch das Glück war nicht lange auf ihrer Seite. Gerade als sie ihre Beute verstauen wollten, ertönte ein lautes Knarren und die Haustür wurde aufgestoßen. Der Kaufmann war mit seinen Wachleuten zurückgekehrt.
„Nimm das Buch!“, rief Gerard und warf panisch das Buch zum Jüngeren, der es nur unter Mühe auffangen konnte. Bevor er etwas erwidern konnte, stellten sich die Wachen ihnen in den Weg. Gerard stürzte sich ohne zu zögern auf die Männer, sein Messer blitzte im schwachen Licht. Der kleine Bruder stand für einen Moment wie erstarrt, das Buch fest an seine Brust gedrückt. Dann, mit einem Schrei der Verzweiflung, stürzte auch er sich in den Kampf, versuchte, an der Seite seines großen Bruders zu kämpfen.
Doch den beiden standen gestandene und gut ausgerüstete Wachmänner entgegen – die Burschen waren chancenlos unterlegen. Gerard wurde schwer getroffen und brach blutend zusammen, während der Jüngere es, verletzt und erschöpft, schaffte, sich aus dem Haus zu retten.
Die Stunden verstrichen qualvoll langsam, bis er es wagte, zurückzukehren. Er fand seinen Bruder schwer verletzt am Rande des Waldes, den Blick zum Himmel gerichtet. Gerard hatte es irgendwie geschafft, den Wachen zu entkommen und sich in Sicherheit zu schleppen – oder er wurde hier zum Sterben abgelegt, denn seine Wunden waren zu schwer.
„Gerard, bitte, bleib bei mir“, flüsterte der kleinere Bruder und hielt die Hand seines Bruders fest.
„Bruder…“, keuchte Gerard, seine Stimme war durchdrungen von Wut, Schmerz und einem Hauch von Angst. „Lass… mich nicht allein.“
Mit diesen Worten starb Gerard in den Armen des letzten Menschen, der ihm noch geblieben war auf dieser Welt. Dieser Verlust ließ den jüngeren Bruder in eine tiefe Apathie und Antriebslosigkeit verfallen. Er fühlte sich leer und verloren, unfähig, den Schmerz zu ertragen.
Wochen und Monate verstrichen – äußerliche Wunden waren bereits verheilt, während die Seele des Jungen in Scherben lag. Ohne Gerard fiel es ihm schwer, einen Platz in der Welt zu finden. Es war nicht nur Trauer und Verzweiflung, die tiefe Schatten warfen, sondern er fühlte sich auch vom Schicksal und den Göttern betrogen. Die ständige Frage, warum sein geliebter Bruder sterben musste, nagte an ihm.
Weitere Monate vergingen und während er eines Tages seine Sachen aufräumte, stieß er auf das alte Buch, das sie während ihres letzten Raubzuges gefunden hatten. Die Runen auf dem Einband schimmerten rötlich im Licht der untergehenden Sonne. Dieses Schriftstück war verfasst in einer Sprache, die ihm gänzlich fremd zu sein schien. Anstelle von Schrift wirkte der Inhalt vielmehr wie verschnörkelte, abstruse Kunst.
Er behielt das Schriftstück und es würde sich mit der Zeit eine immer tiefere Faszination über dessen abstrusen Inhalt entwickeln – sein Memento Mori, ein ständiger Begleiter, der ihm half, die Schatten der Vergangenheit zu erhellen und die Flammen der Zukunft zu entfachen.
Memento Mortis
- Gerard Duval
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Das Feuer der Erneuerung
Die Welt schien grau und trostlos, als ob alle Farben und Freuden des Lebens mit Gerard gestorben wären. Er irrte ziellos durch die Straßen von Ansilon, ein Schatten seiner selbst, gefangen in einem Labyrinth aus Trauer und Verzweiflung. Doch inmitten dieser endlosen Nacht begann ein winziger Funke in ihm zu glimmen – ein Funke, der langsam, aber unaufhaltsam zu einem Feuer heranwuchs.
Er hatte schon immer ein Gespür für Magie, eine intuitive Verbindung zu den geheimen Kräften der Welt, die er nie ganz verstanden oder weiter hinterfragt hatte. Nach Gerards Tod klammerte er sich an diese Gabe, wie ein Ertrinkender an ein Stück Treibholz. Die Magie wurde zu seiner Leidenschaft. Er verbrachte Stunden, Tage und Nächte damit, alte Schriften und Runen zu studieren, versuchte, die Geheimnisse des Buches zu entschlüsseln, das sie in jener schicksalhaften Nacht gestohlen hatten. Doch trotz all seiner Bemühungen erzielte er keinerlei Erfolge. Die Mysterien der Magie blieben ihm verborgen, und die Antworten auf die Fragen nach dem Ursprung dieser Verbindung entglitten ihm stets.
Verzweifelt und auf der Suche nach Erleuchtung beschloss er, die Magieakademie aufzusuchen. Wenn es einen Ort gab, der Antworten auf seine Fragen liefern konnte, dann dieser. Für ihn war es ein Ort der Hoffnung, ein Ort, an dem er wohlmöglich mehr über diese Intuition und auch das Buch lernen konnte. Mit kaum einer Hand voll Münzen und einer Entschlossenheit, die nur aus tiefstem Leid geboren werden konnte, meldete er sich an und begann seine Ausbildung.
Aufgrund seines zurückhaltenden Naturells fiel es ihm schwer Kontakte zu knüpfen und Freundschaften mit anderen Schülern zu schließen. Oft fühlte er sich isoliert und einsam, ein Fremder in einer Welt voller fremder Gesichter. In dieser Einsamkeit begann er, das gestohlene Buch wie einen alten Freund zu behandeln. Er sprach mit ihm, als wäre es Gerard, der an seiner Seite war. In stillen Nächten flüsterte er seine Gedanken und Ängste dem Buch zu, als könnte es ihm Antworten geben. "Gute Nacht, Gerard," murmelte er leise, bevor er einschlief.
Mit der Zeit begann er sich zunehmend so zu verhalten, wie es vermutlich Gerard tun würde, wenn er noch am Leben wäre. Er nahm sich die Tapferkeit und den Charme seines Bruders zum Vorbild und begann, diese Eigenschaften zu verkörpern. Seine Unsicherheiten und Makel bedeckt mit einem Deckmantel der Leichtigkeit, der langsam aber sicher in Fleisch und Blut überging. So schloss er langsam Freundschaften und wurde beliebter. Die Erinnerung an Gerard lebte in ihm weiter und half ihm, aus seiner eigenen Schale zu schlüpfen.
Die Zeit in der Akademie war eine Offenbarung. Er sog das Wissen auf wie ein Schwamm und verbrachte jede freie Minute mit seinem Studium. Es dauerte nicht lange, bis er die ersten Worte der Macht aussprach und das Feuer in seinen Händen zum Leben erwecken konnte. Das Gefühl, die Magie zu wirken, war berauschend. Eine Welle von Energie durchströmte seinen Körper, füllte ihn mit einer nie zuvor gekannten Kraft und einem Gefühl von Erfüllung, das alle anderen übertraf.
Schon früh war klar, dass der junge Schüler eine besondere Verbindung zu den Elementen besaß. Sie sprachen zu ihm in einer Sprache, die er tief in seinem Inneren verstand. Die Lehren um die Elementarmagie zogen ihn magisch an, denn er erkannte in ihnen Parallelen zu seinem eigenen Wesen und dem Gerards.
Gerard war wie das Wasser, das sich stets einen Weg suchte, auch durch das härteste Gestein. Seine Anpassungsfähigkeit und sein ungebrochener Wille trieben ihn voran. Sie Beide waren auch wie die Erde, in der ihre Wurzeln tief verankert waren, die ihnen Stabilität und Halt gab, selbst in den dunkelsten Stunden. Die Luft spiegelte die Sehnsucht nach Freiheit wider, nach einem Leben jenseits der Schmerzen ihrer Vergangenheit.
Aber es war das Feuer, das ihn am meisten faszinierte. Das Feuer war wie er selbst – voller Zorn und Leidenschaft, zerstörerisch, aber auch erneuernd. Ein Symbol für Kraft und Kontrolle.
Er entschloss sich, sich ganz dem Studium der Elementarmagie zu verschreiben. Jede Lesung, jedes Seminar und jede praktische Übung, die mit Elementarmagie zu tun hatte, besuchte er mit unermüdlichem Eifer. Die Magieakademie bot viele Ressourcen, doch er wusste, dass er auch außerhalb der geschützten Mauern lernen musste.
Oftmals begab er sich in die Ödlande, eine karge, gefährliche Region, die für ihre wilden Lavaströme und Vorkommen von Obsidian bekannt war.
Das Obsidian, ein vulkanisches Glas, war eine der Hauptzutaten zum Wirken der Elementarmagie. Er verbrachte viele Stunden damit es zu studieren. Die glatte, schwarze Oberfläche faszinierte ihn. Es war wie gefrorenes Feuer, das die Essenz der Erde in sich trug. Er untersuchte die Beschaffenheit des Obsidians, seine Härte und seine scharfen Kanten. Er lernte, wie man es richtig bearbeiteten musste um seine magischen Eigenschaften zu aktivieren.
Nach vielen Monaten intensiven Studiums und harter Arbeit stand schließlich seine Lehrlingsprüfung bevor. Mit klopfendem Herzen stellte er sich den Prüfungen und meisterte sie mit Bravour. Er wurde zu einem Lehrling unter den Elementarmagiern. Dies war nicht ein Titel, sondern ein Beweis seiner Fähigkeiten und seiner Hingabe. Es war der Beginn eines neuen Kapitels in seinem Leben.
Die ersten Zauber, die er als Lehrling wirkte, wurden akribisch vorbereitet. Er wählte das reinste Obsidian, sprach die Worte der Macht, die er so lange studiert hatte und konzentrierte sich auf die Hitze und die Flammen, die er sich so sehr zu eigen machen wollte. Die Luft um ihn herum schien zu vibrieren, als die Magie sich manifestierte.
“Por Ort Flam!”
Dann geschah es. Es manifestierten sich drei flammende Pfeile, die vor Hitze und Energie glühten. Das Gefühl war unbeschreiblich. Ein Rausch, der jede Faser seines Seins durchdrang. Es war, als ob er einen Teil seiner Selbst in die Welt hinaus sandte, gebändigt und doch wild. Die Feuerpfeile waren ein Zeichen seines Fortschritts, eine Bestätigung seiner Fähigkeiten und seiner Hingabe zur Magie.
Es war besser als jeder andere Triumph, den er bislang erlebt hatte. Er wollte mehr davon, mehr Wissen, mehr Macht. Seine Leidenschaft brannte heller als je zuvor und er wusste, dass dies erst der Anfang seiner Reise war. Mit jedem Tag wuchs sein Verständnis und seine Fähigkeit. Er versprach sich selbst, niemals aufzuhören zu lernen und zu wachsen.
Er hatte schon immer ein Gespür für Magie, eine intuitive Verbindung zu den geheimen Kräften der Welt, die er nie ganz verstanden oder weiter hinterfragt hatte. Nach Gerards Tod klammerte er sich an diese Gabe, wie ein Ertrinkender an ein Stück Treibholz. Die Magie wurde zu seiner Leidenschaft. Er verbrachte Stunden, Tage und Nächte damit, alte Schriften und Runen zu studieren, versuchte, die Geheimnisse des Buches zu entschlüsseln, das sie in jener schicksalhaften Nacht gestohlen hatten. Doch trotz all seiner Bemühungen erzielte er keinerlei Erfolge. Die Mysterien der Magie blieben ihm verborgen, und die Antworten auf die Fragen nach dem Ursprung dieser Verbindung entglitten ihm stets.
Verzweifelt und auf der Suche nach Erleuchtung beschloss er, die Magieakademie aufzusuchen. Wenn es einen Ort gab, der Antworten auf seine Fragen liefern konnte, dann dieser. Für ihn war es ein Ort der Hoffnung, ein Ort, an dem er wohlmöglich mehr über diese Intuition und auch das Buch lernen konnte. Mit kaum einer Hand voll Münzen und einer Entschlossenheit, die nur aus tiefstem Leid geboren werden konnte, meldete er sich an und begann seine Ausbildung.
Aufgrund seines zurückhaltenden Naturells fiel es ihm schwer Kontakte zu knüpfen und Freundschaften mit anderen Schülern zu schließen. Oft fühlte er sich isoliert und einsam, ein Fremder in einer Welt voller fremder Gesichter. In dieser Einsamkeit begann er, das gestohlene Buch wie einen alten Freund zu behandeln. Er sprach mit ihm, als wäre es Gerard, der an seiner Seite war. In stillen Nächten flüsterte er seine Gedanken und Ängste dem Buch zu, als könnte es ihm Antworten geben. "Gute Nacht, Gerard," murmelte er leise, bevor er einschlief.
Mit der Zeit begann er sich zunehmend so zu verhalten, wie es vermutlich Gerard tun würde, wenn er noch am Leben wäre. Er nahm sich die Tapferkeit und den Charme seines Bruders zum Vorbild und begann, diese Eigenschaften zu verkörpern. Seine Unsicherheiten und Makel bedeckt mit einem Deckmantel der Leichtigkeit, der langsam aber sicher in Fleisch und Blut überging. So schloss er langsam Freundschaften und wurde beliebter. Die Erinnerung an Gerard lebte in ihm weiter und half ihm, aus seiner eigenen Schale zu schlüpfen.
Die Zeit in der Akademie war eine Offenbarung. Er sog das Wissen auf wie ein Schwamm und verbrachte jede freie Minute mit seinem Studium. Es dauerte nicht lange, bis er die ersten Worte der Macht aussprach und das Feuer in seinen Händen zum Leben erwecken konnte. Das Gefühl, die Magie zu wirken, war berauschend. Eine Welle von Energie durchströmte seinen Körper, füllte ihn mit einer nie zuvor gekannten Kraft und einem Gefühl von Erfüllung, das alle anderen übertraf.
Schon früh war klar, dass der junge Schüler eine besondere Verbindung zu den Elementen besaß. Sie sprachen zu ihm in einer Sprache, die er tief in seinem Inneren verstand. Die Lehren um die Elementarmagie zogen ihn magisch an, denn er erkannte in ihnen Parallelen zu seinem eigenen Wesen und dem Gerards.
Gerard war wie das Wasser, das sich stets einen Weg suchte, auch durch das härteste Gestein. Seine Anpassungsfähigkeit und sein ungebrochener Wille trieben ihn voran. Sie Beide waren auch wie die Erde, in der ihre Wurzeln tief verankert waren, die ihnen Stabilität und Halt gab, selbst in den dunkelsten Stunden. Die Luft spiegelte die Sehnsucht nach Freiheit wider, nach einem Leben jenseits der Schmerzen ihrer Vergangenheit.
Aber es war das Feuer, das ihn am meisten faszinierte. Das Feuer war wie er selbst – voller Zorn und Leidenschaft, zerstörerisch, aber auch erneuernd. Ein Symbol für Kraft und Kontrolle.
Er entschloss sich, sich ganz dem Studium der Elementarmagie zu verschreiben. Jede Lesung, jedes Seminar und jede praktische Übung, die mit Elementarmagie zu tun hatte, besuchte er mit unermüdlichem Eifer. Die Magieakademie bot viele Ressourcen, doch er wusste, dass er auch außerhalb der geschützten Mauern lernen musste.
Oftmals begab er sich in die Ödlande, eine karge, gefährliche Region, die für ihre wilden Lavaströme und Vorkommen von Obsidian bekannt war.
Das Obsidian, ein vulkanisches Glas, war eine der Hauptzutaten zum Wirken der Elementarmagie. Er verbrachte viele Stunden damit es zu studieren. Die glatte, schwarze Oberfläche faszinierte ihn. Es war wie gefrorenes Feuer, das die Essenz der Erde in sich trug. Er untersuchte die Beschaffenheit des Obsidians, seine Härte und seine scharfen Kanten. Er lernte, wie man es richtig bearbeiteten musste um seine magischen Eigenschaften zu aktivieren.
Nach vielen Monaten intensiven Studiums und harter Arbeit stand schließlich seine Lehrlingsprüfung bevor. Mit klopfendem Herzen stellte er sich den Prüfungen und meisterte sie mit Bravour. Er wurde zu einem Lehrling unter den Elementarmagiern. Dies war nicht ein Titel, sondern ein Beweis seiner Fähigkeiten und seiner Hingabe. Es war der Beginn eines neuen Kapitels in seinem Leben.
Die ersten Zauber, die er als Lehrling wirkte, wurden akribisch vorbereitet. Er wählte das reinste Obsidian, sprach die Worte der Macht, die er so lange studiert hatte und konzentrierte sich auf die Hitze und die Flammen, die er sich so sehr zu eigen machen wollte. Die Luft um ihn herum schien zu vibrieren, als die Magie sich manifestierte.
“Por Ort Flam!”
Dann geschah es. Es manifestierten sich drei flammende Pfeile, die vor Hitze und Energie glühten. Das Gefühl war unbeschreiblich. Ein Rausch, der jede Faser seines Seins durchdrang. Es war, als ob er einen Teil seiner Selbst in die Welt hinaus sandte, gebändigt und doch wild. Die Feuerpfeile waren ein Zeichen seines Fortschritts, eine Bestätigung seiner Fähigkeiten und seiner Hingabe zur Magie.
Es war besser als jeder andere Triumph, den er bislang erlebt hatte. Er wollte mehr davon, mehr Wissen, mehr Macht. Seine Leidenschaft brannte heller als je zuvor und er wusste, dass dies erst der Anfang seiner Reise war. Mit jedem Tag wuchs sein Verständnis und seine Fähigkeit. Er versprach sich selbst, niemals aufzuhören zu lernen und zu wachsen.