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"Und den Mordstahl seh' ich blinken
Und das Mörderauge glühn;
Nicht zur Rechten, nicht zur Linken
Kann ich vor dem Schrecknis fliehn;
Nicht die Blicke darf ich wenden,
Wissend, schauend, unverwandt
Muß ich mein Geschick vollenden
Fallend in dem fremden Land "
Friedrich Schiller
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Von Rubinen und Diamanten
Die Träume über ihren Bruder waren nur wenige in einer langen Reihe an verschiedensten Albträumen, die sie zunehmend heimsuchten. Die daraus resultierende Müdigkeit sowie Unkonzentriertheit fiel unweigerlich auch dem Alten auf. Eine falsch gesetzte Naht, eine unsauber gezeichnete Rune oder eine krakelige Handschrift. Die unruhigen Nächte machten ihr deutlicher denn je zu schaffen, schwer zu sagen, ob es die gewaltige Anzahl war, oder einfach die lange Zeit über die sie sich schon erstreckten. Dazu die quälende Ungewissheit, jeden Mond aufs Neue die Nachricht von den Samtpfoten, dass nichts herausgefunden werden konnte.
»Spricht sie zu dir?«
Die Frage Rasheems riss die Schwarzhaarige beim Abendessen aus ihren Gedanken und blinzelnd richtete sie ihren Fokus auf den neugierig-besorgten Blick ihres Mentors. Aus der Abneigung, der fröstelnden Höflichkeit, dem Misstrauen, war mit der Zeit ein Funke von schülerlicher Zuneigung erwachsen, den sie aber tapfer versuchte zu verbergen. Sie -wollte- ihm nicht vertrauten, -wollte- ihn nicht mögen, aber wer konnte schon sein Herz kontrollieren? Nichtmal sie.
»Nicht… nicht wirklich. Es ist meistens kaum mehr als ein Klappern und Rascheln. Als würde sie mich verspotten oder als… wäre sie ungehalten?«
Während sie antwortete, griff sie mit so unruhig zitternden Fingern zu ihrem Wasserglas, dass sie es direkt nach dem Anheben auch wieder abstellen musste, um nicht etwas zu verschütten. Natürlich entging das Rasheem nicht.
»Ich dachte… uns würde mehr Zeit bleiben, aber es scheint so, als fordere der Lord endlich dein erstes Opfer ein. Am Anfang vergehen meist erst ein paar Mondläufe, teilweise sogar bis zu einem Jahreslauf, doch ab einem gewissen Punkt wird die Elster unleidig, ungeduldig und du spürst den Ausdruck jener Unart bestimmt am eigenen Leib. Sobald du ein Opfer gebracht hast, sollte wieder für eine Weile Ruhe herrschen.«
»Und was ist, wenn ich… mich weiger?«
»Dann werden die Symptome immer schlimmer, bis du wirklich wahnsinnig wirst oder lieber stirbst, als es länger zu ertragen.«
Eine tiefe Furche bildete sich auf der Stirn Aasthas, während sie den Worten des Alten lauschte. Sie mochte es nicht in einer Situation zu stecken, wo ihr nicht wirklich die Wahl blieb - denn zu sterben, das war gewiss keine Lösung, die sie akzeptierte, mochte der Irrweg des Lebens noch so kräftezehrend sein. Aber sie hatte ihr Ziel, ihren Bruder zu finden noch nicht erreicht.
»Das heißt… ich muss mich um ein Opfer kümmern…? Wie läuft das ab?«
Ein mildes Lächeln legte sich auf die faltigen Gesichtszüge Rasheems und ein Nicken bestätigte die Vermutung der Schwarzhaarigen. Am selben Abend noch begann er Aastha über die Grundlagen in Kenntnis zu setzen - Dinge, die sie wissen musste, damit seine Hilfe in Zukunft nicht mehr vonnöten wäre. Sie lernte, dass die Art, wie das ausgewählte Opfer starb, keinerlei Relevanz hatte - ob vergiftet, erstochen, erschossen oder irgendetwas anderes. Am Ende war es nur wichtig, dass der tatsächliche Tod eintraf. Auch bei der Wahl des Opfers schien es einige Freiheiten zu geben, doch mit einer Einschränkung und diese war so wichtig, dass Rasheem von ihr verlangte, es sich immer wieder in Erinnerungen zu rufen. Auch im Reich der Dämonen, dem Abyss, gab es eine Hierarchie und Lord Cha’ckal war nicht derjenige, der dort an der Spitze stand. Sie sollte sich hüten, eine Seele zum Lord zu bringen, die nicht in sein Reich gehörte, oder besser gesagt, die jemand beansprucht hatte, der weitaus höher als der Seelenfresser stand.
»Wie bringe ich die Seele denn letztendlich in sein Reich?«
»Du gar nicht. Es sind die Elstern, die kommen werden. Sie wissen über jene, die in dir ruht, Bescheid und tauchen meistens schnell genug auf, dass sie die Seele stehlen können, ehe sie in den Äther gelangt.«
»Also… mache ich eigentlich gar nichts… außer jemanden zu töten?«
»Mehr wird nicht von dir verlangt, solange du kein falsches Opfer wählst.«
Irgendwie war die Vorgehensweise ernüchternd für Aastha. Sie hatte es sich eindrucksvoller und wichtiger vorgestellt… nicht so... banal. Natürlich beunruhigte sie es, zu wissen, dass eine gewisse Beobachtung durch die Elster herrschte und dass da offenbar ein Band oder irgendetwas anderes war, was zwischen ihr und den anderen existierte. Etwas, was sie noch nicht so richtig verstand und auch etwas, was Rasheem ihr nicht beantworten konnte… oder wollte?
Am nächsten Abend machten sie sich auch schon auf den Weg durch die Gassen der Stadt. Die Vergangenheit von Aastha brachte ihr den Vorteil, dass sie die verwinkelten und dunkleren Wege Moorheims kannte - eben jene Ecken, wo Verbrechen oder unlautere Geschäfte nicht unbedingt auffielen. Rasheem folgte ihr, erstaunlich leise für sein Alter, doch machte die Schwarzhaarige sich keine Gedanken darüber. Sie war an einem Punkt angekommen, wo sie ihren Mentor weder hinterfragte noch sich irgendwie Gedanken um seine Absonderlichkeiten machte. Magier, dachte sie immer, waren irgendwie merkwürdig. Als der Mond sich langsam über die Dachspitzen Moorheims drängte, hatte Aastha letztendlich ihr erstes Opfer gefunden. Ein Mann, offenbar betrunken, wankte in der Nähe durch eine Gasse - nicht sehr vorsichtig von ihm, aber der Alkohol hatte seinen Verstand weit genug vernebelt. Es würde sie nicht wundern, wenn er bei den Sampfoten gewesen wäre. Während sie ihn beobachtete, schlossen ihre Finger sich fester um den Griff des Dolches, den sie zuvor von Rasheem bekommen hatte. Sie hatte zwar schon getötet, aber es war immer aus einer notwendigen, spontanen Situation heraus entstanden - nicht so. Nicht so vorsätzlich und vorbereitet. Das nervös schlagende Herz konnte sie so nicht unter Kontrolle bringen und sie spürte die Hand des Alten, der sich auf ihre Schulter legte, als wüsste jener um ihre Nervosität. Sie fühlte die Elster in ihrem Inneren, als würde jene voller Aufregung unter Strom stehen und dieser unerklärliche Drang zum Töten wurde stärker denn je, schnürrte ihr förmlich die Kehle zu und drückte ihr den Brustkorb zusammen. Für einen Augenblick glaubte sie, es würde ihr den Verstand rauben, doch geraunte Worte Rasheems und ein etwas festerer Griff holten sie zurück.
Es passierte eigentlich ganz schnell, ab dem Moment, in dem Aastha den Entschluss gefasst hatte. Nahezu lautlos hatte sie sich schließlich hinter den Betrunken platziert und ehe jener in seinem Zustand realisieren konnte, was passiert war, befand sich die kalte Klinge des Dolches in seinem Hals. Ein Gurgeln, ein Keuchen, ein Winden und ein panisches Schlagen mit den Armen - doch für den armen Kerl war in diesem Augenblick jede Hilfe zu spät. Sie spürte das warme Blut des Unbekannten über ihre Finger hinweglaufen, langsam über Handrücken und die Arme, bis der Mann mit einem Röcheln zusammenbrach. Aastha selber fühlte sich wie in einem Rausch, doch es war ein gutes Gefühl, als würde zum ersten Mal das drängende, quälende Gefühl in ihrer Brustgegend weichen und unbegrenzter Euphorie Platz machen. Als könnte sie zum ersten Mal seit Monaten unbeschwert atmen und während sie vollkommen erleichtert den Unbekannten betrachtete, der auf dem Boden liegend seinen letzten Atemzug tat, spürte sie, wie Rasheem sich neben ihr stellte und ihr die geöffnete Hand darbot.
Auf der Handfläche des Alten lagen zwei Edelsteine, oder zumindest Steine, die so aussahen, als könnten es welche sein. Ein Rubin und ein Diamant, weder sonderlich fein geschliffen, noch besonders rein oder schön in ihrer Optik. Ratlos wollte die Schwarzhaarige zu ihm hinaufblicken, ehe ein Bild durch ihr Inneres zuckte.
Gestalten mit glühenden Augen, eines rot, das andere weiß. Federn bedeckten die schattenverschleierten Gliedmaßen und ein erneut drängenden Gefühl machte sich in ihrer Brust breit. Die Elster. Aber diesmal wusste sie, was sie wollte.
Langsam nahm sie die beiden Edelsteine von Rasheem an, um sich neben dem Toten zu knien. Der tote Mann lag da, leblos, das Blut bereits dabei, zwischen den Pflastersteinen der winterlichen Nacht zu verschwinden, und doch... war da etwas geblieben. Etwas Unsichtbares, das zwischen den Welten hing, wie ein Schleier aus flüchtigem Rauch, sie konnte es nicht sehen, nicht greifen, aber etwas in ihrem Inneren teilte ihr mit, das es noch da war. Einen Augenblick zögerte sie. Ihre Finger waren kalt, feucht von Blut, zitternd, diesmal eher vor Euphorie, als vor Erschöpfung, aber sie folgte der Geste. Sorgsam platzierte sie mit den Fingerspitzen die beiden Edelsteine auf den Augenhöhlen der leblosen Mannes, eine Geste von der die zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, wie häufig sie jene in der Zukunft anwenden würde.
»Du solltest seine Augen unbrauchbar machen.«
Die vollkommen ruhige Stimme des Lehrmeisters ließ sie für den Augenblick irritiert über die Schulter blicken. Der fragende Ausdruck auf ihrer blassen Mimik, während die Schneeflocken begangen vom Himmel zu fallen, brachte ein kleines Schmunzeln auf die Gesichtszüge Rasheems.
»Vertrau mir, es ist sicherer, die Augen zu entfernen.«
Ein träges Nicken folgte von der Schwarzhaarigen und sie griff wieder nach ihrem Dolch. Erst ein geplanter Mord, nun das Herumschneiden an einer Leiche. Es war wohl für alles irgendwann der erste Moment gekommen. Sie rümpfte die Nase und kümmerte sich in den nächsten Atemzügen jedoch darum den Ratschlag ihres Lehrmeisters in die Tat umzusetzen. Ungeübter Hand entfernte sie die Augen, für die Rasheem ihr ein Glas offerierte und schließlich fanden die Edelsteine wieder ihren Platz auf den nun leeren Augenhöhlen. Sogleich spürte sie wieder die Elster in ihrem Inneren, als hätte sich jene für den Augenblick der Lehrstunde tatsächlich zurückgehalten. Euphorie, Rausch und schließlich ein Ziehen. Ein Flattern tief in ihrem Innersten, als würde etwas in ihr erwachen, sich dehnen, die Flügel spreizen. Dann die Stille. Und dann ... das Knacken.
Mit einem Mal wurde die Luft schwer und süß, wie überreifes Obst. Ein Geräusch von Flügelschlagen lag in der Luft und doch tauchte die Kreatur wie aus dem Nichts aus. Da war kein logisch nachzuvollziehender Ort, von dem sie hätte herkommen können in dieser kalten, winterlichen Gasse. Eine Elster - oder das, was sich als Elster tarnte? Ihre Körper wirkten wie aus Rauch gewebt, ihre Federn schimmerten im Licht der Gassenlaterne wie Öl auf Wasser. Ihren Augen waren zweifarbiger Natur, das eine gleißend weiß, das andere von einem glühenden Rot. Sie bewegte sich nicht wie ein Tier, sondern wie etwas, das vergessen hatte, wie Leben funktioniert und es nun versuchte irgendwie nachzuahmen. Die Bewegungen seltsam flüssig, seltsam leise. Verstörend, aber irgendwie... auch schön. Aastha drückte sich rasch auf und entfernte sich von der Leiche, zu welcher die Elster hernieder ging. Die schattenartigen Klauen der Kreatur schienen ins Nichts zu greifen, schienen förmlich im Brustkorb des toten Mannes zu versinken bis sie sich wieder entfernten und etwas mit sich zu ziehen schienen. Es schien der Schwarzhaarigen in diesem Moment so, als würde die Luft noch kälter werden, aber vielleicht war das auch nur die Winterkälte die sich durch ihre blutigen Hände schnitt.
Die Elster widmede weder Rasheem, noch Aastha irgendeinen Blick, sie flatterte einfach mit ihrer Beute hinauf in die Luft und zerging im Rauch unter den fallenden Schneeflocken. Nachdenklich und mit einer gewissen Faszination hatte die junge Frau alles betrachtet, die Elster in ihrem inneren ruhig, zufrieden, zum ersten Mal seit sie ihren Körper besetzt hatte. Der alte Mann stand noch immer schweigend hinter hier, als hätte er einfach alles beobachtet, ohne sich, mit der einen Ausnahme, einzumischen.
»Was jetzt?«
Fragte sie mit schließlich mit etwas rauer Stimme, während ihr Blick sich auf den Edelsteinen legten, die noch immer in den Augenhöhlen saßen. Sie war sich noch immer nicht ganz sicher, was sie damit bezweckt hatte. Dier Antwort des Alten war schlicht, als hätten die Beiden nicht gerade einem Seelendiebstahl beigewohnt.
»Gehen wir nach Hause und wärmen uns auf.«