Es ist tröstlich, Leona im Arm zu halten. Scheinbar interessiert es seinen Traum – oder was auch immer das ist – nicht, dass es nicht die Wirklichkeit ist. Seine Augen brennen, als würde er sie tatsächlich nach zehn Jahren wiedersehen. Vorsichtig vergräbt er die Nase in ihrem straff geflochtenen Haar und nimmt den Duft von Büchern und Kräutern auf. Sie riecht genauso, wie er es in Erinnerung hat, und der Knoten in seiner Brust zieht sich zusammen.
Jeder Traum hat eine Bedeutung, also warum soll er mit diesem anders sein? Nur hat Alec keine Ahnung, warum er zusammen mit seiner kleinen Schwester an diesem Ort ist.
"Also warum sind wir hier?", wiederholt sie und spricht das aus, was er sich insgeheim fragt. Leona lehnt sich zurück, um ihm ins Gesicht zu sehen. Sie sieht
erst in seine Augen, bevor sie den Blick zu den Hörnern hebt.
"Ich wollte der verdammten Zelle entkommen, in der ich sitze. Freiwillig."
"Ja, du hast dir deine Gefängnisse schon immer bevorzugt selbst ausgesucht, Schildkröte."
Schon wieder dieser verfluchte Spitzname.
Sie mustert ihn mit den klugen Augen und dem durchdringlichen Blick, den er ebenfalls bestens beherrscht. Doch normalerweise taxiert er andere Leute damit, weswegen er sich unwohl darunter windet. Natürlich lässt sie nicht locker. Ihre Neugierde ist geschult durch jahrelange Lektüre, in der sie stundenlang ihre Stubsnase vergraben hat. Manchmal hat er sie dabei ertappt und als er einen Blick auf die Seiten werfen wollte, hat sie das Buch beschützend weggezogen, als stünde ein Geheimnis darin.
"Das ist keine Geschichte mit einem glücklichen Ende."
Sie presst unnachgiebig die Lippen zusammen, wie er es auch gelegentlich tut.
"Vielleicht kommt das noch?"
Beim Namenlosen, er betet, dass sie recht hat.
"Nicht jeder hat ein 'Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage' verdient."
Ihr Blick wird weich und sie streicht mit der Hand über seine Brust, verharrt auf Höhe seines Herzens.
"Ich kenne niemanden, der es mehr verdient hat, Bruderherz. Du versuchst immer, alle um dich herum zu schützen, aber–"
Er knurrt und unterbricht sie.
"Ja, ich versuch es. Aber wie oft gelingt es mir? Bei dir und unserer Mutter ist es mir nicht gelungen."
"Du bist ein Idiot, Alec."
Gut, das hört er diese Woche nicht zum ersten Mal.
Sie strafft die Schultern und stemmt die Hände in die Hüften. Verdammt, jetzt kommt's.
"Du hast uns immer beschützt. Mehr als das, du hast dich zwischen ihn und uns gestellt. Egal, wie viel du einstecken musstest – und ich erinnere mich daran, es war viel – du bist immer wieder aufgestanden. Weil du uns liebst. Weil es das Richtige war. Weil er ein Mistkerl war! Deswegen wirst du nie so sein wie er."
"Daran zweifle ich schwer."
Sie wirft die Hände in die Luft, gestikuliert wild.
"Und genau das unterscheidet dich von ihm! Unser Vater hat nie gezweifelt. Er hat darauf beharrt, dass es sein Recht ist, uns zu bestrafen." In ihren Augen steigen Tränen auf. Leona unterdrückt sie nicht, sondern lässt sie über ihre erröteten Wangen laufen. Ein Wind pfeift um sie, zerrt an ihrem Zopf.
"Erzähl mir deine Geschichte. Und lass mich selbst entscheiden, was ich davon halte."
Er gibt nach. Wie könnte er ihr den Wunsch ausschlagen? Nicht, wenn ihre Augen vor Tränen schwimmen. Deswegen erzählt ihr Alec
alles. Nun, nicht alles, aber zumindest den großen Haufen an Mist, der seit dem Kontakt mit dem Feenfeuer passiert ist. Er lässt nichts aus, stockt auch dann nicht, als sie sich abwendet und auf ihren Hocker sinkt. Die Federspitze tunkt in Tinte und das stetige Kratzen feuert seinen Wortfluss an.
Alec erzählt ihr von der Lloth-Statue, die die ganze Lawine ausgelöst hat. Er erzählt ihr von den Tagen im Unterreich, als das Feenfeuer ihm die Haut von den Knochen brennen wollte. Als er Nerxos erwähnt, der die Ausbreitung stoppte und gewissermaßen sein Leben gerettet hat, beißt er die Zähne zusammen. Doch er hält nicht inne, berichtet von Golga, der ihn und den Dämon vermischte wie eine Emulsion aus Öl und Wasser, getrennt und doch verbunden.
Sie hört ihm zu, urteilt nicht, fragt nicht nach. Leona lässt ihn sprechen, während ihr Blick fest auf die Tagebuchseite gerichtet ist, die sich immer weiter füllt. Es
hilft ihm, das alles auszusprechen. Die Last auf seinen Schultern wird leichter und sein Zorn verzieht sich genauso wie der Sturm, der vor kurzem noch geherrscht hat.
Als er endet und nach Atem schnappt, tippt sich Leona mit dem Ende der Feder gegen die Lippen.
"Diese Wahl, von der du sprichst ... Nun, es klingt so, als wäre bis zu dem Zeitpunkt alles so weit unter Kontrolle gewesen. Was war das für eine Wahl? Und rede dich nun nicht raus. Ich weiß wann du lügst. Du warst schon immer ein schlechter Lügner. Weißt du, dein linkes Augenlid zuckt etwas, wenn du lügst."
Er wirft ihr einen warnenden Blick zu, den sie mit einem glockenhellen Kichern abschmettert.
Verddammt, wie sehr er den Laut doch vermisst hat.
"Es ging um die Säule des Krieges. Dort, wo ich lebe, gibt es vier Säulen. Sie sind die direkten Vertreter des Oberhaupts, des Imperators des Reichs."
"Was?! Du und ... Politik? Bist du verrückt?"
Alec murrt, wendet den Blick ab und starrt aufs Meer, das mit einem beruhigenden Rauschen antwortet. Seine rechte Gesichtshälfte kribbelt, die lange dem Leuchtfeuer zugewandt war, das ihm jetzt den Rücken wärmt.
"Ich wollte ihr beweisen, dass mehr in mir steckt, als nur ein Handwerker."
Leona strafft sofort den Rücken und durchbohrt ihn mit einem gierigen Blick.
"Es geht hier um eine Fraaaaau? Du und eine Beziehung? Jetzt hast du meine volle Aufmerksamkeit! Erzähl mir alles."
Tief durchatmend schließt er die Augen, um sich davon abzuhalten, Leona über das Geländer zu werfen.
"Sie heißt Sorsha. Ich kenn sie seit ..." Er fährt sich nachdenklich übers stoppelige Kinn.
"... anderthalb Jahren. Ich hab' sie auf nem Friedhof kennengelernt. Ich weiß, sehr unromantisch. Sie ist die schönste Frau, die ich je getroffen hab. Verflucht klug, du würdest sie mögen. Wir hatten unsere Höhen und Tiefen, aber können nicht ohne den anderen."
Leona lässt die Worte nachwirken, dann fragt sie hauchzart.
"Liebst du sie?"
"Mehr als mein Leben."
Wind spielt mit seinen Haaren, streicht es ihm aus dem Gesicht, wie Sorsha es manchmal tut.
"Du bist ihretwegen hier."
Ihm gelingt noch ein Nicken, bevor eine Faust sein Herz zusammendrückt. Was wird Sorsha tun, wenn sie ihn so sieht? Fern jeder Kontrolle. Hoffnungslos? Sie wird ihn retten wollen. Aber er ist sich nicht sicher, ob diesmal eine einfache, schnelle Lösung hilft.
Der Horizont färbt sich Orange-Rot, als sich die Sonne darüber wagt. Erst spitzt sie nur hervor, bevor Alec unter der Intensität blinzeln muss. Sie bringt einen neuen Tag, gefolgt von Hoffnung, die sein Herz schneller schlagen lässt. Er hat sein Leben lang gekämpft, also wird er jetzt nicht damit aufhören. Alles, was ihm fehlt, ist die Bodenhaftung. Eine unerschütterliche Sicherheit, dass er stark genug ist. Er hat sich lange nicht mehr so verankert gefühlt wie in diesem Moment. An diesem Ort.
"Ich glaube, ich verstehe jetzt, warum ich hier bin."
Leona antwortet nicht.
Das Kratzen der Feder ist verstummt. Er wagt es nicht, sich nach ihr umzudrehen. Sein Instinkt sagt ihm, dass sie verschwunden ist, weil er seine Antwort gefunden hat. Ist er deswegen hier? Oder flieht er nur vor der Realität?
Der Wind ändert die Richtung und die nächste Böe bringt den Geruch von verbranntem Holz mit sich. Instinktiv dreht Alec sich um, sieht Leona dicht vor sich. Sofort beginnt sein Puls zu rasen.
Ihre Augen sind panisch geweitet und ihr Mund steht wie zu einem stummen Schrei offen. Kein Laut kommt aus ihrer Kehle.
Plötzlich zuckt sie zusammen, ihr Rücken streckt sich und zwei Hörner durchbohren ihre Brust auf Höhe der Schlüsselbeine, ragen aus ihr wie Fleischerhaken. Seine Schwester wird von den Füßen gehoben, Blut tränkt ihre Bluse.
Das Leuchtfeuer breitet sich aus, vermischt sich mit dem glühenden Morgenrot. Der Himmel glüht, als würde er brennen, passend zu dem Schmerz in Alecs Körper. Das ist nur ein Traum! Es ist nicht die Wirklichkeit! Trotzdem ist die Qual wahrhaftig, genauso wie die Wellen an Zorn, die durch ihn fluten.
Die überwältigenden Emotionen lähmen ihn, machen ihn völlig handlungsunfähig. Er kann nichts tun außer zuzusehen, wie das Leben aus ihr sickert, ihr Blick leer und ihr Gesicht leichenblass. Schließlich sackt sie zu Boden.
Obwohl alles um ihn herum lichterloh in Flammen steht, ist ihm eiskalt. Seine Haut spannt sich unter der Hitze des Leuchtfeuers, das den Turm und den Himmel erobert. Dennoch spürt er eine Gänsehaut auf den Armen. Etwas Kühles trifft sein Gesicht. Erst hält er es für Regen, bis er begreift, dass Blut von seinen Hörnern tropft.
Hat er das getan?
"Wie fühlt es sich an, ein Geschwisterteil zu verlieren? Spürst du meinen Schmerz?"
Die frostige Stimme geht ihm durch Mark und Bein. Sein Körper beginnt zu zittern, als ihn eine Trauer überkommt, die ihn in die Knie zwingen will.
"Jetzt weißt du, wie ich mich fühle! Du hast mir ihn genommen. Du hast mir meinen Bruder genommen. Wie kannst du es wagen? Und ich bin hier, um Rache zu nehmen."
Seinen Bruder? Was hat das zu bedeuten?
"Ich werde dir jeden nehmen, der dir wichtig ist. Nein, ich werde dich dazu bringen, es selbst zu tun. Ich werde dir das Ausmaß des Verlusts zeigen, bis du taub vor Schmerz bist und einsam. Erst dann stirbst du."
Er erwacht und reißt die Augen auf. Sorsha steht dicht vor ihm, die blauen Augen geweitet. Sein Herz donnert in seiner Brust, als wolle es ausbrechen. Alec ist immer noch in der Zelle, angekettet wie ein Verbrecher.
"Alec, kämpf dagegen an", haucht sie mit greifbarer Verzweiflung in der Stimme.
Als würden ihre Worte etwas in ihm lockern, bläht er den Bauch und nimmt einen tiefen Atemzug. Seine Lungen brennen wie Feuer, verraten, dass er eine lange Zeit die Luft angehalten hat.
"Was ist passiert?"
Große Augen schauen ihn an. Verflucht, sie ist so schön. Er kann ihre Sorge körperlich spüren, weil er die Schuld daran trägt.
"Du kannst dich nicht erinnern?"
Er schüttelt den Kopf.
"Nein."
"Ich glaube, der Dämon ist zurückgekehrt. Wir dachten, dass Golga-"
Alec zerrt an den Fesseln und hält ihren Blick, als hinge sein Leben davon ab.
"Nein. Es ist nich' derselbe. Es ist ein anderer."
Die Worte bringen eine Erkenntnis mit sich, die ihn würgen lässt. Er wurde erneut infiltriert. Ohne es zu merken. Mit übelkeiterregender Gewissheit weiß er eins sicher: Jetzt ist er richtig geliefert.