Waldgeschichten

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Shira'niryn
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Re: Waldgeschichten

Beitrag von Shira'niryn »

Das erste Mal seit ihrer Wiedergeburt war es nun so weit, die Wälder und Caladlorn zu verlassen. Sie hatte eingewilligt, auch der Neugierde geschuldet, Livius nach Solgard zu begleiten. Ein gewisser Rodirian würde sich für die Museumsbibliothek interessieren und so stand wohl ein Gespräch an, um eventuelle Formalitäten zu klären. Zuerst zögerte sie, irgendwie war ihr der Gedanke nicht ganz geheuer, so kurz nach ihrem neuen Leben eine Gegend zu betreten, die so fern der wilden Natur lag. Allerdings wusste sie auch, dass sie viel verpasst hatte und wieder vieles neu lernen musste, so wäre eine kleine Reise sicherlich nicht verkehrt.

Die eigentliche Reise war schnell, wie immer. Der Drachenmagier erschuf einen magischen Pfad, der sie direkt vor Solgard bringen würde. Shira'niryn zögerte kurz, bevor sie die schimmernde Schwelle übertrat und kaum hatten ihre Füße Halt auf der anderen Seite gefunden, war es wie ein plötzlicher Stoß, der sie erfasste. Die kalte Luft lag hinter ihr, und vor ihr ruhte der deutliche, erdrückende Kontrast der wärmeren Gefilde, der Wüste und der Steppe. Ein unangenehmer Kontrast, der ihr für einen Moment die Luft raubte und sie blinzeln ließ, allerdings war da noch mehr. Etwas anderes war hier auch verkehrt. Es fühlte sich... falsch an? Als wäre das lebendige, quirlige der Umgebung, was sie im Wald gespürt hatte, hier nahezu verschwunden? Gedämpft, schwer zu greifen oder zu vernehmen. Es fühlte sich ... tot an. Sie wusste nicht so recht, wie sie das beschreiben sollte, aber auch Livius registrierte, wie unwohl sie sich fühlte. Er bot ihr an, umzukehren, aber sie schüttelte den Kopf. Wegrennen würde sie nicht, sie würde das schon ertragen.

Auch innerhalb der schweren Mauern von Solgard wurde das Gefühl allerdings nicht unbedingt besser. Die breite Pflasterstraße unter ihren Füßen und die großen Backsteingebäude, die sich zahlreich dort befanden, vermittelten ein eigenartiges Gefühl. Es war kein Vergleich zu Caladlorn, und auch wenn die Solgarder sich offenbar Mühe gegeben hatten, die Natur nicht vollständig auszuradieren, so wirkte sie doch ... gezähmt? Sie fühlte sich irgendwie fehl am Platz, als wäre das kein Ort, wo sie sein sollte... oder war das nur der Ungewohnheit und ihrem 'jungen' neuen Leben geschuldet? Fehlte es ihr noch an Kontrolle? Manche Dinge brauchten ihre Zeit, um zu wachsen und sie wusste, dass dies bei ihr auch der Fall war. Sie spürte es, dass ihr noch etwas fehlte, dass sie noch nicht wieder ganz 'die Alte' war. Da war eine Leere, in die sie griff, während sie die Straßen von Solgard betrachtete und den Weg zur Museumsbibliothek ging.

Sie versuchte, die Anspannung abzuschütteln und in ihrem Inneren zu vergraben, auch um die Unterhaltung mit Rodirian nicht damit zu belasten. Stattdessen begnügte sie sich in den ersten Moment damit, die Auslagen und Regale zu betrachten - Wer weiß, was sich in den Wochen ihrer Abwesenheit alles verändert haben mochte. Es half, sich auf die vielen Artefakte und Sammelstücke zu konzentrieren, auch wenn der Anblick der Angolquarze ihr die stumme Bestätigung für etwas gab, was sie bereits vermutet hatte. Da war keine Verbindung mehr, zu diesen Kristallen, oder Kristallen allgemein. Wieder nur Leere, es waren nur noch bloße Artefakte, nichts, wo sie eine engere Beziehung zu fühlte.
Das Gespräch an sich verlief ruhig und sie nahm es sich auch nicht, die ein oder andere Neckerei gegenüber den Drachenmagier einzuwerfen. Die meiste Zeit jedoch überließ sie es ihm, dem Interessenten mitzuteilen, worauf es bei einer Mitarbeit ankommen würde. Rodirian wirkte aufgeschlossen und interessiert, er würde sicherlich eine gute Arbeit machen.

Zu Shira'niryns Glück dauerte die Unterhaltung auch nicht lange, nicht, weil ihr jene zu langweilig erschien oder sie kein Interesse daran hatte, sondern eher, weil sie schnellstmöglich den Ort verlassen wollte. Entsprechend erleichtert war sie, als das Ende verkündet wurde ... nur um dann von Livius doch noch quer durch Solgard geschleppt zu werden. Bis ganz an das Ende, wo er ihr ein Grundstück zeigte. War er stolz darauf? Es wirkte fast ein wenig so. Ein Grundstück, das er erworben hatte, ein Grundstück, auf dem ein Haus für ihn und für sie errichtet werden sollte. Es verwirrte sie zuerst. Sie hatte in dem Drachenmagier nun nicht unbedingt eine Person gesehen, die eine solche Handlung vollführen würde und sie war auch nicht sicher, ob sie sich in diesem Haus, in Solgard, jemals so wohlfühlen würde, wie in Caladlorn. Der Vorteil am Grundstück war nur, dass der Strand in der Nähe war und auch sonst noch keine Bauten dort standen. Ein Stück Natur. Noch. Auch wenn die Zäune bereits zeigten, dass es sich ändern würde. So recht wusste sie nicht damit umzugehen. Das merkte vermutlich auch der Drachenmagier, sie entnahm seinem Blick eine gewisse Nachdenklichkeit, die jedoch nicht von Worten begleitet wurde.

Endlich war es jedoch an der Zeit, dass er erneut den magischen Pfad öffnete, damit sie aus Solgard hinaus 'fliehen' und in die kühle Winterlandschaft des Feenwaldes eintauchen konnte. Sogleich spürte sie es wieder, das angenehme Kribbeln unter ihren Fingerspitzen, diese Lebhaftigkeit dieses Ortes, obwohl die schwere Winterdecke schlummernd über allem lag. Sie freute sich bereits auf den Frühling, dann, wenn alles wieder erwachen würde. Das musste ein atemberaubendes Gefühl sein. Verschwunden waren sogleich die bedrückenden Gefühle, die sie zuvor noch in der Wüste und in Solgard vernommen hatte. Hier fühlte sie sich wohl.
• Wir müssen säen, ohne zu nehmen. •
• Pflegen, ohne zu zerstören •
• und lernen, ohne zu vergessen. •
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Shira'niryn
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Re: Waldgeschichten

Beitrag von Shira'niryn »

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Varyariel hatte wirklich einen einzigartigen Ort geschaffen. Ein Ort voller Blütenpracht und der Wärme des Frühlings, in welchem gemütliche Satalas den Mittelpunkt bildeten. Sie luden förmlich dazu ein, sich in sie zu schmiegen und sich sanft schaukeln zu lassen. Aber sie war nicht nur hier, um die Anwesenheit von Varyariel oder Thrilmanduil zu genießen, sie war vor allem auch mit Fragen nach Loriendor gekommen. Fragen, die sich seit ihrer Neugeburt aufgetürmt hatten und wo sie glaubte, sie würde sie bei den Lindhil finden.

Seit ihrer „Neugeburt“, wie sie es selbst nannte, hatte sich ihre Wahrnehmung verändert. Die Magie, die einst mühelos aus ihrem Inneren heraus existierte, von dem sie ein fester Bestandteil gewesen war, war nun anders. Sie fühlte sich mehr mit der Natur verbunden, konnte ihre Kraft spüren, doch das einstige Sehen des Schleiers zwischen den Welten war ihr nun verwehrt. Ein Preis, den sie gern bezahlt hatte, fühlte sie sich doch dafür viel vollständiger... ja gar "vollendet", wenn man es so sagen konnte.

»Vor allem im Wald spüre ich es deutlich. Es ist so ein unterschwelliges... Kribbeln, als würde ich ihn verstehen können, aber ich kann euch nicht wirklich erklären, warum oder wie. Das ist mehr... so eine Gewissheit? Und ich frage mich, inwieweit... und was Hornblume mir letztendlich geschenkt hat.«

Mit einer Hand auf ihrem Brustkorb hatte sie den Blick zwischen Varyariel und Thrilmanduil hin und her schwenken lassen, die sie beide aufmerksam beobachteten. Es war ein wenig schwer in ihren Mimiken zu lesen, was sie wohl dachten? Schließlich war Thrilmanduil es, der mit einem Nicken wieder die Stimme erhob.

»Du kannst dir sicher denken, wie schwierig es für uns ist, so etwas jemandem zu erklären, der etwas Vergleichbares nicht selbst fühlt. Oft haben Menschen probleme das nachzuvollziehen, was du beschreibst. Aber du erinnerst dich gewiss noch an die Erfahrung, die du einst machen konntest, im Calen'aeron? Als ich dir mein Gespür zugänglich machte, damit du die Melodie des Eryn fühlen konntest?

Shira'niryns Mundwinkel zucken hinauf. Sie erinnerte sich noch sehr gut an diese erste Erfahrung und ebenso daran, was sie bisher im Feenwald erlebt hatte, was ganz ähnlich, wenn nicht sogar gleich war.

»Ich... glaube... ich kann diesen Zustand mittlerweile selbstständig hervorrufen... zumindest -glaube- ich... dass ich es auf der Lichtung erlebt habe. Wenn auch.. das letzte Mal.. nicht so intensiv? Aber ich weiß nicht, ob das nicht meine eigene Schuld war. Ich... bin sehr vorsichtig bisher gewesen mit dem, was ich nun kann.«

»Es fühlt sich also ähnlich an, und vertraut mae? Vorsicht ist nie verkehrt. Das Lied des Waldes, seine Stimmen, sind zwar schön und erhebend, aber auch stark wie ein reißender Fluss.«


Dieses Mal konnte sie selber das Haupt bestätigend neigen, sie hatte es gefühlt. Die nagende Gefahr sich einfach in den Gefühlen zu verlieren, um sich vom Strom mitreißen zu lassen. Aber da war noch mehr. Mehr als das. Sie erzählte von den eher unwohlen Gefühlen, die sie überkamen, wenn sie fern der Wälder war. Besonders im Ascheland, den Städten oder gar in der Wüste. Es fühlte sich dann an, als wäre sie fern von etwas, aber genauer konnte sie es nicht beschreiben. Nachdem sie ein wenig hilflos versucht hatte, die Gefühle die sie empfand für die beiden Lindhil zusammenzufassen, stellte Thrilmanduil ihr lediglich eine Frage.

»Was denkst du könnte das sein?«

Wenn sie das wüsste! Die Nase kräuselte sich sanft, dann bildete sich aber mehr ein schiefes Lächeln auf ihre Mimik und sie sprach ihre Vermutung einfach offen aus.

»Offenbar... irgendeine Art Verbindung zum Geburtsort. Ich spüre es... deutlich im Feenwald. Als wäre ich dort Zuhause, als wäre ich dort willkommen und... genau so ein Teil von diesem wie jedes Blatt...jeder Käfer oder jedes Reh.«

Die Antwort spielte ein kleines Lächeln auf die Gesichtszüge von Varyariel und Thrilmanduil nickte mit einem nachdenklichen Laut in einer langsamen Geste. Er bestätigte, dass auch die Lindhil sich in Städten, dem Öd- oder Ascheland unwohl fühlen würden, überall dort wo die Natur wenig präsent oder gar zerstört ist. Oder gar dort, wo sie in ihrem natürlichen Fluss, ihrer freien Entfaltung gestört wird, wie es bei Städten häufig der Fall wäre. Als würde der Fluss der Kräfte sich dort "falsch" anfühlen, eine unterschwellige Dissonanz, als würde jemand ein Lied schief singen oder spielen. Seine Vergleiche waren so passend, dass Shira'niryn diese merkwürdigerweise ganz genau nachvollziehen konnte. Als hätte er es wesentlich eleganter geschafft, ihre Gefühle in Worte zu fassen.

»Das Faer fließt an Orten unberührter Natur, die im Gleichgewicht sind am stärksten.«

»Das Faer. Wie... erklärt ihr es?«

»Hmm, normalerweise brauchen wir das nicht. Wir fühlen es einfach.«


Der Blick der beiden Lindhil sprach davon, dass es keine Worte dafür gab und so war es Thrilmanduil, der sich letztendlich erhob und die beiden Pferde betrachtete, die am Rand der Blumenwiese grasten. Er fragte, welches davon jenes wäre, dass Shira'niryn begleiten würde und sie deutete auf ihre Stute, Tinuviel. Jenes Pferd mit dem ungewöhnlich schimmernden Fell, als wäre es ein Spiegelbild von ihrem eigenen, neuen und eigenartigen Aussehen. Mit einer Geste seiner Hand brachte er die beiden Frauen dazu, sich zu ihm zu gesellen, während er zusammen mit der Stute, die ihm instinktiv zu folgen schien, einen Platz etwas weiter entfernt, an einem kleinen Teichsuchte.

»Sieh dir Tinuviel an. Sieh dir an wie ruhig sie ist... wie sie da grast. Ganz frei... im Einklang mit der Umgebung... kauend. Erlaube dir selbst sie zu fühlen. Wie sie atmet. Atme mit ihr. Lausche... fühle wie ihr Herz schlägt. Das Blut strömt durch ihre Venen... rauscht in ihren Ohren. Ihr Herzschlag... stark... kraftvoll... gesund. Sie ist ruhig... doch... man kann spüren... würde sie rennen... sie ist schnell. Versuch diese Kraft in ihr zu spüren... die Freude am Rennen. Lass dich davon durchströmen... von ihrer Kraft.. .ihrem Faer....«

Während sie den Worten Thrilmanduils lauschte und Varyariel nun mit offensichtlicher Neugierde die Beiden zu beobachten schien, graste die Stute einfach nur vor sich her. Shira'niryn versuchte den Worten nicht nur zu lauschen, sondern ihnen auch zu folgen. Eins mit dem Strom zu werden, der alle Lebewesen und die Natur miteinander verbanden. Tinuviel zu fühlen. Als wäre es ihr Blut, das durch ihre Venen rauscht. Ihr Herzschlag, der kraftvoll und gesund wäre. Ihre Beine, die voller Kraft wären, als wären sie in der Lage weite Strecken in erstaunlicher Geschwindigkeit zu überwinden. Sie fühlte es das Kribbeln in ihren Beinen, das Summen unter ihren Fingerspitzen, während ihre Atmung sich der des Tieres anglich. Ihre Ohren zuckten, die Ohren der Stute taten es ebenso und irgendwann hob Tinuviel den Kopf, um die drei Zweibeiner zu beobachten. Als wäre sie sich bewusst darüber, was gerade geschah.

»Das Faer eines Lebewesens fühlen... seine innere Kraft fühlen... das kann dir selbst Kraft geben. Alles Leben ist verbunden.... ist eins...«

Tinuviels Nüstern weiteten sich und mit einem Schnauben stieß ihr Vorderhuf etwas deutlicher auf den Boden auf. Da war dieser innere Drang, der Shira'niryn überkam, der Drang zu rennen, frei wie der Wind zu sein.

»Es fühlt sich an als könnte ich schnell wie der Wind in wenigen Momente bis nach Solgard rennen.«

Murmelte sie schließlich leise, abgelenkt und Thrilmanduil lächelte auf.

»Dann lauf!«

Rief Thrilmanduil mit plötzlicher Lebhaftigkeit aus, und ohne zu zögern, sprang er voran um sich mit weiten Sprüngen in Bewegung zu setzen. Von diesem berauschenden Gefühl ergriffen, lachte sie selber zuerst auf. Ihr Herz schlug aufgeregt, als sie sich in Bewegung setzte. Ihre Füße trugen sie leicht wie ein Blatt im Wind in weiten Kreisen um den Teich herum, während Tinuviel ihr nicht weniger aufgeregt folgte, als hätten sie sich gegenseitig dazu motiviert. Der Rausch der Bewegung, der Drang, dem Moment zu folgen, war überwältigend.
Plötzlich - ein lautes Platschen. Sie hielt abrupt an, ruderte mit den Armen, um nicht selbst ins Straucheln zu geraten, und sah, wie Thrilmanduil lachend aus dem Wasser auftauchte. Er war offensichtlich einfach in den kleinen Teich hineingesprungen und auch Tinuviel stoppte ruckartig, um mit einem Schnauben und Tänzeln auf der Stelle zu verharren.

»Das ist Leben, Shira! Das bedeutet es, zu spüren!«

Rief Thrilmanduil, mit strahlendem Gesicht, während Varyariel alles mit einem vergnügten Lächeln beobachtet hatte. Mit einem belustigten Schnaufen stützte Shira'niryn sich mit den Händen auf ihre Knie ab, ihre lavendelfarbenen Wangen schimmerten dunkler vor Aufregung. Sie fühlte sich lebendig, mehr als je zuvor. Sie fühlte den Atem und den Herzschlag ihrer Stute, die dicht hinter ihr langsam wieder zur Ruhe kam. Der restliche Abend verstrich in weiteren Gesprächen über das Faer, über Magie, über die Verbindung zum Leben selbst. Ihr wurde erzählt, wie die Lindhil diese Gabe nutzen würden, um sich im Winter durch die Verbindung mit einem Bären zu wärmen, oder den scharfen Blick eines Adlers nutzen, um weit zu blicken. Dinge die ihr damals noch so unerklärlich schienen, die ein dicker fetter Knoten aus Verwirrung gewesen waren, klärten sich langsam. Es fühlte sich an, als hätte sich dieser Knoten zu Lösen begonnen.. eine Bestätigung dessen, was sie bereits gespürt hatte, und ein Verständnis, das sich nun langsam formte.

Sie war dankbar um diese Erfahrung, dankbar das die beiden Lindhil sie mit ihr geteilt hatten und das nächste gemeinsame Zusammenkommen würde weitere Dinge offenbaren, da war sie sich sicher.
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Shira'niryn
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Re: Waldgeschichten

Beitrag von Shira'niryn »

Der Morgennebel hing noch schwer zwischen den moosbewachsenen Bäumen des Feenwaldes, wo das Licht der Sonne in schimmernden Schleiern durch das Blätterdach fiel. Es war einer dieser Tage, wo sie sich in ihrer ursprünglichen Gestalt auf den Weg machte, um für die ersten Stundenläufe des Tages einfach ein Teil der Wildheit des Feenwaldes zu sein. Sie hatte es sich mit der Zeit angewöhnt, war sie doch zu selten wirklich 'als sie selber' unterwegs und da war ein Funke von Sorge, ihr wahres Ich zu vergessen. In jener wahren Gestalt, der Gestalt eines Blütendrachens, bewegte sie sich beinahe lautlos durch das Dickicht, ihr schimmernder Schuppenpanzer reflektierte das Sonnenlicht in zarten Pastelltönen, die an Perlmutt erinnerten, und allen voran ihre Flügel waren versehen von unzähligen rosa- bis lavendelfarbenen Blüten. Ihre Gestalt war wie eine Manifestation der Blumenwiesen des Feenwaldes, oder wie eine Erinnerung an Hornblume.

Der Feenwald war lebendig - nicht nur in dem Sinne, dass er atmete, wuchs und summte, wie viele andere Wälder es auch taten, wenn man ihnen nur zuzuhören vermochte, sondern auf eine tiefere Weise. Es war ein Ort, in dem jede Pflanze, jeder Stein, jedes Flüstern im Wind ein Fragment eines uralten Bewusstseins trug. Ein Bewusstsein, das aus einer Quelle gespeist wurde: Hornblume, der Lindwurm, der Götterdrache, der vor wenigen Mondläufen befreit und in diesem Wald aufgegangen war, er hatte seinen Leib und Geist mit dem des Waldes verschmolzen, um eins zu werden mit allem, was hier wuchs und sang.

Der Feenwald war Hornblume, Hornblume war der Feenwald.

Der kleine Blütendrache war hier neu geboren worden - im Schoß des Waldes, im Zentrum der Feenlichtung. Sie erinnerte sich an jenen Moment, wie sie aus der Schwärze eines alten, beendeten Daseins das erste Mal das Licht des Lebens aus neuen Augen betrachten konnte. Ihr Körper neu geformt, frierend durch die winterliche Luft, ihr Bewusstsein im Einklang mit der Kraft des Waldes sie herum. Die Wurzeln hatten sie aufgenommen, die Bäume und Tiere begrüßt, der vermeintliche Herr des Waldes sich gezeigt. Damals war alles noch neu, überwältigend, die vielen Blicke fast beängstigend, heute dankte sie Hornblume dafür mit jeder Phase ihres Körpers.

Die Verbindung zum Faer der Natur, die sie durch die Wiedergeburt geschenkt bekommen hatte, war unmittelbar, fast instinktiv und besonders ausgeprägt, wenn sie ihre eigentliche Gestalt trug. Und doch spürte sie, wie ihre Sinne sich schärften, wie ein Drang in ihr erwachte ... ein drängendes Ziehen, wild und fremd. Je mehr sie verstand sich mit dem Faer zu verbinden, je mehr sie verstand wie ihr neues Wesen funktionierte, desto häufiger fühlte sie diesen schwer zu widerstehenden Drang. Etwas, das tief aus ihrem Innersten kam. Ein alter Instinkt ihrer Natur. Der Drang zu jagen, zu reißen, Beute zu schlagen. Es war ein Gefühl, das ihr fremd und zugleich erschreckend vertraut war, als wäre da ein schlummerndes Raubtier in ihrem Inneren. Lebendig zu sein, bedeutete Bedürfnisse und Gefühle zu haben. Drachen waren Raubtiere, einen Aspekt ihrer selbst, den Shira ob der Fangzähne nicht ignorieren konnte - aber es irgendwie wollte? Sie hatte stets darauf geachtet, keinem Tier unnötig Leid zuzufügen, sie war eine Hüterin, eine Heilerin, die jedoch nun mit einem inneren Trieb rang, der sich nicht einfach mit Vernunft oder Rationalität bezwingen ließ. Bisher hatte sie ihn unter Kontrolle gehabt, hatte die Gestalt, in welcher der Trieb besonders präsent war, seltener angenommen, dass es selbst Livius schon aufgefallen war. Wölfe jagten auch ihre Beute. Wölfe rissen auch unschuldige Tiere. Aber sie taten es, um zu überleben und es gehörte zur natürlichen Ordnung. Sie konnte auch ohne überleben, oder? Sie musste kein Reh ermorden, nur um einem Instinkt zu folgen, der seinen Ursprung im Blut der Drachen fand. Oder verleugnete sie somit das, was sie war?

Livius.

Sie hatte sich noch nicht richtig mit ihm darüber unterhalten. Sie hatte angenommen, gerade er, mit seinem inneren Wolf, wüsste damit umzugehen, aber er unterdrückte diesen schon lange und irrationaler Weise befand sie es bei ihm als etwas Ungutes, während sie nun selber damit beschäftigt war. Wie oft hatte sie ihm in Vergangenheit gesagt, er solle den Wolf nicht unterdrücken? Es war einer der vielen Punkte, wo sie sich uneins waren. Die Natur der Gegenteiligkeit war jedoch etwas, was sich durch ihre gesamte gemeinsame Existenz zog. Unter gewöhnlichen Umständen hätten sie wohl nie zueinander gefunden. Ihre Ansichten zur Welt, zu Ordnung und Wandel, zu Leben und Pflicht - so vieles war verschieden.

Wäre da nicht die Verbindung ihrer Seelen gewesen, die Umstände ihrer ersten Geburt, der Anfang ihrer Existenz, die ihr Dasein bereits an seinen Weg verflochten hatten. Manchmal glaubte sie sogar, dass sie ihn mit ihrer unbekümmerten, fröhlichen Art nervte oder überforderte - besonders dann, wenn sie Probleme oder Umstände eher mit einem mehr naiven Ansatz behandelte oder etwas auf die leichte Schulter nahm, während in ihm bereits Ärger und Ungeduld brodelten. Auf der anderen Seite, war sie der festen Überzeugung, dass sie es war, die wusste seine Grimmigkeit und seinen Zorn in eine positive Bahn zu lenken. Ohne sie, da war sich die kleine Blütenschwinge sicher, wäre er wie der Parallelwelt Livius vermutlich nun ein Teil der dunklen Seite der Bevölkerung. Vielleicht wäre er wirklich, wie einst gewollt, Mitglied im Bund der Magier geworden, vielleicht hätte er die Gruppe der Schwingen zurückgeholt, vielleicht wäre er der Livius geworden, der den Himmelsriss verursacht hätte.
Das würde sie aber niemals zulassen.

Die Zeitschleife, in die Primus ihn gesteckt hatte, hatte ihn älter zurückgebracht - um ganze zehn Winter mehr. Graue Strähnen durchzogen jetzt sein dunkles Haar und auch in seinem Innersten hatte sich etwas verändert. Nicht auf eine finstere oder abweisende Weise, sondern eher etwas Subtiles. Eine neue Selbstsicherheit im Umgang mit seinen Kräften war in ihm erwacht, etwas, was sich auch in seinem Verhalten widerspiegelte. Sie konnte noch nicht genau mit dem Finger darauf zeigen, was es war, dass sich verändert hatte. Jedoch bemerkte sie vor allem in den ersten Tagen auch eine Unruhe, eine leise Unzufriedenheit, die er sorgfältig zu verbergen suchte. Als könnte er jemals etwas vor ihr zu verbergen.

Allerdings war da auch die Sorge, die mit seiner Alterung gekommen war. Eine Sorge, die Shira in sich trug und die sich vor allem darauf aufbaute, dass sie nicht wusste, wie viele Jahrzehnte oder Jahrhunderte ihm noch blieben. Wie viele Jahre hatte der Segen des Sternendrachen ihm geschenkt? Wie viel Zeit würde der Wolf ihm geben? So oder so, sie war sich sicher, dass es eine kürzere Spanne war als bei ihr und das schmeckte ihr nicht. Eine Weile würde sie an diesem Morgen und schließlich dem Vormittag noch durch den Feenwald streichen, vielleicht in der Wurzelhöhle ruhen, bis ihr Weg sie wieder in der zweibeinigen Gestalt nach Hause führen würde.

Vielleicht sollte sie endlich mal mit Livius über Mizrae reden.
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